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Wir feiern weiter

21.12.2021   Lesezeit: 10 min

Eine neue Generation mit einer neuen Politik / Der Wahlsieg von Gabriel Boric.

Von Pierina Ferretti

Nach sieben Uhr abends am Sonntag, den 19. Dezember bestätigte sich der überwältigende Sieg von Gabriel Boric, dem Kandidaten der chilenischen Linken über den Ultrarechten José Antonio Kast. Seither erstreckt sich über ganz Chile ein wahres Volksfest. Hunderttausende Menschen versammelten sich spontan auf den Alleen, Plätzen und in den Vierteln, schwenkten Fahnen und schrien „Ganamos“ – „Wir haben gewonnen!“

Dazwischen allgemeines Umarmen, Tränen und große Erleichterung. Nach dem Schock der ersten Wahlrunde, als der ultrarechte Kandidat, der ein Erbe des Pinochetismus ist, die Mehrheit der Stimmen erhielt, war die breite Unterstützung, die der Kandidat des Wahlbündnisses „Apruebo Dignidad“ (Für die Würde) in der zweiten Runde erhielt, ein guter Grund auf die Straße zu gehen.

Nachdem der Wahltag von fehlenden Transportmöglichkeiten zu den Wahllokalen in Santiago gekennzeichnet war, was viele für einen Boykott hielten, endete der Tag mit Gabriel Boric, der vor Abertausenden Menschen auf der Hauptschlagader Santiagos eine halbstündige Rede als neu gewählter Präsident hielt. Seine Rede, die Rede eines jungen Mannes, der vor zehn Jahren eine der wichtigsten Studentenrevolten des Landes angeführt hatte, übertrugen Fernseh- und Radiostationen ins ganze Land. Er ist der jüngste Präsident, den Chile je hatte, der Präsident mit der größten Unterstützung in der Geschichte und der erste Landeschef einer Linkskoalition seit Salvador Allende.

Sein Sieg wurde nicht nur in Chile gefeiert. Die diversen Linken und die fortschrittlichen Kräfte in der Welt begrüßen diesen Sieg in einer Zeit, da die Lösung der kapitalistischen Krise zwischen zwei Alternativen zu liegen scheint: Die eine ist der Versuch, die Demokratie zurückzugewinnen und soziale Rechte zu rekonstruieren, die andere ist ultrakonservativ und neofaschistisch. Besonders in Lateinamerika hat der Sieg von Boric die Hoffnung gestärkt, es könnte zu einem neuen Zyklus progressiver Regierungen in Lateinamerika kommen, nachdem die „rosa Flut“ vom Beginn der 2000er Jahre gescheitert ist. Die Wahl von Boric steht in einer Linie mit Andrés Manuel López Obrador in Mexiko (2018), Alberto Fernández in Argentinien (2019), Luis Arce in Bolivien (2020), Pedro Castillo in Peru (2021) und Xiomara Castro (2021) in Honduras. Das Bild könnte sich noch komplettieren mit Gustavo Petro in Kolumbien und Lula da Silva in Brasilien. Beide könnten 2022 zu Präsidenten ihrer Länder gewählt werden. Die Niederlage von Kast hingegen ist ein Schlag für die globale Ultrarechte, die mit seiner Wahl eine Konsolidierung ihrer Position in Lateinamerika erwartet hatte.

Auf regionaler Ebene ist der Sieg von Gabriel Boric auch deshalb wichtig, weil er sich klar für die Verteidigung der Demokratie und der Freiheit aus einer linken Position heraus ausgesprochen hat. Damit setzte er sich von anderen Linken in Chile und Lateinamerika ab. Er ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er die autoritären Regierungen von Daniel Ortega in Nicaragua und Nicolás Maduro in Venezuela ablehnt. Zudem unterstützte er offen die Bürger:innenproteste in Kuba. Damit ist klar, dass sich der neue chilenische Präsident nicht blind mit irgendeiner Regierung verbinden wird und auch innerhalb der Linken für eine verbindlichere Haltung zu Demokratie und Freiheit eintreten wird.

Die Generation 2011

In Chile ist Boric‘ Sieg ein Ausdruck dafür, dass sich die Kämpfe gegen den Neoliberalismus intensivieren. Der gewählte Präsident und eine Gruppe junger Mitstreiter:innen – darunter sind die beiden Kommunistinnen Camila Vallejo und Karol Cariola sehr wichtig – waren bei der Studierendenrevolte von 2011 die ersten, die mit einem entschieden anti-neoliberalen Programm auf nationaler Ebene aktiv waren und die dessen Glaubenssätze delegitimierten. Damals traf ihre Forderung nach dem Recht aller auf eine öffentliche und kostenfreie Bildung, die mit einer deutlichen Kritik an dem Gewinnstreben der Bildungsunternehmen einherging den Kern des Neoliberalismus:  das Prinzip, dass die zentralen Aspekte der sozialen Reproduktion zu kommodifizieren sind. Die Losung der Studierendenbewegung „Öffentliche, kostenfreie und gute Bildung“ weckte die chilenische Gesellschaft auf.

Der Legitimitätsverlust des Neoliberalismus ging einher mit einem Ausbluten der politischen Eliten, die ihn über Jahrzehnte verwaltet hatten. Eine neue Generation trat auf. Die 2011er Generation, wie man sie seither nennt, hat sich nicht nur als politische Opposition gegen die Rechte etabliert, sondern auch im Widerspruch zur Mitte-Links-Gruppe in der „Concertación de Partidos por la Democracia“ (Pakt der Parteien für die Demokratie), der das Land nach Pinochet mit einer Linie führte, die auf Kontinuität und Vertiefung des Neoliberalismus setzte. Sie vermieden alles, um in den Geruch sozialdemokratischer Reformvorstellungen zu geraten.

Die unterschiedlichen Gruppierungen der 2011er Generation erlebten nach ihrem Mobilisierungserfolg viele Kämpfe und Brüche untereinander, bis sie sich neu ordneten. Es entstanden neue Parteien und die Frente Amplio (Breite Front) als Bündnis dieser Parteien. Diese Gruppen bilden mit der Kommunistischen Partei „Apruebo Dignidad“, das nicht nur die Kandidatur von Boric ermöglichte, sondern sich auch zu einer alternativen Strömung entwickelte, die von der Concertación unabhängig ist und ihr Erbe kritisiert. Die historische Mission besteht jetzt darin, den aus den vergangenen Jahrzehnten ererbten Neoliberalismus zu überwinden.

Die politischen Kräfte und ihre Führungsfiguren, die sich in einem der wichtigsten anti-neoliberalen Kämpfe herausgebildet haben, haben es in den vergangenen zehn Jahren geschafft, die traditionelle politische Klasse des Landes zu ersetzen und die Führung des Landes selbst in die Hand zu nehmen. Dieser Vorgang ist von einer Symbolik, die sich kaum messen lässt.

Eine Gesellschaft, die sich selbst mobilisiert

Am vergangenen Sonntag erhielt Gabriel Boric 55,6 Prozent, mehr als 4,5 Millionen Wähler:innen unterstützen ihn. In der ersten Runde, in der Kast zum Überraschungssieger wurde, hatte Boric gerade mal 200.000 Wähler:innen mehr erreicht als bei den Vorwahlen im Juli. Seiner Kandidatur war es damals nicht gelungen, die bereits errungene Basis auszuweiten. Das war ein Schlag für die Linke, die sozialen Bewegungen und alle demokratischen Kräfte. In den folgenden Wochen entwickelte sich eine breite Mobilisierung im ganzen Land, die auch nötig war, um einen möglichen Wahlsieg von Kast zu verhindern.

Diese schrecklichen Aussichten führten dazu, dass zudem alle Parteien der Concertación, darunter deren Ex-Präsidenten Lagos und Bachelet zu seiner Wahl aufriefen. Außerdem unterstützten ihn wichtige Vertreter:innen der Revolte von 2019, obwohl sie sich bis dahin gegen jede Form von politischer Partei abgegrenzt hatten. Darunter waren die beiden Senator:innen Fabiola Campillai und Rodrigo Gatica, die ihr Augenlicht durch die Repression verloren haben. Dazu gehörten aber auch die Heilerin Francisca Linconao, eine wichtige spirituelle Führerin der Mapuche und Mitglied im Verfassungskonvent, außerdem dessen Präsidentin, die Mapuche-Führerin Elisa Loncón. Hinzu kamen die übergroße Mehrheit der sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und verschiedene Berufsgruppen. Besonders wichtig aber war die Unterstützung durch die feministischen Organisationen, die landesweit agierten, um einen Kandidaten zu verhindern, der eine immense Gefahr für die erreichten Freiheiten und Rechte der Frauen wie der Menschen sexueller Dissidenzen darstellte.

Aber am wichtigsten und schließlich entscheidend war, dass sich in den letzten Wochen eine Vielzahl von Gruppen, autonom und unabhängig von allen Strömungen zum Handeln aufgerufen fühlten: Von Künstler:innen zu Tierliebhaber:innen, von LGBTIQ+ Gruppen bis zu fortschrittlichen Christ:innen, Nachbarschaftsorganisationen, Kulturzentren, Fußballfans und viele mehr. Sie alle betrieben Wahlkampf. Fahrradkorsos, Konzerte, Memes, Dichter:innenlesungen – der Fantasie, wie Wahlkampf aussehen kann, waren keine Grenze gesetzt. Dieser enorme soziale Aktivismus in Chile, das zeigte sich im Wahlkampf, lässt sich abrufen, wenn es die Sache verlangt. Und genau das ist eine der wichtigsten Kräfte der chilenischen Gesellschaft. Die Linke, die in wenigen Monaten die Macht im Regierungssitz Moneda übernehmen wird, sollte sich dessen bewusst sein, denn ohne diese aktive Unterstützung durch die Gesellschaft wird es praktisch unmöglich sein, irgendeinen Punkt ihres Programms durchzusetzen.

Was die Details des Wahlergebnisses angeht, liegen bereits einige interessante Daten vor: Der Sieg von Boric gelang, weil die Wahlbeteiligung von 43 Prozent in der ersten Runde auf 56 Prozent anstieg; Frauen unter 50 Jahren und die einfachen Stadtviertel der Hauptstadt stellen die wichtigsten Wähler:innengruppen für ihn: 68 Prozent der Frauen unter 30 haben für Boric gestimmt und in den ärmeren Vierteln lag er bei 70 Prozent.

Die Gründe für die gewachsene Beteiligung sind sicher vielfältig. Die vorliegenden Zahlen erlauben aber eine Hypothese: Die überwältigende Unterstützung der Frauen erklärt sich aus dem widererstarkten modernen Feminismus. Die Frauen in Chile sind sich ihrer errungenen Rechte bewusst und bereit für die Rechte, die noch fehlen (wie das Recht auf Schwangerschaftsabbruch), zu kämpfen. Sie wurden aktiv, weil sie eine konservative Regression unbedingt verhindern wollten. Die breite Unterstützung in den einfachen Vierteln spricht für eine Politisierung, die die Aufstände von 2019 erreicht haben. In diesen dicht besiedelten Vierteln war der Aufstand am heftigsten und die Repression am schärfsten. Hier gab es die höchste Zahl an Verletzten und Toten. Die Erfahrung des Aufstands und die Erinnerung an die Repression waren wie Schutzschild gegen die Propaganda der Rechten.

Die Herausforderungen

 „Es wird nicht leicht sein, es wird nicht schnell gehen, aber unsere Verpflichtung ist es, voranzukommen“, sagte Gabriel Boric am Ende seiner Rede. Die Schwierigkeiten, vor denen der Präsident steht, sind enorm, nicht nur wegen der ökonomischen und sozialen Folgen der Pandemie und der absehbaren Reaktion der ökonomischen Mächte, die ihre Interessen in Gefahr sehen, sondern weil die Linke weder im Senat noch im Parlament eine Mehrheit hat. Die Linke wird auf großen Widerstand stoßen und es wird sehr schwierig die strukturellen Reformen zu realisieren, die sie angekündigt hat. Dazu gehören die Steuerreform, die Reform der Rentenversicherung und die Gesundheitsreform. Während das Land also darauf wartet, dass endlich zentrale Forderungen des Aufstands erfüllt werden, die schon Jahrzehnte auf ihre Realisierung warten, wird die Regierung große Schwierigkeiten haben, diese Versprechen zu erfüllen. Die politische Instabilität, die sich daraus ergibt, ist offenkundig. Es wird zu neuen Protestbewegungen kommen. Die neue Regierung wird versuchen müssen, diese Proteste auszunutzen, statt alles dafür zu tun, sie zu demobilisieren, wie das die Concertación tat.

Andererseits muss Boric ein Gleichgewicht der unterschiedlichen Kräfte in der Allianz herstellen, die ihn unterstützt und die von neoliberalen Progressiven bis zu den radikalsten Gruppen reicht. Ihre Ideen stehen sich zum Teil diametral entgegen. Welche Rolle Vertreter:innen der alten Concertación und der sozialen Bewegungen in der neuen Regierung spielen werden, wird sich erst erweisen, wenn Boric sein Kabinett vorstellt. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen in Apruebo Dignidad, ob man eher mit der alten Concertación oder mit den sozialen Bewegungen zusammen arbeiten sollte. Dass sich Apruebo Dignidad, um zu regieren, breiter aufstellen muss, ist allerdings unumstritten.

Klar ist aber, dass Boric dem verfassungsgebenden Prozess sehr positiv gegenüber steht. Die Bedeutung, die Boric dem Prozess beimisst, zeigte sich daran, dass der Besuch beim Direktorium des Konvents und ein Gespräch mit Elisa Loncón eine seiner ersten Aktivitäten nach dem Wahlsieg war. In Boric‘ Präsidentschaft fällt die Erarbeitung und Verabschiedung einer neuen Verfassung. Damit kann die Pinochet-Verfassung ad acta gelegt werden, die den Neoliberalismus in Verfassungsrang hob. Wenn eine explizite anti-neoliberale Verfassung verabschiedet werden wird, wird das seinem Programm der Strukturreformen einen Impuls gegen die Widerstände des Parlaments verleihen. Es ist durchaus möglich nach einer gewonnen Verfassungsabstimmung Neuwahlen für das Parlament und die Präsidentschaft auszurufen, wobei sich Boric wiederwählen lassen könnte.

Trotz all der absehbaren Schwierigkeiten feiern wir in Chile weiterhin. Denn mit diesen Wahlen ist ein so klares Zeichen für eine soziale Transformation, für die Rechte der Frauen und der Ausgegrenzten gesetzt worden. Nach 50 Jahren wird die Linke in einem Land regieren, das nach Jahrzehnten des Neoliberalismus sein Schicksal endlich selbst bestimmen will und Gerechtigkeit und Würde fordert. „Solange, bis es sich zu leben lohnt“ war eine der Losungen des Aufstands. Diese Forderung ist gültig. Die Wahl von Boric ist ein Sieg des Wunsches, in Würde zu leben und eine Politik wieder möglich zu machen, die sich der Verbesserung des Lebens einer breiten Mehrheit verschreibt.

Pierina Ferretti

Pierina Ferretti ist eine chilenische Soziologin. Sie veröffentlicht regelmäßig Essays und Analysen zu aktuellen politischen Themen und ist Mitglied der Stiftung «Nodo XXI», ein Forum für eine antineoliberale, feministische und demokratische Linke. Sie war Referentin auf der medico-Konferenz „Die (Re-)Konstruktion der Welt“ im Februar 2021.


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