Issam Younis und Mahmoud Aburahma traf ich zum ersten Mal 2014 in Gaza-Stadt. Die beiden führenden Köpfe der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Al Mezan Center for Human Rights hinterließen bei mir einen bleibenden Eindruck. Das lag nicht nur an den Umständen. Damals besuchte ich den Gaza-Streifen nach Ende der wochenlangen Bombardierungen durch die israelische Armee. Die zerstörten Viertel in Gaza-Stadt riefen die Bilder wach, die meine Generation tief im Unterbewussten aus der erzählten Perspektive der Eltern oder Großeltern gespeichert hat. Bilder, die das Menschheitsverbrechen Auschwitz oft überlagern, weil dieses die Vorstellungskraft sprengt. Die beiden Menschenrechtler pflegten in dieser von Wahrnehmungen und Erinnerungen überlagerten Situation eine warme Freundlichkeit im Umgang miteinander und mit den Besucherinnen, die fast unangemessen schien. Es war nicht nur Routine im Ertragen sich wiederholender Angriffe. Mir schien es auch ein Ringen um menschliche Würde, die unter allen Umständen gewahrt werden muss.
Nun sitzen sie vier Jahre später im medico-Büro. Mahmoud konnte wegen undurchsichtiger Drohungen gegen seine Person, die von schlimmen Verleumdungen bis Todeswarnungen reichten, von einer Dienstreise nicht nach Gaza zurückkehren. Für Mahmoud, dessen Eltern nach Rafah vertrieben wurden, wovon er unweigerlich erzählt, wenn man länger mit ihm zusammensitzt, eine weitere Vertreibungserfahrung trotz des bitteren Lebens in Gaza. Wer hinter der Kampagne gegen ihn steckt, ist unklar. Weder bei den israelischen Behörden noch der palästinensischen Hamas ist der strikt menschenrechtliche Ansatz von Al Mezan und Mahmoud wohl gelitten. Auch Issam hat eine schwere Erfahrung hinter sich, eine lebensgefährliche Erkrankung. Aber beide gehen weiterhin respektvoll miteinander um, sie analysieren klarsichtig und das alles in einer Atmosphäre der warmherzigen Freundlichkeit. Wir reden auf Englisch. Sie könnten ein solches Gespräch aber auch im fließenden Hebräisch führen.
Wie sieht die Lage in Gaza heute aus?
Issam Younis: Die „Märsche der Rückkehr“, die seit März 2018 bis heute immer noch wöchentlich – wenn auch mit erheblich weniger Teilnehmern - stattfinden, gäbe es nicht ohne die beispiellose zehnjährige Blockade des Gaza-Streifens, die alle Lebensbereiche der Menschen beeinflusst. Die humanitäre Krise hat sich erheblich verschärft. Die Zahlen sind schockierend. Die Hälfte der Menschen ist arbeitslos. 85 Prozent der Bevölkerung hängt von humanitärer Hilfe ab. Die Situation kann kaum schwieriger sein. Die Märsche waren anfangs sehr heterogen zusammengesetzt. 110 Menschen wurden in den fünf Gebieten, in denen diese Märsche stattfanden, erschossen und ca. 4.000 Menschen durch scharfe Munition verwundet. Es gab für das Leben der israelischen Soldaten zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr. Trotzdem hat die israelische Armee Scharfschützen und tödliche Munition eingesetzt.
Ihr habt versucht dagegen juristisch vorzugehen, wie?
Issam Younis: Die israelische Armee verweigerte zunächst denen, die verletzt wurden, die Ausreise aus Gaza. Ihnen konnte aber vor Ort häufig nicht geholfen werden, weil es Kranken häuser mit entsprechenden medizinischen Möglichkeiten nur in Ost-Jerusalem und Ramallah gibt. Normalerweise gelten sogenannte humanitäre Kriterien, die die Ausreise von Patienten aus dem Gaza möglich machen. Den Verletzten wurde das verweigert. Gemeinsam mit der israelischen Menschenrechtsorganisation Adalah haben wir deshalb eine Klage beim israelischen Obersten Gerichtshof eingereicht. Es handelte sich um zwei Protestierende, bei denen die Gefahr bestand, dass sie beide Beine verlieren würden, weil die entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten in Gaza fehlen. Nach langem hin und her erlaubte das Gericht die Ausreise von einem, so hat er nur ein Bein verlo ren. Der andere durfte Gaza nicht verlassen und ihm wurden beide Beine amputiert. Außerdem haben israelische Menschenrechtsorganisationen, mit denen wir regelmäßig zusammenarbeiten, vor Gericht beantragt, dass keine scharfe Munition gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten eingesetzt werden darf. Auch diesen Antrag lehnte das Oberste Gericht ab.
Mit welcher Begründung?
Issam Younis: Wir haben beweisen wollen, dass es sich bei den Demonstrationen nicht um Kampfhandlungen handelt, sondern um Proteste, bei denen die israelische Regierung nur bei Gefahr für Leib und Leben der Soldaten das Recht auf polizeiliche Maßnahmen bis hin zum Schusswaffengebrauch hat. Die israelische Armee hat eine Grenzgeographie in Gaza mit den Pufferzonen, den Sanddünen, den mehreren Kilometern entfernten ersten israelischen Ansiedlungen geschaffen, die es unserer Meinung nach sehr schwierig macht zu beweisen, dass junge Leute, die Steine werfend auf die Grenze zugehen, eine Lebensgefahr für die israelische Seite bedeuten. Die israelische Regierung hat das hingegen als eine Situation der Kampfhandlung dargestellt und sich auf einen Unterparagrafen des internationalen humanitären Rechts berufen, wonach die Demonstrationen deshalb Teil einer Kampfhandlung im Rahmen eines anhaltenden kriegerischen Konfliktes seien, weil sie in Zukunft in lebensbedrohlichen Auseinandersetzungen enden könnten. Wir haben mehrere Videobeweise vorgelegt von Protestierenden, die mitunter mehrere Hundert Meter vom Zaun entfernt, teils mit dem Rücken zu den israelischen Soldaten standen, und die erschossen wurden. Das Gericht akzeptierte diese Beweise nicht und folgte der Argumentation der israelischen Regierung.
Welche Lehren kann man aus diesen Ereignissen ziehen? Immerhin sind viele Menschen ums Leben gekommen oder verletzt worden.
Issam Younis: Die Jugend ist extrem frustriert und Gaza ist jung. Über 70 Prozent der zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner sind unter 29 Jahren. 60 Prozent von ihnen sind arbeitslos. Es gibt für sie genügend Gründe zu demonstrieren, auch unter Lebensgefahr. Die Gesellschaft in Gaza ist lebendig, auch wenn die Welt das nicht wahrnimmt. Es gibt nicht nur öffentliche Proteste gegen die Besatzung, sondern auch gegen die palästinensische Autonomiebehörde und gegen Hamas. Tausende von Menschen haben daran teilgenommen. Die Energie der jungen Menschen, wie sie auch in den „Rückkehrmärschen“ zum Ausdruck kam, braucht eine Form der Anerkennung als legitimer Ausdruck von Unbehagen, wenn man nicht will, dass die Situation sich weiter zuspitzt. Eine Jugend in harten realen Grenzen, aber zugleich dank Internet eine Jugend ohne virtuelle Grenzen. Was macht dieser Widerspruch mit den Menschen?
Mahmoud Aburahma: Viele von ihnen kennen bewusst nur das Leben unter der Blockade. Ihre Wünsche und Horizonte sind sehr klein. Sie kennen die Westbank nicht, sie wissen nicht, was die Grüne Linie ist. Sie wissen nicht, was beim Juni-Krieg 1967 geschah und was er bedeutete. Niemand von ihnen hat in der Westbank studiert. Sie haben auch nicht in Israel gearbeitet. Sie kennen nur israelische Soldaten, Panzer und Bomben. Gleichzeitig überschreiten sie mit dem Internet diese realen Grenzen. Dort haben sie Kontakt zu Palästinensern und anderen Leuten in Haifa, in Nazareth, in Ramallah, im Libanon, in Syrien. Wo auch immer. Es entsteht eine neue Art von virtueller Identität, die sich unterscheidet von dem, was wir bislang kannten. Denn sie sind in eine so kleine Welt hinein geboren worden, die noch dazu jederzeit durch die israelische Regierung bedroht werden kann. Wir müssen diesen Widerspruch zur Kenntnis nehmen. Die Menschenrechtsarbeit von Al Mezan ist in ihrem Verständnis universell. Das zu vermitteln ist unsere Aufgabe. Menschenrechte gelten für alle, auch diesseits und jenseits der Grenze zu Israel.
Al Mezan führt regelmäßig Workshops mit Jugendlichen zum Thema Menschenrechte durch. Gibt es Interesse an dieser Arbeit in einem Umfeld, wo es um ihren Schutz in jeder Hinsicht so schlecht bestellt ist?
Issam Younis: Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren, auch wenn sich die Situation immer weiter verschlechtert. Für alle gleichermaßen geltende Menschenrechte sind der einzig richtige Weg für die Palästinenserinnen und Palästinenser und für alle anderen ebenfalls. Es gibt noch immer Räume, in denen die Kultur der Menschenrechte und ihre Universalität auch unter unseren Bedingungen aufrechterhalten und entwickelt werden kann. Unsere Programme für Studierende und Fachleute erfreuen sich großer Beliebtheit. Uns ist es wichtig, dass wir die Menschenrechte in ihrer ganzen Breite diskutieren. Wenn im Gaza-Streifen oder in der Westbank Folter zum Beispiel im Polizeigewahrsam stattfindet, muss das ebenfalls thematisiert werden. Die Menschenrechte sind unteilbar, auch in einer Konfliktsituation. Das vermitteln wir, und das wird auch breit in den Workshops diskutiert. Wir beschäftigen uns in unseren Workshops mit der Ethik der Menschenrechte insgesamt. Wir glauben nämlich nicht, dass sich die Situation durch ein großes Ereignis verändern wird. Erfahrungen und Denkweise akkumulieren sich und bündeln sich irgendwann zu etwas Neuem. Solange machen wir unsere Workshops, sammeln Augenzeugenberichte dokumentieren Menschenrechtsverletzungen. Das ist wichtig. Die Opfer müssen sprechen, selbst wenn vorerst keine juristische Aufarbeitung stattfindet.
Mahmoud Aburahma: In Deutschland halten viele die Menschenrechte für selbstverständlich. Sie fühlen sich vom Rechtsstaat weitestgehend geschützt. Das ist in Gaza nicht der Fall. Bei uns sind Menschen durchaus auch an den abstrakten Aspekten des menschenrechtlichen Denkens interessiert. Wenn man in einer so komplizierten Situation wie im Gaza-Streifen lebt, sind die Ethik und die Prinzipien der Menschenrechte und der Menschenwürde eine Überlebenshilfe.
Mahmoud, deine Aufgabe ist es, schon seit einigen Jahren mit Politikerinnen und Politikern in Europa ins Gespräch zu kommen. Hat sich das Gesprächsklima verändert?
Mahmoud Aburahma: Es ist in den letzten Jahren sehr schwer geworden, Gehör für die Probleme in Gaza oder in der Westbank zu finden. Das hat auch mit den Kriegen in der Region zu tun und den Geflüchteten, die seit 2015 deshalb in Europa Schutz suchten. Unsere Arbeit als Menschenrechtsaktivisten bestand immer darin, mit der Zivilgesellschaft und mit Politikern Kontakt aufrecht zu erhalten. Mit unserem Anliegen gab es einen respektvollen Um gang. Mittlerweile aber stoßen wir manchmal auf offene Feindschaft. Schon wenn man das Wort Besatzung sagt, gilt man als Feind nicht nur bei der israelischen Regierung, sondern auch bei vielen Gruppen in Europa und in den USA, die diese Regierungsposition übernommen haben. Ich erlebe durchaus Ähnlichkeiten in der Mentalität. Wer sich in Europa für Migrantenrechte einsetzt, kann ebenso als Feind tituliert werden wie Menschenrechtler aus Palästina. Es gibt viel mehr Druck auf Regierungen und Politiker, die sich einen menschenrechtlichen Ansatz zu eigen machen.
Gibt es ein konkretes Beispiel?
Issam Younis: Die Vorwürfe sind immer dieselben. Es heißt, wir wären korrupt, wir würden Mittel hinterziehen. Es gibt keine Beweispflicht. Es handelt sich um verleumderische Kampagnen, und wir treffen überall auf sie. Es gibt so viele Gruppen in Europa, die starken Einfluss haben. Sie arbeiten mit sehr einfachen Botschaften. Und wer sich nicht auskennt, der ist empfänglich, weil gegen Menschen aus Gaza ohnehin schon ein latenter Terrorismusvorwurf erhoben wird.
Wie reagieren eure Partner?
Mahmoud Aburahma: Unsere Partner wissen sehr viel über uns. Wir werden von einem der vier großen Wirtschaftsprüfungsunternehmen regelmäßig auditiert. Sie wissen sehr genau, wie wir arbeiten. Es gibt ein großes Vertrauen in uns. Aber unsere politischen Kontakte hängen von der öffentlichen Meinung ab. Wenn die verwirrt ist und die Verleumdungen erfolgreich sind, dann wird es schwierig für uns. Wir sind also die ganze Zeit damit beschäftigt uns zu erklären, zu verteidigen. Das frisst viele Ressourcen und lenkt von der eigentlichen Arbeit ab.
Das Interview führte Katja Maurer
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!