Wo bitte geht’s zum Felsendom?

Palästinensische Jugend im Nahen Osten & Berlin

01.06.2002   Lesezeit: 5 min

von Andreas Wulf

Der Tanz der Kinder um das Modell des Jerusalemer Felsendomes gehört fest zum kulturellen Erbe, das in jedem palästinensischen Flüchtlingslager im Nahen Osten weitergegeben wird. Erinnert wird an die Vertreibung und die Hoffnung richtet sich auf die Rückkehr in das zu 2/3 zu Israel gewordene Land. Das historische Palästina soll wieder auferstehen, das so nah erscheint – und doch unwiederbringlich verloren ist. Denn das alte Leben der palästinensischen Dörfer und Städte ist nicht nur durch den Krieg und die israelischen Kibbuzim gestorben, auch in der Westbank ist die globalisierte Moderne eingezogen. Den Widerspruch erleben vor allem die Kinder, wenn sie älter werden und beginnen, eine Perspektive für ihr eigenes Leben zu suchen. Dann hilft das kulturelle Erbe wenig in der täglichen Erfahrung der Desillusionierung, Diskriminierung und Ausgrenzung. Besonders im Libanon gelten sie nach wie vor als Störenfriede und ungeliebte Gäste, deren Rückkehrrecht man offiziell nur deswegen so vehement verteidigt, damit sie auf keinen Fall heimisch werden. Die Flüchtlingslager nahe den Großstädten Beirut, Tripoli und Saida gelegenen sind in den Augen der meisten Libanesen längst zu innerstädtischen Slums geworden, in denen alle Übel der Großstadt konzentriert sind: die »Fremden«, die Beschäftigungslosen, die Drogen. Die Berufsverbote für die Jugend der Lager schränken nicht nur objektiv die Möglichkeiten ein, in einem ordentlichen Beruf jemals eine Perspektive zu finden, sondern haben zusätzlich einen enorm demotivierenden Effekt. Warum sollte man sich auch für einen Schulabschluß anstrengen, wenn hinterher doch der Zugang zu Berufsausbildung und Arbeitsplatz ähnlich utopisch ist wie die Rückkehr nach Palästina? Tatsächlich entspricht die alte Formel vom »bestausgebildetsten arabischen Volk«, längst nicht mehr der Realität der heutigen Generation im Exil: in den Schulen des UN-Hilfswerkes UNRWA werden Schulabbrecherzahlen von ca. 22% registriert. Die Jungen finden sich in ungesicherten Jobs in Klein-Werkstätten und Sweat-Shops wieder oder versuchen sich als illegale Tagelöhner über Wasser zu halten. Die Mädchen werden immer noch und wieder zunehmend früh verheiratet, um ihre Existenz abzusichern und müssen allzuoft eigenen Berufspläne begraben. Solche »Karrieren« sind allgegenwärtig: Auch die jungen Film- und Photo-Leute, die im »Images and Testimonies« Projekt des medico Partners Al Jana (Arab Resource Center for Popular Arts (ARCPA)) drei Jahre lang ihre Lebenswelt recherchieren, dokumentieren und mit Ausstellungen, einem Photo-Essay-Buch und mehreren Kurzfilmen zur Kenntnis und zur Diskussion gebracht haben, sind betroffen: Bei der Premiere ihrer Filme im März 2001 war eine der aktivsten Regisseurinnen, kaum 16 Jahre, schon verheiratet worden. Ein Darsteller hatte die Schule geschmissen und war für ein paar Dollar im Monat zu den wiederbelebten Fatah-Milizen in seinem Flüchtlingslager gegangen – ohne ideologische Illusionen, aber eben für einen Spatz in der Hand statt der imaginären Taube der Karriere als Sänger. Auch die Rückkehr nach Palästina ist zu einer solchen Illusion geworden. Off-the-record ist im UNRWA-Hauptquartier in Beirut zu hören, daß die Ausbildung der Lager Jugend zu Fernmeldetechnikern PC-Fachleuten vor allem im Hinblick auf die verbesserten Chancen auf ein kanadisches oder US-amerikanisches Visum erfolgt – und so sich das palästinensische »Flüchtlingsproblem« im Libanon vielleicht doch »auflösen« ließe, wenn es schon keine nahe politische Lösung gibt. Daß solche Perspektiven der traditionellen palästinensischen Identitätsbildung entgegenstehen, liegt auf der Hand. Fragen dieser Generationen lassen sich mit dem Rückgriff auf traditionelle Werte und historische kollektive Kultur nicht beantworten. Al Jana (ARCPA) geht einen Schritt weiter als viele Projekte: das Thema Migration ist Focus ihrer Arbeit. Schon der zweite Film, der im Rahmen des »Young Journalist Projekts« entstanden ist, referiert die alltägliche Situation mit allen Aspekten der Perspektivlosigkeit im Libanon. Noch ambitionierter sind die neuen Pläne: die Tagträume der Jungen im Libanon sollen filmisch kontrastiert werden mit Erfahrungen & Realitäten palästinensischer Jugendlicher in den erträumten Ländern: in der BRD zum Beispiel. In der diese Jugendlichen zwar nicht mit den gleichen, aber mit ähnlichen Erfahrungen von Ausgrenzung zu kämpfen haben. Dort, wo der Neuköllner Verein Al-Hilweh mit der Berliner Polizei und den Jugendlichen auf moderierte Gesprächsrunden setzt, um über die gegenseitigen Bilder von den »arabischen Straßendieben und Dealern« und den sowieso rassistischen Polizisten zu reden.

Al Jana erhofft sich aus dieser Konfrontation nicht nur für und mit den Jugendlichen ein realistischeres Bild zu gewinnen, sondern es könnte gerade in dieser Loslösung der arabischen Perspektiven von der konkreten »Scholle« der Groß- und Urgroßeltern eine neue Bestimmung des »Palästinensisch-Seins« zu finden sein. Eine grenzenlose Perspektive, die nationale Borniertheiten überwindet, ohne die Geschichte zu vergessen. Die den Raum öffnen könnte für eine gemeinsame Zukunft, in der Räume und Güter tatsächlich gerecht geteilt werden könnten. Zu den Voraussetzungen solcher Öffnungen gehört eine echte Freizügigkeit, zu den phantasierten Paradiesen und ihren Realitäten zu kommen und vielleicht sogar bleiben zu können, für eine Weile oder für länger. Solche unbedingte Gastfreundlichkeit wäre ein wichtiger Beitrag, den die europäischen Staaten, und besonders das neue Deutschland, das so gerne Weltpolitik spielen möchte, zu einer friedlichen und gerechten Perspektive im Nahost-Konflikt beitragen könnten. Daran sollten sie gemessen werden.

medico international unterstützt diese Projekte. Dazu gehören auch medizinische Hilfe für die Autonomiegebiete sowie für die humanitäre Arbeit der Physicians for Human Rights, Israel. Fordern Sie Informationen an. Und helfen Sie mit Spenden unter dem Stichwort: »Palästina«


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