Wie John Caulker und Jusu Jarka nach vielen Hindernissen doch nach Europa gelangen und für die Einrichtung eines Entschädigungsfonds zugunsten der Bürgerkriegsopfer werben. Von Frauke Banse und Anne Jung
Ohne Umschweife kommt Jusu Jarka von der Amputees and War Wounded Association (AAWWA) aus Sierra Leone auf den Punkt: "Wir wollen, dass Sie die Regierung in Sierra Leone unter Druck setzen, damit endlich etwas für die Opfer des Krieges geschieht." Ihm gegenüber sitzen zwei Mitarbeiter der UN-Menschenrechtskommission und hören ihm interessiert und auch ein wenig erleichtert zu. Denn den heikelsten Moment des Gesprächs haben sie überstanden. Zögerlich hatten sie Jusu Jarka, dem während des Krieges beide Hände abgeschlagen wurden, zuvor die metallenen Greifer geschüttelt, die Jarka meisterlich als Ersatzhände zu nutzen versteht. Wir befinden uns in Genf, auf der zweiten Station einer Lobbyreise durch Europa. Jusu Jarka, der die Interessen der Bürgerkriegsopfer vertritt, und John Caulker, Koordinator der Truth- and Reconciliation Working-Group, hatten bei medico auf die Durchführung der Reise gedrängt. Für Jusu Jarka ist es die erste Reise nach Europa.
Bescheinigungsterror
Hätten wir geahnt, welche bürokratische Verhinderungsmaschine uns und unsere sierraleonischen Partner über Wochen beschäftigen würde, hätten wir vielleicht von dieser richtigen Idee Abstand genommen. So aber stürzen wir uns blauäugig in das Unterfangen, zwei sierraleonische Bürgerrechtsaktivisten in die Festung Europa einladen zu wollen. Mehrere Reisen von Caulker und Jarka zu den europäischen Botschaften in den Nachbarländern sind nötig, denn in Freetown gibt es keine Vertretungen, die ein Visum ausstellen können. Neben den üblichen Einladungsschreiben muss medico Bescheinigung über Bescheinigung bei den Behörden vorlegen, dass wir für alle eventuellen Kosten, auch die einer möglichen Zwangsrückführung, aufkommen würden. Sämtliche diplomatischen Kontakte unserer sierraleonischen Kollegen und unsere eigenen müssen genutzt werden, um das Unmögliche möglich zu machen. Zwei Schengen-Visa für Menschen, denen man aus europäischer Sicht offenbar nur eines unterstellt: im Paradies Europa bleiben zu wollen.
Nach viel Hin und Her kommt die Reise zustande und löst mehr aus, als zu erwarten war. Ziel ist, auf internationaler Ebene die Gründung eines Kriegsopferfonds einzufordern, wie es im Abschlussbericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) vom August 2005 als bedeutsamer Beitrag zur Versöhnung empfohlen wird. Neben Jusu Jarka und Hunderten weiterer Amputierter sind es vor allem viele Tausend Frauen, die auf eine – zumindest symbolische – Anerkennung des geschehenen Unrechts warten. Unser Bedenken, Jusu Jarka könnte nur die Interessen der Amputierten in Europa vertreten, löst sich bei den Gesprächen in Bonn, Genf und London in Luft auf. Bereits im Vorfeld hatte er sich mit Interessensvertreterinnen der Frauen beraten und trägt überall das Anliegen im Namen aller Opfergruppen vor. Jarka und Caulker bitten das deutsche Entwicklungshilfeministerium, die Genfer Menschenrechtskommission und die britischen Offiziellen ihr Anliegen gegenüber der Regierung in Freetown zu unterstützen. Sie soll den Rahmen für den Fonds zur Entschädigung der Kriegsopfer schaffen: Dazu gehört die Erfassung der Opfer und die Schaffung einer zuverlässigen Behörde, die sich neben der materiellen auch der kollektiven und symbolischen Entschädigung annimmt.
Tabuisierte sexuelle Gewalt
Der geplante Kriegsopferfonds sichert einen kontrollierten und - soweit dies möglich ist - gerechten Entschädigungsprozess. Wichtige Voraussetzung hierfür ist eine unabhängige Kontrollinstanz, um negative Effekte zu vermeiden. Denn es besteht immer die Gefahr, dass Entschädigungen auch als Schweigegeld für einzelne Betroffene eingesetzt werden. Im Vorfeld der Reise haben Caulker und Jarka mit dem Frauenverband War-Affected Girls and Adults vereinbart, dass Frauen eine Form der Entschädigung benötigen, die eine weitere Stigmatisierung vermeidet, da die Thematisierung sexualisierter Gewalt noch immer tabuisiert ist.
Viele in Sierra Leone, darunter auch die medico-Projektpartner, befürchten die Zuspitzung der sozialen Spannungen bis hin zum möglichen Wiederausbruch des Krieges, wenn die Regierung sich nicht um einen Ausgleich bemüht. "Bislang", erläutert Jusu Jarka, "gibt es eine Win-Win-Situation nur für die Täter, weil nur diese im Rahmen der Demobilisierungsprogramme unterstützt wurden." Im Abschlussbericht der TRC wird darauf hingewiesen, dass die extreme soziale Ungleichheit und damit einhergehende politische und soziale Marginalisierung breiter Bevölkerungsgruppen einer der maßgeblichen Kriegsgründe war. Weil es die Regierung bislang versäumt hat, Schritte zur Beseitigung dieser Not einzuleiten, ist die Lage der Opfer auch vier Jahre nach Kriegsende katastrophal - während des kurzen Europa-Aufenthaltes von Jusu Jarka sterben zwei seiner Mitstreiter an den Folgen von Hunger und Krankheit. Der Kampf um Entschädigung ist in vielen Fällen ein Kampf ums nackte Überleben.
Tatsächlich stehen die Chancen nicht schlecht, dass sich europäische Regierungen für die Errichtung des Kriegsopferfonds engagieren – waren sie doch die wichtigsten Geldgeber für die Wahrheits- und Versöhnungskommission. Die Bundesregierung hat an Präsident Kabbah appelliert, endlich die Empfehlung der TRC umzusetzen. Rückhalt erfahren die medico-Partner auch von den Gesprächspartnern der UN in Genf; die Vertreter der Menschenrechtskommission versprechen, sich für das Anliegen einzusetzen und den beiden weitere Kontakte vor Ort zu vermitteln.
Eine Begegnung jenseits der Politik und doch eine politische findet in Köln statt. Wir treffen den deutschen Reggaesänger Patrice, der unter Reggae-Fans hochgeschätzt ist. Er fühlt sich dem westafrikanischen Land sehr verbunden, weil ein Teil seiner Familie dort lebt, und möchte auf seine Weise den Friedensprozess unterstützen: seine große Fangemeinde hier informieren, aber sich auch in Sierra Leone für die Opferrechte stark machen. Vielleicht mit einem großen Konzert. So sind auf dieser Reise neue Kontakte zustande gekommen, die hoffentlich noch für Wirbel Sorgen werden. Wir halten Sie auf dem laufenden.