Sri Lanka: Die Katastrophe war schon vorher da

19.08.2005   Lesezeit: 7 min

Reisebericht von Thomas Seibert. In Netzwerken unterwegs. Vor dem Tsunami war medico in Sri Lanka nicht unmittelbar "vor Ort". Bei einer Reise nach der großen Flut trafen wir dennoch Partner, die wir vorher schon kannten

I. Nach Norden, ins Bürgerkriegsland

Wir treffen Singham in Vavuniya im Norden Sri Lankas. "Wir können deutsch reden, kein Problem. Ich komme aus Kreuzberg und kenne da alle, von den Grünen bis zu den Autonomen." Das wiederum wussten wir von Berliner Freunden. Fünfzehn Jahre hat Singham dort gelebt. Geflohen vor dem Bürgerkrieg gegen die tamilischen Rebellen der Liberation Tigers of Tamil Elam. Nach Vavuniya kehrte er zurück, als er wegen seiner Hautfarbe auch in Berlin seines Lebens nicht mehr sicher war: "Vor die Wahl gestellt, hier oder dort totgeschlagen zu werden, entschied ich mich für Vavuniya." Mit einem Freund gründete er die Social, Economical and Environmental Developers (SEED), eine Nichtregierungsorganisation, die kriegsvertriebene Menschen bei der Rückkehr in ein ziviles Leben unterstützt. Jetzt wollen sie auch mit Tsunami-Überlebenden Wiederansiedlungsprojekte organisieren.

Über Berlin ergab sich dabei nicht nur der Kontakt zu Singham. Denn im Dezember 2004 hatten wir Partner des People's Health Movement aus Indien, Südafrika und Nicaragua zum medico-Workshop auf der Berliner Konferenz "Armut und Gesundheit" geladen. Nach der Flut reisen wir zum Gegenbesuch nach Indien und Sri Lanka.

Versuchslabor Civil Society

Mit Singham fahren wir nach Mullaittivu, ein Ort, der von der Wucht der Fluten einfach hinweggespült wurde. Während wir durch das verwüstete Gelände streifen, erzählt er von den "Wiederaufbauplänen" der Regierung. Die Strände Sri Lankas, die bisher öffentliches Gut waren und die deshalb von Fischerfamilien besiedelt werden konnten, sollen jetzt privates Eigentum werden, zum Nutzen der Tourismusindustrie. Außerdem sollen auf der Insel, die so groß wie Bayern ist, acht moderne Fischereihäfen angelegt werden, geeignet für die Trawler der internationalen Fangflotten. Die Fischerfamilien sollen künftig weiter im Landesinneren leben, aus Sicherheitsgründen, heißt es. Ob dort Land überhaupt zur Verfügung steht, weiß niemand. Viele Menschen werden deshalb lange noch in Lagern leben müssen. "Das hat in Sri Lanka Tradition", weiß Singham, "hier leben Unzählige seit Jahren schon in Lagern. Das werden jetzt mehr werden, mehr Leute, mehr Lager."

Durch Vavuniya zieht sich die Grenze zwischen dem von der Regierung und dem von den Tamil Tigers kontrollierten Gebiet. Singham und seine vierzig meist sehr jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten auf beiden Seiten der Grenze, und das Schlüsselwort ihrer Arbeit heißt participation, Beteiligung. "We want that the people enjoy the rights they have", sagt Rangini von SEED und meint das im doppelten Wortsinn: Seine Rechte zu nutzen und sich ihrer zu erfreuen. In einer Schule für behinderte Kinder mit sieben Klassen hieß Beteiligung, die Eltern von dem Projekt erst zu überzeugen: "Kinder mit besonderen Bedürfnissen", so der bei SEED gebräuchliche Ausdruck, werden im Haus verborgen. Jetzt kochen und putzen die Eltern in der Schule mit. Um Beteiligung geht es auch in den Siedlungsprojekten, in denen bis zu 270 Familien leben. Viele Familien werden von Frauen geführt, weil die Männer gestorben oder verschwunden sind, viele leiden an bleibender physischer und psychischer Verletzung, alle sind arm. In der Siedlung müssen sie sich zu einer Gemeinde erst zusammenfinden.

Was dabei zuerst gemacht, was wann gebaut, was aufgeschoben werden muss, entscheidet sich in einem langwierigen Prozess, der mit Wunschliste beginnt, die vom Wege-, Haus-, Brunnen- und Toilettenbau bis zu Schule, Poststelle und Internetcafé reicht. Einkommensmöglichkeiten bieten kleine Landwirtschaft, etwas Kleinviehzucht. Ein Sparverein ermöglicht Anschaffungen, die sich die Leute einzeln nie leisten könnten. Am Stadtrand liegt die "Organic Farm", die SEED als Versuchslaboratorium für eine ökologisch und sozial nachhaltige Land- und Viehwirtschaft betreibt. Das alles ist ohne Krisen nicht einmal zu denken, die sich immer wieder in tiefster Verzweiflung, in Alkoholismus, sozialer und sexueller Gewalt artikulieren. In jeder Siedlung gibt es ein Büro, das auch nachts besetzt ist.

SEED setzt darauf, dass zwischen den Fronten nach und nach eine autonome Zivilgesellschaft entsteht und beteiligt sich an ersten Versuchen ihrer Koordination wie dem National Forum of People's Organisations. "Das ist unsere Möglichkeit, unsere Chance jetzt", sagt Singham, "nach dem Krieg, nach dem Tsunami."

II. Südwärts, nach Koralawella

Dr. Balasubramaniam vom People's Health Movement verdanken wir den Kontakt zum Movement for National Land and Agricultural Reform (MONLAR), einem Zusammenschluss von rund hundert Kleinbauern- und Fischerorganisationen. Mit dessen Leiter Sarath Fernando treffen wir uns in Koralawella, zwölf Kilometer südlich von Colombo. Hier hat MONLAR nach dem Seebeben Nothilfe geleistet. Wir fahren über einen vierspurigen Highway durch die endlosen Siedlungen, biegen irgendwann rechts ab, halten kurz darauf an Bahngleisen, die parallel zum Highway verlaufen. Die 6000 Menschen von Koralawella leben Hütte an Hütte zwischen Strand, Bahn und Schnellstraße. Durch den Tsunami sind hier 89 Menschen gestorben, ein Bruchteil der Opfer, die pro Jahr durch Züge und Autos ums Leben kommen. Wie zur Bekräftigung rattert alle zehn Minuten ein Zug vorbei, unterbricht in ohrenbetäubendem Lärm jedes Gespräch. Seit Jahren fordern die Leute, dass Gleise und Straße umzäunt und geregelte Übergänge geschaffen werden, doch die Stadtverwaltung reagiert nicht. "Wir müssen hier leben, müssen den Highway überqueren, unsere Kinder spielen hier", übersetzt Sarath. Die Leute werden weiter für Zäune und Übergänge kämpfen. Wir werden gefragt, ob wir noch an den Strand wollen, um Schäden der Fluten zu sehen. Leise frage ich Sarath, was es da noch zu sehen gäbe. Er zuckt kaum merklich mit den Achseln, sagt: "The same old sea".

III. Monitoring der Hilfe

Im MONLAR-Büro in Colombo drängeln sich in der Abendschwüle fünfzehn Leute auf der kleinen Veranda zum Garten, Aktivisten von Basisorganisationen, ein Universitätsprofessor, Journalisten, der pensionierte Vorsitzende einer Gewerkschaft, der jetzt unentgeltlich für MONLAR arbeitet. Wir diskutieren eine Idee, die im People's Health Movement bereits in E-Mails kursiert: ein Monitoring-Netzwerk zu schaffen, in allen vom Tsunami betroffenen Ländern Informationen zu den Folgen der Katastrophe zu sammeln, um ihren Überlebenden eine Stimme zu verleihen, auf englisch, singhalesisch und tamilisch. Schon am nächsten Tag wird die Arbeit beginnen, mit einem "Civil Society Statement" gegen die geplante Privatisierung von Küste und Küstengewässer, gegen die Umsiedlung der Fischer und die Anlage großer Fischereihäfen. Aber auch gegen alte Pläne wie den Bau einer Küstenautobahn oder die Privatisierung der Trinkwasserversorgung. All das will Präsidentin Bandaranaike jetzt durchsetzen und hat gerade erklärt, in den nächsten fünf Jahren keine freien Wahlen zulassen zu wollen. Auch die Leute hier auf der Veranda wollen nicht, dass alles wieder so wird, wie es vorher war. Doch über ihre Zukunft wollen und werden sie ihr Wort mitreden, so oder so. "We want that the people enjoy the rights they have", hatte Rangini gesagt.

Postscriptum Frankfurt, Anfang März

Was Befürchtung war, wird Wirklichkeit. Singham von SEED hatte uns gesagt, dass die Zahl der Lager nach dem Tsunami steigen würde – nicht vorübergehend, sondern auf Dauer. Tatsächlich sind die Pläne von SEED für Wiederansiedlungsprojekte in Mullaittivu und Batticaloa, die die Menschen aus den Lagern herausgebracht hätten, ins Stocken geraten. Drei Mal stellten Regierungsvertreter in Batticaloa Land in Aussicht und zogen ihre Zusage zurück. Die Küste soll nicht mehr bebaut werden. Im Landesinnern aber gibt es kaum freies und noch weniger nutzbares Gelände. Regierung und Rebellen machen sich die Kontrolle streitig.

Der "Post-Tsunami-Monitor" von MONLAR funktioniert. Rechercheteams fahren übers Land, im Büro treffen Meldungen aus allen Teilen des Landes ein und werden von dort weitergeleitet, auch nach Frankfurt, zu medico. Auch hier stehen "displaced persons" im Mittelpunkt, die mehreren hundert Familien etwa, die für die geplante Autobahn Colombo - Matara von ihrem Land vertrieben wurden. Dazu neue Erklärungen der Zivilgesellschaft: zur fortdauernden Anwesenheit US-amerikanischer Truppen im Land, gegen die Asian Development Bank, die auf die Privatisierung der Wasserversorgung drängt, gegen Pläne, die jetzt schon hohen Preise für Milchpulver weiter zu erhöhen.

MONLAR möchte kein Geld von medico, sondern politische Kooperation. Wir erfragen die Milchpulverpreise deutscher Exporteure, veröffentlichen Auszüge aus dem laufenden Monitoring auf unserer Webseite. Wir bringen MONLAR mit unseren indischen Partnern in Kontakt. SEED braucht Geld für die Wiederansiedlungsprojekte, das wir sofort überweisen, sobald das Land freigegeben wird. Eine Kollegin reist demnächst auf die Insel, um sich vor Ort kundig zu machen, was zu tun bleibt. Und vor allem, was unterbleiben sollte.


Jetzt spenden!