Corona

Wir brauchen ein starkes Gesundheitswesen

17.03.2020   Lesezeit: 4 min

Die Privatisierung von Gesundheitsdiensten und die Individualisierung der Risiken untergraben unsere Fähigkeit, dieser und künftigen globalen Pandemien zu begegnen.

Von Wim De Ceukelaire und Chiara Bodini, People’s Health Movement

In weniger als zwei Monaten hat sich das Coronavirus (COVID-19) von China aus auf über hundert Länder ausgebreitet. Am 10. März lagen die bestätigten Fälle bereits bei über 100.000 und die Todesfälle bei über 4.000. Jetzt ist es an der Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen und dabei genau hinzuschauen, wie die Reaktionen der verschiedenen Länder auf den Ausbruch ausfallen. Im Zuge des Zusammenwirkens von WHO und China entstand ein Bericht zu COVID-19, der wesentliche Erkenntnisse über Eindämmungsstrategien bietet und erklärt, warum die Gesundheitssysteme in vielen Teilen der Welt viel weniger in der Lage sind, diese umzusetzen. Darüber hinaus wird der Weg zu widerstandsfähigeren Gesundheitssystemen beschrieben.

Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass China die vielleicht ehrgeizigsten, agilsten und aggressivsten Bemühungen zur Eindämmung von Krankheiten in der Geschichte unternommen hat. Und das mit Erfolg. Da es weder einen Impfstoff noch eine spezifische Behandlung gibt, beruht die Eindämmung des Ausbruchs auf einer Reihe von Maßnahmen. Dazu gehören die Identifizierung kranker Menschen, ihre Versorgung, die Weiterverfolgung von Kontakten, die Vorbereitung von Krankenhäusern und Kliniken auf die Bewältigung eines Patientenanstiegs sowie die Ausbildung von Gesundheitspersonal. Die Schlussfolgerung des Berichts über das Zusammenwirken von WHO und China ist bemerkenswert, denn sie besagt, dass die beschriebenen Maßnahmen nur "aufgrund des tiefen Engagements des chinesischen Volkes für kollektive Maßnahmen angesichts dieser gemeinsamen Bedrohung" möglich waren.

Ähnliche Schlussfolgerungen können aus den Erfahrungen in anderen asiatischen Gebieten gezogen werden. In einem Artikel auf der Website von The Lancet beurteilen Experten die Widerstandsfähigkeit der Gesundheitssysteme in Hongkong, Singapur und Japan nach ihrer Fähigkeit, angemessene Eindämmungsstrategien im Hinblick auf die aktuelle COVID-19-Krise anzuwenden. Die drei Standorte führten geeignete Eindämmungsmaßnahmen und Führungsstrukturen ein, unternahmen Schritte zur Unterstützung der Gesundheitsversorgung und ihrer Finanzierung und entwickelten und implementierten Pläne und Managementstrukturen. Die Integration der Dienste im Gesundheitssystem und in anderen Sektoren hat die Fähigkeit, Schocks zu absorbieren und sich anzupassen, verstärkt. Interessanterweise haben auch Singapur, Japan und Hongkong starke öffentliche Gesundheitssysteme, die breite Unterstützung genießen und in der Lage sind, die Bevölkerung über das Gesundheitspersonal hinaus zu erreichen und zu mobilisieren.

In vielen Ländern der Welt wurden die öffentlichen, staatlich finanzierten und von der Regierung geführten Gesundheitssysteme nach und nach abgebaut. Die Privatisierung hat ihre Fähigkeit beeinträchtigt, groß angelegte Präventionskampagnen zu koordinieren, ihre Fähigkeit zum Ausbau der kurativen Dienste in Krisensituationen eingeschränkt und gleichzeitig das Vertrauen der breiten Öffentlichkeit in das Gesundheitssystem als Ganzes untergraben.

Um beispielsweise eine effektive Kontaktverfolgung anwenden zu können, ist ein feingliedriges Gesundheitssystem mit einer umfassenden Grundversorgung unerlässlich. China hat es geschafft, Tausende von Mitarbeitern des Gesundheitswesens für die Suche nach Kontakten von Infizierten zu mobilisieren. In den USA, wo es kaum eine primäre Gesundheitsversorgung gibt und das Gesundheitssystem in hohem Maße von der sekundären und tertiären Versorgung abhängig ist, ist eine groß angelegte Kontaktverfolgung fast unmöglich. Jetzt, da sich COVID-19 rasch auf Europa und die USA ausbreitet, könnten wir die Verwundbarkeit von stärker privatisierten Gesundheitssystemen erleben. In Italien, dem europäischen Land, das am schlimmsten von der Epidemie betroffen ist, hat die Regionalisierung des Gesundheitswesens – die wesentlicher Teil eines umfassenden Konzepts zur schrittweisen Demontage und Privatisierung des nationalen Gesundheitsdienstes ist – kohärente Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheit und zur Stärkung des Gesundheitssystems erheblich verzögert.

Da ihre Gesundheitssysteme nicht in der Lage sind, angemessene kollektive Reaktionen zu koordinieren, ist es nicht überraschend, dass die Maßnahmen der europäischen Regierungen im Wesentlichen an die individuelle Verantwortung der Menschen appellieren.  Soziale Distanzierung ist zur zentralen Maßnahme ihrer Bewältigungsstrategien geworden.

Natürlich ist es richtig, an die individuelle Verantwortung der Menschen zu appellieren, und es stimmt, dass die soziale Distanzierung auch bei der Eindämmung des Virusausbruchs in China eine Rolle gespielt hat. Dennoch ist es ebenso von Bedeutung anzuerkennen, dass diese Maßnahmen nicht ausreichen, um mit groß angelegten Gesundheitsbedrohungen umzugehen. Was wir aus der globalen Corona-Pandemie lernen können, ist, dass starke öffentliche Gesundheitssysteme die Widerstandsfähigkeit besitzen, um massiven Gesundheitsbedrohungen mit den erforderlichen kollektiven Reaktionen zu begegnen. Die Privatisierung der Gesundheitsdienste und die Individualisierung der Risiken könnten unsere Fähigkeit, dieser und künftigen globalen Pandemien zu begegnen, weiter untergraben.

Wim De Ceukelaire und Chiara Bodini sind Gesundheitsexpert*innen der belgischen NGO Viva Salud und Aktivist*innen der globalen Gesundheitsbewegung People‘s Health Movement, von der auch medico international Teil ist.

Der Beitrag erschien zuerst am 12. März 2020 auf der Seite des People's Health Movement.


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