Von Rat für Migration und medico international
Auch Tage nach den tödlichen Vorkommnissen an der Grenze zur spanischen Exklave Melilla kursieren in sozialen Netzwerken die verstörenden Bilder von den Europäischen Außengrenzen. Stand heute wurden von marokkanischen Menschenrechtsgruppen 37 Tote gezählt, wobei die Todesursachen immer noch weitgehend ungeklärt sind.
Es schockiert nicht nur die tödliche Gewalt selbst gegenüber Menschen auf der Flucht. Es ist das Bild aufgehäufter menschlicher Leiber, von Halbtoten und Toten, das ein neues Niveau der Feindschaft und Entmenschlichung demonstriert. Bilder zeigen, wie bewaffnete Grenzpolizisten an jenem Freitag, den 24. Juni, Steine auf Migrierende schmeißen, selbst noch auf Verletzte und auf dem Boden liegende Menschen einprügeln, sie verhöhnen. Stundenlang wurden Verletzte ohne Hilfe liegen gelassen, was die Zahl der Todesopfer noch erhöhte, berichtet die Organisation Walking Borders.
Was sich an der Grenze zur Exklave Melilla, diesem Überbleibsel des spanischen Kolonialismus auf dem afrikanischen Kontinent, abspielt, ist neuer trauriger Höhepunkt einer migrationspolitischen Entwicklung, die wir seit Jahren beobachten und immer wieder kritisiert haben. Die Polarisierung zwischen den G7-Staaten und dem Rest der Welt spitzt sich kontinuierlich zu: durch wirtschaftliche, soziale und ökologische Krisen, die Vernichtung von Lebensgrundlagen und Hunger. Doch die Antwort Europas gegenüber Fliehenden aus dem Globalen Süden beschränkt sich immer stärker auf den Ausbau von „robusten Grenzanlagen“ und direkte Gewaltanwendung. Das Nachdenken über legale Migrations- und Fluchtrouten scheint gänzlich einer Politik der militarisierten Abwehr gewichen.
Die Verteidigung der Grenzen mit Waffen-Gewalt – sei es in der Ägäis, auf dem Balkan, in Polen oder nun Spanien – galt 2015, als die AfD eben das forderte, noch als Tabubruch. Nun ist sie zum Alltag geworden. Spaniens sozialistischer Ministerpräsident Pedro Sánchez sprach nach Melilla von „einem gewaltsamen Überfall, der von der Menschenhändler-Mafia organisiert wurde“. Nach seiner Interpretation sind es am Boden liegende, sterbende Menschen, die die eigentliche Gefahr darstellen. Diese systematische Täter-Opfer-Verkehrung kennen wir schon länger aus der europäischen Migrationsabwehr.
Schutzsuchende als Angreifer
Seit einigen Jahren beobachten wir jedoch eine weitere folgenreiche Diskursverschiebung: die Bezeichnung von Migration als „Waffe“ oder „Angriffskrieg“. Mit dieser sprachlichen Wendung erscheint Migration nicht länger als humanitäre Frage, auf die im Rahmen der Menschenrechte und der Genfer Flüchtlingskonvention reagiert wird. Stattdessen werden Schutzsuchende zu Angreifern erklärt, zu Kriegsteilnehmenden, gegen die wir uns verteidigen müssen und denen keinesfalls unser Mitleid gelten kann. So wird das Recht auf Flucht und Suche nach einem besseren Leben endgültig delegitimiert.
Bereits im März 2020, als eine größere Zahl Fliehender von der Türkei aus Europas Grenzen zu überqueren versuchte, hieß es, Flüchtlinge würden vom türkischen Präsidenten Erdogan als „Waffen“ missbraucht. Entsprechend setzten die griechischen Grenztruppen Tränengas, Schlagstöcke und scharfe Munition gegen sie ein – mindestens zwei Menschen starben. Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen lobte Griechenland als „Schutzschild Europas“.
Zum Jahreswechsel 2021/22 wiederholten sich ähnliche Szenen an der polnisch-belarussischen Grenze: Hier war es der belarussische Diktator Lukaschenko, der Migrant:innen im Rahmen „hybrider Kriegsführung“ als „Waffe“ einsetze. Polen erklärte das Grenzgebiet zur Sperrzone, verhinderte den Zugang humanitärer Organisationen und setzte wie zuvor Griechenland das Recht auf Asyl aus. Flüchtende wurden im unzugänglichen Wald der Grenzregion sich selbst überlassen, viele erfroren. Versuche, die Grenze zu überqueren wurden mit Stacheldraht, Tränengas und Schlagstöcken verhindert, neue Befestigungen gebaut.
Auch Sánchez sprach von einem „Angriff auf die territoriale Integrität Spaniens“ durch die Migrant:innen und auch diesmal kam Unterstützung aus Brüssel: „Wir unterstützen Spanien und alle Länder, die an vorderster Front die Grenzen der EU schützen“, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel.
Versagen des EU-Rechts
Doch nicht nur der Staat scheint der Gewalt keinen Einhalt mehr gebieten zu wollen. Auch auf juristischer Ebene wird es zunehmend schwieriger, Menschenrechtsverletzungen anzufechten. So haben beispielsweise Bulgarien und Polen ihre gewaltsamen Pushback-Praktiken de facto legalisiert. Ein EU-Vertragsverletzungsverfahren, das diese Grundrechtsverletzungen stoppt, lässt auf sich warten. Auch Griechenland und Kroatien setzen Pushbacks unbehelligt weiter ein, obwohl erdrückende Beweise für folterähnliche Gewaltanwendung durch den Grenzschutz vorliegen. Auch die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX unterstützt diese Praktiken. Das Menschenrechtssystem der EU erweist sich als im höchsten Maße ineffektiv gegenüber den Mitgliedsländer wie den eigenen Institutionen.
Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) scheint seine Rechtsprechung zunehmend dem migrationsfeindlichen Umfeld anzupassen. Noch 2017 verurteilte eine EGMR-Kammer gewaltsame Pushbacks an der marokkanisch-spanischen Grenze und sprach Spanien der Kollektivausweisung für schuldig. Diese Entscheidung wurde jedoch im Februar 2020 von der Großen Kammer des EGMR revidiert, die keine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention mehr feststellen wollte. Es ist insbesondere diese juristische Kehrtwende, die es Spaniens Ministerpräsident nun erlaubt, Grenzpatrouillen, die mitverantwortlich für den Tod dutzender Menschen sind, noch zu loben.
Wider eine rassistische Ordnung
Gewalt und Entmenschlichung in Melilla verweisen in aller Deutlichkeit auf die rassistische Ordnung, die sich an den Grenzen Europas manifestiert. Sie teilt Menschen in solche, die zu leben verdienen, und andere, deren Tod hingenommen oder sogar gerechtfertigt wird. Europa wendet sich – zu Recht! – dem Schicksal der Menschen in der Ukraine zu, betrauert ihren Tod und empfängt Flüchtende mit offenen Armen. Gleichzeitig wendet es sich von Menschen ab, die als fremd wahrgenommen werden. In rassistischen Bildern und grenzpolizeilichen Maßnahmen werden sie entmenschlicht und ihr Tod wird, wenn nicht aktiv herbeigeführt, so doch in Kauf genommen. Das ist im Europa der Gegenwart kein Skandal mehr.
Umso mehr braucht es soziale Bewegungen, Zivilgesellschaft und kritische Wissenschaft, die hinschauen und die Geltung von körperlicher Unversehrtheit und Schutz vor staatlicher Gewaltwillkür verteidigen. Deshalb schließen wir uns der Forderung marokkanischer Menschenrechtsorganisationen an, die Vorfälle an der Grenze zu Melilla durch eine unabhängige internationale Kommission, bestehend aus Menschenrechts-organisationen, Menschen- und Völkerrechtler:innen, Familienangehörigen der Opfer und kritische Wissenschaftler:innen, zu untersuchen. Wir fordern die Europäische Kommission auf, den alltäglichen und systematischen Bruch internationalen und europäischen Rechts an Europas Grenzen zu beenden. Sie muss Vertragsverletzungsverfahren gegen die jeweiligen Mitgliedstaaten initiieren und die Grenzschutzagentur Frontex aus diesen Ländern abziehen.
Der Rat für Migration ist ein bundesweiter Zusammenschluss von über 180 Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen, die zu Fragen von Migration, Integration, Grenzpolitik und Rassismus arbeiten.