Der 19. August ist der Welttag der humanitären Hilfe. Vielerorts diskutiert wird diese jedoch vor allem deshalb, weil eine verheerende Krise auf die nächste folgt und jede einzelne Hilfe dringend erforderlich macht. Haiti, zuvor die Waldbrände, die Folgen der Corona-Pandemie ... . Humanitäre Hilfe, so die Maxime, agiert schnell, effizient und mit dem Ziel, so viel Menschenleben wie möglich zu retten und Leid zu lindern. So weit, so gut. In einer Welt multipler Krisen und sich überschlagender Katastrophen wird sie dringend gebraucht. Gleichzeitig braucht diese Welt dringend eine Transformation, eine (Re-)konstruktion. Denn, so eine alte medico-Überzeugung: Die Welt leidet nicht an zu wenig Hilfe, sondern an Verhältnissen, die immer mehr Hilfe nötig machen. Kann Hilfe dazu beitragen? Wie könnte oder müsste eine transformative humanitäre Hilfe aussehen? Eines steht fest: sie soll feministisch sein.
Eine feministische humanitäre Hilfe ist eine, die die Menschen in ihrer Ganzheit begreift; die Strukturen aufbaut und soziale Infrastrukturen entwickelt; die Beziehungen der Menschen zueinander und zu ihren Kontexten miteinschließt; und die weiß und dies kritisch reflektiert, dass sie innerhalb von Machtbeziehungen agiert. Eine solche Hilfe ist umso wichtiger, da in der patriarchalen Weltordnung Frauen und Mädchen in Krisen und Katastrophen besonders stark von Gewalt getroffen werden. Über Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer anderen, feministischen Hilfe habe ich mit zwei medico-Partnerinnen gesprochen, die in ihrem Engagement mit massiven Krisen konfrontiert waren und sind. Lian Gogali in Indonesien und Huda Khayti in Syrien. Beide arbeiten in sehr unterschiedlichen Kontexten. Und doch treffen sie sich in der Art, wie sie Nothilfe leisten. Ihre Antworten zeigen die Spuren auf, denen man auf der Suche nach einer humanitären Hilfe der Zukunft folgen könnte.
Lian Gogali leitet das Institut Mosintuwu auf Poso in Indonesien. Das Institut ist ein Zusammenschluss von Menschen, die sich während und nach Konflikten in der Regentschaft Poso und ihrer Umgebung für Frieden einsetzen. Dort ereigneten sich mehrere gewaltsame Vorfälle im Namen der Religion, hinter denen sich politische und wirtschaftliche Motive versteckten, die mit der Ausbeutung der sich dort befindenden natürlichen Ressourcen in Verbindung stehen. Die Opfer dieser Konflikte waren wie so oft die Armen und Marginalisierten von Poso. Das Mosintuwu-Institut hat eine Basis-Frauenbewegung ins Leben gerufen, einer der ersten Schritte war kritische Bildungsarbeit an der Mosintuwu-Frauenschule. Während der Erdbebenkatastrophe in den benachbarten Provinzen vor drei Jahren leistet das Institut Nothilfe.
Huda Khayti ist Gründerin und Leiterin des Women Support & Empowerment Center im syrischen Idlib. In dem Zentrum in der vom Assad-Regime belagerten Enklave bieten Aktivistinnen Frauen und Mädchen Alphabetisierungs-, Englisch- und Computerkurse sowie Rechtsberatung und Austauschmöglichkeiten an. Huda Khayti hat diese Strukturen aufgebaut, nachdem ein von ihr gegründetes Frauenzentrum in Ost-Ghouta während des Kriegs niedergebrannt worden war. Als Binnenvertriebene ist sie nach Idlib gekommen und hat dort trotz der Bedrohung durch die islamistische Terrormiliz Haiʾat Tahrir asch-Scham ihr Engagement fortgesetzt. Mehrmals in der Woche fahren Huda Khayti und ihr Team inzwischen auch in Geflüchteten-Camps, um Nothilfe zu leisten. „Diese Menschen haben keine Stimme, sie werden von der Welt nicht gesehen. Wenn die Hilfe ausbleibt, werden sie leise sterben, sei es durch Hunger oder Krankheit“, beschreibt sie die Situation.
Katastrophenpatriarchat
Der Katastrophenpatriarchat funktioniert ähnlich wie der Katastrophenkapitalismus. In der Katastrophensituation findet das Patriarchat neue Wege sich auszubreiten und erlaubt damit vielschichtige neue Formen der Gewalt. Man hört auch andernorts, was unsere Partnerin Huda Khayti erzählt: „Als die Schulen schlossen, hieß das für viele Mädchen nicht nur, einen Ort zum Lernen zu verlieren. Sie wurden auch verheiratet, damit sie als ökonomische Last von der Familie wegfallen. Kinderehen sind besonders schwierig, gerade wenn es keinen Raum mehr gibt für die Informationen über reproduktive und sexuelle Gesundheit. In den Lagern kommt hinzu, dass keine offiziellen Papiere ausgestellt werden. Die Ehen werden also nicht dokumentiert. Rechtlich kann man daher nicht dagegen vorgehen. Ein weiterer Punkt ist die häusliche Gewalt. Mit der Schwere der Krise nimmt die Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu. Manche denken, Krisen würden Menschen näher zueinander bringen. Doch de facto nimmt die Kluft zwischen öffentlichem und privatem Raum zu und damit die Zuweisung und Isolation von Frauen und Mädchen in den privaten Raum.“ Lian Gogali berichtet ähnliches: „In Zeiten der Katastrophe und der Krise werden die durch die Kolonisation geprägten binären sozialen Rollen wiederhergestellt und verstärkt. Hierzu tragen auch Hilfsorganisationen bei, indem sie innerhalb des binären Geschlechtersystems und den Rollen, die dem jeweiligen Geschlecht zugeordnet werden, denken und arbeiten“. Es überrascht nicht: Das Katastrophenpatriarchat stützt sich auf das, was da ist, kontrastiert Ungleichheiten und spitzt sie zu.
Humanitäre Hilfe agiert mit dem Mandat, möglichst viele Menschenleben zu retten und Leid zu lindern, möglichst schnell und effizient. Dabei werden die Menschen, wie Lian Gogali es bildhaft beschreibt, „zerstückelt“: Ihre Bedürfnisse und ihr Selbst werden in verwaltbare Einheiten verwandelt. Sie nennt ein Beispiel. Nach den Erdrutschen in Indonesien sei von den Menschen, die in Camps Zuflucht gesucht haben, erwartet worden, klaglos das zu essen, was sie erhalten, und Kleidung zu tragen, die nichts mit dem zu tun hat, was sie normalerweise anziehen. Sie würden als Opfer behandelt, die annehmen müssen, was ihnen vorgesetzt wird. Das mag sich nicht tragisch anhören. Gleichwohl macht es einen Unterschied, Teil der geleisteten Hilfe zu sein oder lediglich Objekt ohne jegliche eigene Entscheidungsmacht.
Die Menschen als Subjekte ihrer Selbst
Auch in der Nothilfe darf man „die Komplexität der Menschen“ nicht verkennen. Sie dürfen nicht bloße „Opfer des Überlebens“ werden, so Lian Gogali. „Es geht um Würde. Als Feministin mache ich kein Unterschied zwischen Frauen und Männern. Es geht um den Menschen“, sagt denn auch Huda Khayti. Das mache es erforderlich, in den Beziehungen zu navigieren, in denen die Menschen leben. Lian Gogali schaffte zum Beispiel nach den Erdrutschen Gemeinschaftsküchen für die Betroffenen – neben dem Austeilen von gekochtem Essen –, obwohl letzteres in technischer Hinsicht vermutlich „effizienter“ gewesen wäre. „Auf diese Weise können die Menschen zusammenkommen, miteinander in einer warmen Atmosphäre über das Geschehene sprechen oder einfach in Ruhe kochen und essen. Sie können kochen, was sie gewohnt sind. Man muss die Menschen nicht aus ihren Gewohnheiten entwurzeln, um Hilfe zu leisten. Das ist einer der problematischen Aspekte der humanitären Hilfe, wie sie normalerweise geleistet wird: die Menschen werden von dem unmittelbar Vorgefallenen befreit, doch sie werden in dessen Ökosystem festgehalten und ihrer Selbst entwurzelt.“. Huda Khayti teilt diese Perspektive: „Es geht immer auch um Self-care. Die Frauen müssen nicht irgendetwas lernen, wenn sie nicht wollen. Das Zentrum soll ein Ort sein, in dem sie auch über ihre Gefühle sprechen können, Trauer, Freude oder Wut, oder einfach sein und sich wohlfühlen können. Es soll ein sicherer und warmer Ort sein“.
Dabei ist es wichtig, in den Kontexten zu arbeiten, die es in den Gemeinschaften gibt. „Natürlich arbeite ich innerhalb des Rahmens, der Stadt und der Gemeinschaften, in denen die Frauen leben. Das kann sehr ambivalent sein. Auf der einen Seite gibt es ein repressives Regime, auf der anderen gibt es einen minimalen Raum für feministische Arbeit. Mit ihm muss man vorsichtig umgehen. Außerdem arbeiten wir mit den Frauen und ihren Strukturen – und nicht gegen sie, nur um unsere Vorstellungen von Freiheit und Empowerment aufzuzwingen“, betont Huda Khayti. „Wir müssen unser Verständnis von Feminismus auch immer hinterfragen und an die Gegebenheiten anpassen“, ergänzt Lian Gogali. Man arbeitet mit und nicht gegen die sozialen Gefüge.
„Wir möchten nicht über die Krise definiert werden“
Gegen Ende unseres Gesprächs ist Huda Khayti eines sehr wichtig: „Ich möchte, dass du das so schreibst: Unsere Arbeit hat nicht mit der Katastrophe, Krise oder Notsituation angefangen und sie wird auch nicht mit ihnen enden. Wir möchten nicht über die Krise definiert werden. Wir arbeiten jetzt in Zeiten der Krise, weil die Zeiten so sind. Die politischen Umstände werden sich verändern, und dann werden wir weiter arbeiten, vermutlich anders. Aber so oder so: In unserer Arbeit geht es immer darum, Strukturen aufzubauen, fruchtbare Beziehungen zu säen und Orte der Vernunft und Sicherheit zu schaffen. Ich bin Revolutionärin, ich bin davon überzeugt, diese Arbeit zu leisten – unabhängig davon, ob es eine Notsituation gibt oder nicht.“