Der Mauerbau macht Palästinenser und Israelis zu Gefangenen
Der altersschwache und verbeulte Ford Granada von Dr. Mohamad Abushi holpert im Schritttempo über eine staubige, ungeteerte Straße. Nach einer kurzen Fahrt stoppt der Wagen. Der Weg ist aufgerissen, Erdwälle machen eine Weiterfahrt unmöglich. Der örtliche Direktor der Palestinian Medical Relief Society (PMRS) deutet auf das Bauwerk, mit dem die Region Qalqiliya internationale Aufmerksamkeit erlangen konnte. Hier am westlichen Stadtrand, unweit der »Grünen Linie« von 1967, der alten völkerrechtlich anerkannten östlichen Grenze Israels, steht sie: die Mauer. Graue, nackte, lückenlose Betonstreben verdichten sich zu einem acht Meter hohen Festungswall. Alle 500 Meter ein Beobachtungsturm mit Schießscharten und Kameras. »Die Israelis sind nicht dumm«, sagt Dr. Abushi, der Arzt und medico-Partner lächelnd: »Damals in den Achtzigern, in Zeiten der ersten Intifada, wurde ich zweimal im Lager Ansar in der Negev-Wüste gefangen gehalten. Heute bauen sie das Gefängnis um uns herum.«
Die Enklaven
Noch bevor der Bau der neuen Barrieren begonnen hatte, schätzte die UNO, dass die israelischen Einhegungen, Infrastrukturprojekte und Siedlungen 50 voneinander getrennte palästinensische Gebiete im Westjordanland geschaffen hatten.
Jedem, der an den bislang fertiggestellten oder im Bau befindlichen Teilstücken der Mauer entlangfährt, fällt sofort auf: Der Verlauf der Sperranlage wurde bewusst ohne jede Rücksicht auf das Leben der betroffenen palästinensischen Bevölkerung bestimmt. Als wäre die Westbank eine vakante Landschaft. Für die Route des Zauns mag die Topographie, die Lage der jüdischen Siedlungen, mögen taktische Erwägungen und strategische Ziele eine Rolle gespielt haben. Aber die Palästinenser? Die Barriere, so wie sie jetzt ist, trennt in der gesamten Westbank 400.000 Nicht- Israelis von ihren Einkommensquellen und sperrt sie förmlich ein.
Ohne die Möglichkeit sich zu ernähren, werden diese Palästinenser im Laufe der kommenden Jahre jedoch zum Verlassen dieser Gebietseinschlüsse gezwungen sein und an der Peripherie von Städten und Kleinstädten der Westbank nach Beschäftigung suchen.
Qalqiliya ist ein Beispiel dafür. Hier leben derzeit 120.000 Palästinenser, 15.000 von ihnen finden sich heute auf der »falschen Seite« wieder, eingeschlossen zwischen der Mauer und der »Grünen Linie«. Einige Dörfer der Region sind komplett von Stacheldraht umgeben. Felder, Arbeitsplätze, Schulen, Krankenhäuser, gar Friedhöfe, sind von einem auf den anderen Tag unerreichbar. Die versprochenen »Tore für die Landwirte« existieren nicht. Bis jetzt sind 110.000 Oliven- und andere Fruchtbäume in diesem nördlichen Teil des Zauns entwurzelt worden. 83 Quadratkilometer Land wurden enteignet – eine Fläche etwa so groß wie die Insel Sylt.
Die Region war einst der »Brotkorb« der nördlichen Westbank. Auch viele Israelis besuchten die Märkte von Qalqiliya, denn Obst und Gemüse waren frischer und billiger als im nahen Tel Aviv – vor der zweiten Intifada und vor der Mauer. Heute ist die Stadt eingeschlossen – bis auf einen einzigen israelischen Checkpoint und vier weitere Tore. Nach Angaben der Ärzte der PMRS sind mittlerweile drei Viertel der Bewohner Qalqiliyas von Lebensmittelhilfe abhängig. Die Arbeitslosenquote liegt bei 67 Prozent. Ungefähr ein Drittel der 1.800 Lehrer, die in der eingehegten Stadt leben und in der Region unterrichten, erreichen ihre Klassenzimmer nicht. Bereits 4.000 Menschen haben die Enklave verlassen. Das einstige Handelszentrum ist heute eine sterbende Stadt.
Zerstörte Urbanität
Israelische Richter forderten die Scharon-Regierung angesichts der zunehmenden internationalen Kritik wiederholt auf, den aktuellen Zaunverlauf zu »humanisieren«, sprich: näher an die Waffenstillstandslinie von 1967 zu verlegen. Der Oberste Gerichtshof in Tel Aviv gilt als Eckpfeiler des israelischen Liberalismus. Aber der richterliche Einspruch wird die langfristige Wirkung der Sperranlage auf die palästinensische, aber auch auf die israelische Gesellschaft nur graduell ändern können.
Seitdem Israel immer mehr nicht-jüdische Arbeitsimmigranten ins Land holt, werden die Palästinenser auch wirtschaftlich überflüssig. Im Zuge der Globalisierung werden sie ausgemustert, wie Millionen andere Menschen auch. Eigentlich können sie gehen. Die Mauer wirkt hier wie ein zusätzliches Mittel, auch die ökonomisch bedingte Abwanderung der Palästinenser aus Palästina zu befördern. Besonders drastisch auszumachen ist dieser Prozess in Jerusalem – und in den Nachbarstädten Ramallah und Bethlehem. Ist der im Bau befindliche »Jerusalem-Envelope«, das Teilstück der Mauer um Jerusalem herum, erst fertiggestellt, dann werden nicht nur die arabischen Stadtbezirke von Jerusalem, wie etwa Abu Dis, buchstäblich zerschnitten, sondern auch die angrenzenden Zentren Ramallah und Bethlehem von ihrem Umland getrennt. Beiden Städten wird die Möglichkeit der Ausdehnung, der Entwicklung genommen.
Der Einschluss des Denkens
Die Palästinenser werden von der sie umgebenden modernen Welt ausgesperrt. Das urbane Palästina wird zerstört. Die palästinensischen Städte verlieren ihre Identität als Plätze des materiellen und immateriellen Austausches. Der kulturelle und ideelle Freiraum der Cafés und Theater zerfällt, den Orten des öffentlichen Widerspruchs und Alltagsdissens gegen autoritären Feudalismus und religiöse Intoleranz droht der unfreiwillige Rückfall in die rückständige Provinz. Jeder Blick über die Stadtgrenze hinaus wird am Zaun enden. Der Alltag wird »gazaisiert«, das Lebensgefühl läuft Gefahr, sich der Enge im eingehegten Gaza-Streifen anzugleichen.
All diese Umstände beschreiben eine geradezu sinnlich spürbare Zerstörung. Die Verwüstungen, die mit der Errichtung der Mauer einhergehen und bewusst in Kauf genommen werden, richten sich nicht nur gegen die Menschen, sondern auch gegen ihre Umgebung. Sie verändert die Konturen der Landschaft tiefgreifend. Plötzlich erscheinen die Planierraupen am Straßenrand dabei so kriegswichtig wie Panzer, Wachtürme und Sperranlagen.
Das Bild der Leere
Aber der Mauerbau trifft nicht nur die palästinensischen Gebiete sondern auch die israelische Gesellschaft. In den israelischen Städten hat die Gewalt der Selbstmordanschläge den öffentlichen Raum längst zum gefährlichen Terrain werden lassen. Der beabsichtigte Schutz vor Attentaten bedeutet zugleich Verdrängung, Auflösung und Abschottung.
Der in Tel Aviv lebende Psychoanalytiker Dan Bar-On beschreibt daher den Einschluss der palästinensischen Gebiete auch als Ausschluss der Jüdinnen und Juden aus ihrer eigenen Lebenswelt – des Nahen Ostens. Die Mauer erinnere ihn an den Bau eines »neuen, riesigen Ghettos auch für uns, nicht nur die Palästinenser. Von hier aus kann man sich nur in eine Richtung bewegen: nach Westen zum Meer.«
Es ist ein selbstbetriebener Einschluss, der keine Sicht, kein Fenster mehr offen lässt. Es bleibt allein ein Bild der Leere von dem Dahinter. Wo früher eine Landschaft war, ist jetzt nur noch ein Betonstreifen, der dadurch auch die Palästinenser selbst aus dem Bereich des eigenen Einfühlungsvermögens tilgen soll. Damit ist es nicht mehr möglich, das Leiden des »Anderen« wahrzunehmen und für wahr zu halten. Freund oder Feind bleibt als Schema auf beiden Seiten. Auch für die palästinensische Bevölkerung soll Israel bildlich regelrecht verschwinden – hinter einer Mauer, die umso mehr zur gegenseitigen Projektionsfläche werden wird.
Ein anderes Israel und Palästina
Zivile Aktionsformen für Koexistenz und Gleichberechtigung
Unterhalb der Siedlungen, die die Hügel besetzen, ihren Trassen, Tunnel und Brücken, liegen die Straßen der Besiegten. Aber hier, in den Tälern, Olivenhainen, Dörfern und Städten der Westbank, findet sich auch das andere Israel-Palästina. Es klingt widersinnig, aber gerade der Mauerbau hat eine schon verloren geglaubte Protestkultur wiederbelebt. In zivilen Massenaktionen, durch Sitzblockaden und Demonstrationen, versuchen ganze Kommunen – Junge, Alte, Frauen und Männer – den Raub ihres Landes aufzuhalten. »Erhebt die Stimme der Vernunft – damit sie den Lärm der Kugeln und der Unterdrückung übertönt«, schrieben Dörfer nahe Ramallah in einem offenen Brief an die jüdischen Siedlungen und israelischen Wohngebiete in ihrer Umgebung. Und die Israelis kommen – nicht nur junge Anti-Mauer-Aktivisten aus Tel Aviv und Haifa schließen sich den Protesten an, selbst Bewohner jüdischer Siedlungen verfassen Eingaben an den Obersten Gerichtshof oder versuchen immer wieder zusammen mit ihren palästinensischen Nachbarn den Bau der Separationsanlage aufzuhalten.
Dass die Zukunft von Israelis und Palästinensern unauflösbar miteinander verbunden ist, erklärten unlängst in eindringlichen Worten auch namhafte israelische Bürgerrechtler wie Michael Warschavski und Moshe Zuckermann. Sie und andere Intellektuelle riefen ausdrücklich als Juden und Jüdinnen in Israel ihre jüdischen Mitbürger auf, sich der »tödlichen Falle« des Mauerbaus bewusst zu werden, an dessen Ende das »größte Ghetto in der Geschichte des jüdischen Volkes« zu stehen drohe. Auch Ruchama Marton, die Vorsitzende unseres israelischen Partners Physicians for Human Rights, unterstützt diesen Appell, der eine lebenswerte Perspektive im Nahen Osten nur in der »Koexistenz aller Menschen dieses Landes, basierend auf gegenseitiger Anerkennung und gleichberechtigter Partnerschaft« gesichert sieht.
Eine Vision, die die israelischen Ärzte im Alltag schon längst praktizieren – ganz handfest und überall dort auf der Westbank, wo sie zusammen mit Mustafa Barghouthi und den palästinensischen Notfallkomitees der PMRS ihre mobilen Gesundheitsdienste anbieten.
Dieser Text erschien im medico-Rundschreiben 3/2004 Fotos: Raúl Gallego Abellán. Karte: Health, Information, Development and Policy Institute (HDIP)