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Virginie Lefèvre von medico-Partner Amel Association aus dem Libanon im Gespräch mit medico. Über die syrischen Geflüchteten im Libanon, das Elend und die Perspektiven des Krieges und die Nominierung von Amel für den Friedensnobelpreis.
Katja Maurer: Virginie, wie muss man sich denn die Situation im Libanon vorstellen, in einem Land, das fast zur Hälfte aus Flüchtlingen besteht?
Virginie Lefèvre: Ich glaube, man kann sich das überhaupt nicht vorstellen, denn 1,5 Millionen syrische Geflüchtete in einem Land mit 4 Millionen Einwohnern findet man nicht in anderen Ländern. Hinzu kommen 200.000 bis 300.000 geflüchtete Palästinenser, die bereits im Libanon waren und 50.000 geflüchtete Palästinenser aus Syrien. Diese Größenordnung kann man sich nicht vorstellen. Auch weil syrische Geflüchtete im Libanon mehr oder weniger mit der lokalen Bevölkerung zusammenleben.
Wir haben keine großen Lager wie in Jordanien oder der Türkei. Die Menschen hier haben von Beginn an die syrischen Geflüchteten willkommen geheißen, weil sie in ihnen Brüder und Schwestern gesehen haben. Es ist die gleiche Region, zwar nicht ein Land, aber sie haben eine gemeinsame, geteilte Geschichte. Ich glaube also, um die Situation zu verstehen und sie sich vorstellen zu können, muss man mit den Geflüchteten sprechen und ihre prekären Lebensbedingungen kennenlernen. Kein Zugang zu Bildung, sehr schlechter Zugang zu Gesundheitsversorgung und Wohnraum. Und dann merkt man, dass die Situation hochdramatisch ist und dieses Land jederzeit kollabieren kann. Wir leisten nur das absolute Minimum, einen Tropfen auf den heißen Stein, um den Kollaps zu vermeiden, aber wir wissen nicht, was morgen ist.
Ihr bewegt euch schon viele Jahre auf dieser schmalen Linie zwischen Krieg und Frieden. Was ist die Aufgabe von Amel?
Amel ist eine libanesische NGO, gegründet 1979. Wir sind nicht-konfessionell gebunden und damit ziemlich einzigartig im Libanon, einem hochpolitisierten und gespaltenen Land. Wir arbeiten mit 24 Zentren und 6 mobilen Gesundheitseinrichtungen in ganz Libanon, aber vor allem in Beirut und in der Bekaa-Ebene, nahe der syrischen Grenze. Und im Südlibanon ebenfalls.
Wir arbeiten in mehreren Bereichen, unser Ansatz ist im Grunde ein umfassendes Angebot an Aktivitäten und Leistungen stellen zu können, die die Würde der Menschen sicherstellen sollen, ungeachtet ihrer Herkunft. Unter anderem also Gesundheitsversorgung, und hier arbeiten wir als Partner von medico international. Darüber hinaus geht es auch um Bildung, den Schutz der Kinder, Grundlagen des Lebens. All das im Bereich der Nothilfe. Wir führen auch Entwicklungsprogramme durch und unterstützen ländliche Kooperativen, migrantische Hausarbeiterinnen, es gibt eine Sommerschule zu internationalem Völkerrecht. Aber die gesamte Bevölkerung spürt die Auswirkungen der Syrien-Krise, also kümmern wir uns um ihre grundlegenden Bedürfnisse. Und darum dass sie zu einem gewissen Grad ermächtigt werden, selbstständiger zu leben.
medico war eine der ersten NGOs, die Amel kontaktiert haben und fragten „Wir sehen, was passiert, wir erhalten die Nachrichten, was können tun, um euch zu unterstützen?“ Von Beginn an haben wir in den betroffenen Gebieten, in Arsal und in der Bekaa-Ebene gearbeitet, um schnell auf die Nöte der Menschen reagieren zu können.
Du bist die ganze Zeit bei diesen Programmen dabei. Was war das einschneidendste Erlebnis, das du hattest?
Mein erste Antwort wäre, dass einfach jeder Tag furchtbar ist, denn es ist kein Ende in Sicht. Es ist furchtbar, wenn eine Frau nicht die Mittel hat, ein Krankenhaus zu bezahlen, um dort gebären zu können. Es ist furchtbar, ein Kind auf der Straße betteln zu sehen, weil es keinen Zugang zu Bildung hat. Für mich war besonders schwer die Situation in Arsal, wo wir auch mit medico arbeiten. Dort gibt es nach wie vor mehr syrische Geflüchtete als Libanesen in der kleinen Stadt, und keinen Zugang zu irgendetwas. Es gibt keine Arbeitsplätze, keine Sicherheit, kaum Zugang zu Bildung oder Gesundheitsversorgung. Amel ist die einzige NGO, die auch in besonders gewalttätigen Zeiten dort geblieben ist.
Was könnte denn die deutsche Bevölkerung vom Libanon lernen?
Die Menschen in Europa und der ganzen Welt sollten von der Großzügigkeit der libanesischen Bevölkerung inspiriert sein. Für mich ist das ganz klar ein Modell und das sollten wir betonen. Sie sollten sich auch von den syrischen Geflüchteten inspirieren lassen, die sich trotz ihrer furchtbaren Erfahrungen in ein anderes Land integrieren. Man fragt sich, „wow, wie schaffst du das, hier ein neues Leben aufzunehmen? Natürlich nicht zu einem normalen Leben zurückkehren, weil du nicht in deinem Land bist, aber zu überleben.“ Was die deutsche Bevölkerung außerdem vom Libanon lernen könnte ist ein Bekenntnis, ein Bekenntnis zur Menschlichkeit, zu sagen, „es kümmert mich nicht, woher du kommst, ich muss dich aufnehmen.“
Was wären denn politische Lösungsansätze für den syrischen Konflikt aus der Sicht von Amel?
Also zunächst mal, man kann das gar nicht oft genug betonen: Diese Krise wird ohne eine politische Lösung nicht enden. Das mag offensichtlich klingen, aber wenn so viele Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, wir humanitäre Hilfe unterstützen und auf der anderen Seite mit Waffen handeln, macht das keinen Sinn. Das heißt: Ja zu humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit, aber es braucht zunächst und sofort eine politische Lösung. Wie kann eine politische Lösung aussehen? Es kann nur Demokratie sein. Ich will nicht ins Detail gehen, aber für mich macht nur das Sinn.
Die politische Lösung muss von den Menschen in Syrien ausgehen. Wir sehen sie jeden Tag und sie wollen zurück in ihr Land, sie wollen es wieder aufbauen. Wenn Du mit der Jugend sprichst, dann wollen sie nicht als Geflüchtete bleiben. Sie wollen nicht auf humanitäre Hilfe angewiesen sein, sondern zurück nach Syrien gehen und es wieder aufbauen. Sie wollen ihre eigene Zukunft gestalten. Die politische Lösung liegt also bei den Menschen aus Syrien und bei der internationalen Gemeinschaft. Hier muss die Priorität liegen, denn wir wissen, wenn die internationale Gemeinschaft diesen Krieg beenden will, wird er enden.
Was erwartet eigentlich Amel von Organisationen wie medico?
Unsere Zusammenarbeit mit medico ist schon jetzt hochinteressant. Eine faire Partnerschaft zwischen einer deutschen und einer libanesischen NGO sorgt dafür, dass monatlich Tausende der Wehrlosesten in der Bevölkerung Zugang zu Gesundheitsversorgung erhalten. Und das schon seit mehr als drei Jahren. Das ist wunderbar. Was wir von medico erwarten ist Hilfe, um weitermachen zu können, die Aufmerksamkeit für Syrien und die angrenzenden Länder wie Libanon zu erhalten und zu zeigen, wie wichtig eine politische Lösung der Krise ist. Es ist außerdem entscheidend, dass die europäischen Staaten ihre Grenzen für Geflüchtete aus Syrien öffnen. Und es braucht internationale Solidarität, um die humanitäre Arbeit im Libanon finanzieren zu können. Denn wir brauchen diese Unterstützung, um das Land, um all die Menschen am Leben zu halten.
Amel ist vorgeschlagen für den Friedensnobelpreis. medico hat ihn auch einmal bekommen. Bringen jetzt die zivilgesellschaftlichen Bewegungen den Frieden?
Amel wurde von seiner Exzellenz Georges Corm, dem ehemaligen Finanzminister Libanons, für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Das ist großartig, weil es unsere unabhängige Arbeit für die Verletzlichsten in unserer Gesellschaft anerkennt. Über diese Anerkennung sind wir froh, aber das ist natürlich keine Lösung. Der Preis kann helfen, Aufmerksamkeit auf diese Krise zu lenken. Sie darf nicht zu einer vergessenen Krise werden. Der Preis wäre eine Anerkennung für alle unabhängigen NGOS wie Amel, wie medico, die jenseits politischer Beziehungen mit ihrer Arbeit einen Unterschied machen. Dafür wäre es eine Anerkennung.
Virginie, danke für das interessante Gespräch und wir sehen uns im Libanon, hoffentlich.
Thank you.
medico international arbeitet mit Amel mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes zusammen.
seitenspiegel. Gespräche mit medico-Partner_innen aus dem globalen Süden, Einwürfe in die Debatte, Reflexionen über Hilfe und politische Perspektiven.
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