Vorstadtverwüstungen

19.08.2005   Lesezeit: 3 min

Die Angst grassiert vor dem Aufstand in der städtischen Peripherie. „Kann das bei uns auch passieren?“, fragen deutsche Journalisten in einer Tonlage des Befremdens. Vormals aufgeklärte Blätter sehen den Kampf der Kulturen in den Banlieues von Paris entbrennen. Und französische Modephilosophen wie Bernard-Henri Lévy sprechen von der „schwarzen Energie des reinen Hasses“. Leute wie Lévy, die sich einst als Vordenker der 1968er-Bewegung verstanden, sind nur wenige Denkschritte davon entfernt, nur noch auf „Polizeimaßnahmen zum Schutz von Gütern und Personen“ zu setzen. Das genau tat Innenminister Sarkozy und verhängte den Ausnahmezustand gegen die Marginalisierten, die die Ruhe einer egoistischen und blinden Gesellschaft stören. Wem es nicht gelingt dazuzugehören, ist fallweise wegzusperren? In den Vorstädten dürfen Jugendliche abends nicht mehr auf die Straße und man kann auch „potentielle Täter” zu Hause festnehmen. Nur dass der Bürger seine Ruhe hat. „Der Ausnahmezustand“, schreibt der italienische Philosoph Giorgio Agamben, „tendiert immer mehr dazu, sich als Paradigma des Regierens darzustellen, das über der gegenwärtigen Politik steht.“ Die Selbstabschaffung der Demokratie im Zeichen der bürgerlichen Sicherheit? Nicht erst die Ereignisse in Paris sollten zu denken geben darüber, dass der strukturelle und bewusst in Kauf genommene Ausschluss von immer mehr Menschen perspektivisch eine demokratische Gesellschaft verunmöglicht. Es sei eine Zeit der „freiwilligen Unmündigkeit“, schreibt der Schriftsteller Camille de Toledo, einer der wenigen Intellektuellen Frankreichs, der sich mit den Demonstrierenden solidarisierte. Statt die „Misérables“, die Elenden zu unterstützen, habe sich die Linke elend verhalten. „Der Wunsch nach Ordnung entflammt alle, linke wie rechte, junge wie alte.“

Der Kampf der Unterprivilegierten in den Vorstädten ist nicht so ziellos, wie behauptet. Es geht um Inklusion und Teilhabe, um einen Protest von Franzosen, unter ihnen auch „papierlose“ Jugendliche, die die Ideale, die sie in der Schule lernten, auch leben möchten: Gleichheit und Brüderlichkeit. Bis jetzt aber sind sie Bürger 2. Klasse ohne Schulabschluss. Die Beschäftigung mit den Vorgängen in Frankreich erinnerte mich an ein Gespräch mit unserer Projektpartnerin Aida Touma-Suliman in Israel. Ich fragte sie, ob denn die Fertigstellung der Mauer und Grenzzäune zur Westbank einen Aufstand der israelischen Palästinenser herbeiführen könne. Zu meiner Verblüffung sagte sie ohne zu zögern: „Nein“. Sehr wohl aber könne eine Entscheidung wie die der israelischen Justizbehörden so etwas auslösen. Die habe nämlich gerade das Verfahren zur Ermordung von 13 israelischen Palästinensern eingestellt, die sich bei einer Demonstration 2003 mit der Intifada in der Westbank solidarisierten. Die Verantwortlichen, so die Begründung, seien nicht zu ermitteln. „Wer sind wir? Dreck? Bürger zweiter Klasse?“ – das ist die empörte Reaktion. Auch hier ging vermeintliche Sicherheit vor Recht.

Dieses Heft beschreibt einige Sollbruchstellen der Exklusion, die in Paris zum Aufstand führte. Das ist schon gute Tradition der medico-Rundschreiben. Wir planten das Rundschreiben, da war von den Vorgängen in Frankreich nicht die Rede. Sie aber definieren Europa von seinen Rändern her ebenso wie der Essay von Navid Kermani, der das verzweifelte Anrennen der Flüchtlinge gegen die europäischen Grenzen aus nächster Nähe beobachtete. Wir haben diesem aufwühlenden Text, den uns der Schriftsteller freundlicherweise zur Verfügung stellte, Reportagen und Berichte über die Arbeit unserer Partner zur Seite gestellt. Sie beschreiben Versuchsanordnungen, neben der Hilfe zum Überleben Räume für politische Artikulation gegen die Ausgrenzung zu schaffen. Es sind keine harmonischen Weihnachtsgeschichten. Sondern Berichte über Konfrontationen mit der hergebrachten Ordnung. Vielleicht gerade die richtige Ruhestörung.

Herzlichst Ihre Katja Maurer


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