Erfolgreich auch ohne Hand und Fuß. Der mutige Kampf der Amputees and War Wounded Association um Anerkennung und Entschädigung. Von Frauke Banse.
Freetown, am 14. September. Der Minister zuckt merklich zurück. Kaum hatte er seine Ansprache beendet, ergreift der fünfzigjährige Juso Jaka selbstbewusst das Wort: „Danke für die Rede, Herr Minister, aber das wurde schon tausendmal gesagt.” Der Justizminister F.M. Carew war zur zweiten überregionalen Versammlung der Amputees and War Wounded Association gekommen. Juso Jaka ist ihr Vorsitzender, er trägt statt seiner Hände zwei metallene Zangen. Im Bürgerkrieg beschützte er seine Tochter vor den Milizen der „Revolutionary United Front“. Das Mädchen konnte der Versklavung entkommen. Zur Strafe schlugen die Milizionäre dem Vater mit einer Machete beide Hände ab.
Der Minister kam nicht alleine. Mehrere Journalisten begleiteten ihn. Nun sitzen sie den ca. 35 gewählten Vertreterinnen und Vertretern der Amputees Association aus allen Regionen des Landes gegenüber. Der Minister versucht die Runde zu beschwichtigen. Er verspricht kostenlose medizinische Versorgung und Transport, für die Kinder der Kriegsopfer werde der Schulbesuch garantiert. Doch die Versammelten sind misstrauisch und aufgebracht. Zwischenrufe unterbrechen die ministeriellen Versprechungen. „Ihr Angebot ist gut und schön, aber in der Provinz gibt es gar keine ärztliche Versorgung!“ Und: „Solange das Angebot nicht umgesetzt ist, schicken wir unsere Arztrechnungen direkt an den Minister.” Gelächter. Die Anwesenden sind verärgert. Für viele kommt die Hilfe ohnehin fast schon zu spät. Mamusu Turonka aus dem Freetowner Vorort Grafton berichtet, dass viele der vergewaltigten Frauen noch immer an schweren inneren Verletzungen leiden: „Sie erbrechen Blut. Meine Nachbarin hat einfach kein Geld fürs Krankenhaus. Sie ist ein lebendes Beispiel für die verantwortungslose Regierung!“
Für die Opfer des Bürgerkriegs ist die Association ein wichtiges Forum der Artikulation und Vernetzung – und sie werden gehört. Radio France International, BBC und die UN-Agentur IRIN – sie alle, und natürlich die Zeitungen in Sierra Leone, berichten über das Treffen. „Demonstrieren wollen wir aber erst mal nicht“, sagt Edward Conteh, Amputee aus dem Vorort Waterloo, „das ist nur das letzte Mittel, Demonstrationen sind immer mit Toten und Verwundeten verbunden. Deswegen sind sie nicht gut.“ Die abgeschlagenen Hände und Füße der Amputees sind in Sierra Leone zum Sinnbild eines elfjährigen grausamen Bürgerkrieges geworden. Die verstümmelten Überlebenden verlangen nicht nur von ihrer Regierung eine Entschädigung. Sie richten ihre Forderungen auch an eine global operierende Edelstein-Industrie. Denn der lukrative Diamantenhandel lieferte allen Kriegsbeteiligten eine finanzielle Basis.
Versöhnung im Minutentakt
Im August dieses Jahres ist nach zweijähriger Bearbeitungszeit endlich der Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) erschienen. Die Kommission war massiv unterfinanziert. So initiierte sie eher einen Wahrheits- als einen Versöhnungsprozess – das Geld reichte lediglich für vier Monate öffentliche Anhörungen und Versöhnungszeremonien. Bei mindestens 50.000 Toten waren das nicht ganz dreieinhalb Minuten pro Opfer, vorausgesetzt die Kommission hätte ohne Unterlass getagt. Dennoch, der TRC-Bericht bietet den Kriegsopfern eine erste Grundlage, ihr Recht auf Entschädigung einzufordern. Nur einige von ihnen erhielten bisher von internationalen NROs eine wohltätige Unterstützung. Jetzt streiten sie für einen Kriegsopferfonds, der allen Opfern des Krieges zugute kommen soll. Entschädigungen erleichtern das Leben in dem bitterarmen Land nicht nur finanziell – vor allem aber stehen sie für die öffentliche Anerkennung des Leides, das den physisch und psychisch Verwundeten angetan wurde.
„Für den gesamten Friedensprozess ist das sehr wichtig“, erläutert Edward Conteh. Dem gelernten Mechaniker wurde bei einem Überfall der Rebellen auf die Hauptstadt Freetown der Unterarm abgeschlagen – einfach so, ohne Grund. „Für mich gibt es in Sierra Leone keinen Frieden, weil die Töchter und Söhne der Opfer leiden. Ihre Gemüter sind erhitzt – sie warten auf den Moment, sich zu rächen. Ich will dem Präsidenten sagen, dass hier gerade wieder Rebellen heranwachsen.“ Heute plant Edward durchs Fotografieren ein Auskommen zu finden. Die Jugend, so erzählt er, habe heute genausowenig Zukunft wie vor dem Krieg. Damals waren es Jugendliche, die massenhaft rekrutiert wurden. Viele hatten nichts mehr zu verlieren, erst recht dann nicht, wenn sie zuvor von Rebellenführern gezwungen wurden, ihre eigenen Eltern zu ermorden.
Hatte der Krieg zu Anfang durchaus politische Motive, – die korrupte Regierung sollte gestürzt werden –, so konnte er nur deshalb elf Jahre andauern, weil er für die Rebellen zur Überlebensstrategie wurde. Plünderungen, Überfälle, Zwangsarbeit, Brandstiftung und Diamantenhandel wurden für eine Dekade zur Finanzierungsquelle.
Seit 2001 ist das Land offiziell befriedet – auch dank eines massiven UN-Einsatzes. 17.500 Soldaten wurden in einem Land von der Größe Hessens stationiert. Vor allem Großbritannien als ehemalige Kolonialmacht sieht heute in Sierra Leone ein Vorzeigeprojekt des afrikanischen Wiederaufbaus. Lange stand Sierra Leone an letzter Stelle auf der Weltrangliste der 175 ärmsten Länder. Das Land konnte sich aber unlängst auf Platz 174 verbessern und auch die durchschnittliche Lebenserwartung kletterte auf 40 Jahre. Mittlerweile sind die in Freetown ansässigen UN-Dependancen und internationalen Hilfswerke für die kleine Schicht der besser ausgebildeten Sierra Leoner zum begehrtesten Arbeitsplatz geworden. Die Masse der Bevölkerung verbleibt jedoch in einer von Lebensunsicherheit und Armut geprägten Gesellschaft, in der jeder kleinste Ladenbesitzer seine Lizenz nur mit Bestechung erhält und nicht erschienene Zeitungsartikel lukrativer als gedruckte sind, da sich Journalisten, etwa bei Korruptionsfällen, ihre Recherche von den Verdächtigen abkaufen lassen. Ein nachvollziehbarer Vorgang bei einem Journalistengehalt von 50 US-Dollar im Monat.
Kleine Siege
Natürlich droht angesichts dieser Aussichten die Schneiderausbildung für Jugendliche wie Maik zur Farce zu werden. Ihm war mit 13 Jahren von Rebellen das Bein abgeschlagen worden. Nach dem Krieg ging er bei einer NRO in eine Schneiderlehre. Ob ihm die Arbeit gefällt? „Nein, eigentlich gar nicht, aber es ist immerhin eine Ausbildung. Nur kauft niemand meine Kleider.“ Als mittelmäßiger Schneider hat man auf dem Kontinent der allgegenwärtigen europäischen Altkleidersäcke nur wenige Erfolgsaussichten – Alternativen gibt es allerdings auch keine, vor allem angesichts des fehlenden Beins. Dennoch gibt es Spielräume, die die Amputees and War Wounded Association mit kleinen Siegen auszunutzen weiß. Jüngst unterbreitete die Regierung ein erstes Entschädigungsangebot. Auch wenn es von der Association als unzureichend zurückgewiesen wurde, ist damit der Stein ins Rollen gekommen; Verhandlungen werden geführt – auch um die Einrichtung eines Kriegsopferfonds, in den dann auch die internationale Diamantenindustrie einzahlen soll.