Zu Gast bei Unabhängigen

Wie ich Richter Goldstone erlebte. Von Jochi Weil-Goldstein.

02.12.2009   Lesezeit: 7 min

Die 575 Seiten des sogenannten Goldstone-Berichts sorgen international für Furore. Der UN-Bericht – benannt nach dem Kommissionsvorsitzenden, dem südafrikanischen Juristen und früheren Chefankläger des UN-Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, Richard Goldstone – untersuchte israelische Militärschläge im jüngsten Gaza-Krieg ebenso wie Raketenangriffe von Hamas auf israelische Wohnstätten und warf beiden Parteien Kriegsverbrechen vor. Die UN-Ermittler stützten sich dabei auch auf Berichte von medico-Partnern, den Physicians for Human Rights in Tel Aviv und der Menschenrechtsorganisation Al-Mezan in Gaza, sowie Breaking the Silence, Jerusalem. Die USA lehnten den Report als "einseitig" ab und kündigten ihr Veto bei einer etwaigen Vorlage im UN-Sicherheitsrat an.

Am 14. Oktober dieses Jahres nahm ich an einer Begegnung mit dem südafrikanischen Richter Richard Goldstone in Bern teil. Das Treffen hatte zum Ziel, den vorliegenden UN-Untersuchungsbericht zusammen mit staatlichen und nicht-staatlichen Organisationen zu diskutieren und zu bewerten. Gemeinsam mit Vertretern von im Nahen Osten tätigen Hilfsorganisationen sollte ausgelotet werden, wie die Empfehlungen des UN-Berichts unterstützt werden können. Um "freie Diskussionen" zu ermöglichen, in denen man seine Meinung ohne mögliche Folgen für die eigene Person oder das eigene Unternehmen aussprechen kann, fand das Gespräch gemäß der Chatham-House-Regel statt: man darf zwar die Inhalte des Gesprächs weitergeben, aber es ist untersagt, einzelne Aussagen den Gesprächsteilnehmern zuzuordnen.

Zu Anfang wurde die etwas schwierige Vorgeschichte dieser Untersuchung diskutiert. Denn ein erstes Mandat des UN-Menschenrechtsrats war einseitig formuliert und ein auf diesem Entwurf basierter Bericht wäre sicherlich – und zu Recht – als einseitige Anschuldigung Israels betrachtet worden. Der Untersuchungskommission wurde daraufhin das Recht eingeräumt, ein aus ihrer Sicht ausgewogenes Mandat zu formulieren, welches dann auch vom UN-Menschenrechtsrat (HRC) akzeptiert und übernommen wurde. Einige Teilnehmer betonten, dass sie zu diesem Zeitpunkt optimistisch waren, da zum ersten Mal ein ausgeglichenes Mandat aus dem HRC vorlag. Es hätte auch für Israel eine gute Gelegenheit dargestellt, seine Sichtweise und Argumente vorzubringen, und zwar – so ist das Mandat formuliert – zu den Ereignissen "vor, während, und nach" der Operation "Gegossenes Blei" in Gaza. Denn bei dem Auftrag der Kommission ging es nicht darum, zu untersuchen, ob der Krieg berechtigt gewesen sei oder nicht. Dennoch verweigerte die Regierung Netanyahu jegliche Zusammenarbeit mit der Untersuchungskommission. Einige Teilnehmer vermuteten, dass der israelischen Regierung bewusst war, dass einige ihrer Aktionen im Gazakrieg internationalen Standards nicht entsprochen hatten. Für die Kommission hatte diese Zurückweisung die Folge, dass sie nicht nach Israel reisen konnte und der Zutritt des Gazastreifens über Ägypten erfolgte.

Methode und Empfehlungen

Die Kommission versuchte, diesen Mangel an Kooperation Israels auszugleichen und die Raketenangriffe aus Gaza mit einzubeziehen. In Genf wurden unter Einbezug der Stimmen von Opfern aus Israel und der Westbank Zeugen befragt und öffentliche Anhörungen durchgeführt. Über die Anhörungen in Gaza wurde teilweise live im Fernsehsender Al Jazeera berichtet. Die Kommission führte 45 Telefoninterviews mit Opfern aus Israel durch, zweimal besuchten ihre Mitglieder den Gazastreifen. Als zusätzliche Quellen wurden Berichte palästinensischer und israelischer NGOs genutzt, etwa von "Breaking the Silence", den israelischen Physicians for Human Rights und der Menschenrechtsgruppe B'Tselem. Insgesamt wurden 188 Interviews geführt, und es existieren ca. 10.000 Seiten Dokumente.

Die so gewonnenen Fakten wurden durch andere vorliegende Berichte oder mittels von Satellitenbildern der UN geprüft. Kreuzverhöre gab es keine. Die Untersuchung begrenzte sich nicht auf Gaza. Es wurden dabei 36 Vorfälle ausgewählt, die eine große Opferzahl nach sich zogen. Die betroffenen Familien wurden besucht und die zerstörte Infrastruktur (Häuser, eine Mehlfabrik, Gewächshäuser und Hühnerfarmen) begutachtet.

Die Untersuchungskommission beendete ihre Arbeit am 25.06.09. Die Kommission versuchte daraufhin, alle drei (Konflikt)Parteien zu befragen. Israel ignorierte diesen Wunsch, die Palästinensische Autonomiebehörde in Ramallah ignorierte die Fragen über von ihr zu verantwortende Menschenrechtsverletzungen, die Hamas brachte zum Ausdruck, dass ihre Regierung in Gaza mit den Raketen nichts zu tun habe.

Der HRC nahm den ganzen Bericht an. Es gab keine Einsprüche gegen das Mandat der Kommission. Israel seinerseits legte einen eigenen 160-seitigen Bericht vor, der aber keine der Fragen der Goldstone-Kommission beinhaltete. In dem Treffen bemerkte jemand, dass beide Berichte so gewirkt hätten, als kreuzten zwei Schiffe nachts aneinander vorbei.

Die Kommission sprach zwei Empfehlungen aus. Israel solle die aufgeführten Vorfälle eigenständig, begleitet durch ein Monitoring seitens des Sicherheitsrates, untersuchen. Die Hamas solle dies ebenfalls tun, vor allem bezüglich der Raketenangriffe. Wenn dies nicht fruchte, bliebe der Internationale Strafgerichtshof ICC in Den Haag. Untersucht werden müssen die verwendete Munition sowie der weiße Phosphor, welcher große Schäden z.B. in einer Einrichtung der UNWRA und schreckliche Verletzungen verursacht habe. Zu ermitteln sind zudem die Umweltschäden durch Schwermetall-Munition, die den Boden zu vergiften drohen.

Argumente und meine Wertung

In der weiteren Diskussion wurden einige Argumente ausgetauscht, die ich hier dem Inhalt nach kurz erwähnen möchte.

Teilnehmer gaben zu bedenken, dass die Diffamierung der Kommission, insbesondere des Leiters Goldstone, bereits vor der Veröffentlichung der Ergebnisse des Berichts einsetzte. Nicht selten machten diese Angriffe den Eindruck, gut orchestriert zu sein. Dabei greife der Bericht den palästinensischen Ministerpräsident Abbas und die Palästinensische Autonomiebehörde hart an. Die Hamas habe eine Regierung in Gaza und Gerichte, die Untersuchungen durchführen könnten. Kritisiert wurden die Kontakte der Kommission zu Ministerpräsident Hanija in Gaza, die von außen her vermittelt wurden. Aber auch: Die Arbeit der NROs in Israel werde immer schwieriger, da die israelische Regierung die finanzielle Unterstützung (z.B. an "Breaking the Silence") aus dem Ausland stoppen will.

Schließlich wurde zusammengetragen, was der Goldstone-Bericht erreichen könnte. Die breite Berichterstattung in den großen israelischen Zeitungen wurde genannt, aber auch, dass der Bericht die kritische Zivilgesellschaft in Israel wie in Gaza ermutigen werde und zudem helfen könne, das Recht herzustellen. Die Runde war sich einig, dass eine einseitige Resolution im UN-Menschenrechtsrat dem Bericht die Wirkung nehmen würde. In diesem Zusammenhang wurde an das späte Gerichtsverfahren gegen Augusto Pinochet in Chile erinnert, und daran, dass die Opfer immer Gerechtigkeit verlangen. Es besteht zudem die Hoffnung, dass dieser Bericht die Art der Kriegsführung in dicht besiedeltem Gebiet positiv beeinflussen könne. Er könnte also von militärischen Ausbildungsschulen als Grundlage genommen werden.

Auch die Ausreise von verantwortlichen israelischen Politikern werde immer schwieriger, weil ihnen in verschiedenen Ländern Verhaftung drohe, z.B. in England, Belgien und Spanien, auch wenn ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag vermutlich nicht zustande komme; wäre Palästina ein Staat, könnte sich diese Situation aber rechtlich ändern.

Aufgrund meiner persönlichen Erfahrungen als nebenamtlicher Arbeitsrichter kann ich sagen, dass Richard Goldstone mit der angewendeten Methodologie der Untersuchungsmaxime, der Klärung von Sachlagen in allen Richtungen, so weit die Umstände und die Machtverhältnisse dies bei der schwierigen Ermittlung erlaubten, Rechnung getragen hat. Ich bin von der Redlichkeit dieses Mannes tief beeindruckt, der über große Erfahrungen in Untersuchungen in Südafrika, Ex-Jugoslawien, Kosovo etc. verfügt. Sein Leitsatz lautet: Friede wird ohne Gerechtigkeit nicht möglich sein.

Jochi Weil-Goldstein ist Nahostbeauftragter von medico international Schweiz.

PS: Am 5. November verabschiedete die UN-Generalversammlung den Bericht mit 114 Ja-Stimmen gegen 18 Nein-Stimmen, darunter die USA und Israel, Italien, die Niederlande und die Ukraine, aber auch die Marschall-Inseln, Palau, Mikronesien… und Deutschland. Die Schweiz stimmte für die Annahme des Berichts.

Das Recht als Fortschrittsbegriff

medico-Partner in Israel und Palästina

Flankierend zur humanitären Soforthilfe für Gaza schickte medico mit seinen Partnern Physicians for Human Rights - Israel (PHR-IL) und den Palestinian Medical Relief Society eine unabhängige ärztliche Untersuchungskommission nach Gaza. Diese bestätigte Verletzungen des Humanitären Völkerrechts während der israelischen Offensive. In einem weiteren Schritt unterstützte medico Breaking the Silence, eine Organisation israelischer Reservisten bei der Herausgabe eines Berichts, in dem Soldaten ihr Schweigen über Gaza brachen und der israelischen Öffentlichkeit schonungslos über exzessive und strukturelle Gewalt während der Angriffe berichteten. medico unterstützt zudem seinen Partner PHR-IL bei der konkreten und gleichzeitig symbolischen Arbeit, die über das Prisma Gesundheit die systematische Benachteiligung und die Verletzung der Menschenrechte von Palästinensern oder Migranten in Israel und den besetzten Gebieten offenlegt. Gleichzeitig macht medico-Partner Al Mezan, eine Gazaer Menschenrechtsorganisation, auf zunehmende Einschränkungen der Menschenrechte aufmerksam und schafft zusammen mit anderen zivilgesellschaftlichen Kräften einen Gegenpol angesichts der zunehmenden Islamisierung des öffentlichen Lebens in Gaza. Spendenstichwort: Israel / Palästina.

 


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