Die letzte Tote vom Juni 1993 hieß Margarita López Santos und war vor mehr als vierzig Tagen verschwunden. Am Tag ihres Verschwindens war sie für die dritte Schicht von neun Uhr abends bis fünf Uhr früh eingeteilt. Ihren Kolleginnen zufolge war sie wie immer pünktlich zur Arbeit erschienen – Margarita galt als außergewöhnlich zuverlässig und pflichtbewusst, weshalb ihr Verschwinden in die Zeit nach dem Schichtwechsel und dem Verlassen der Fabrik fallen muss. Margarita López kam also um halb sechs aus der Fabrik. Das steht fest. Dann verließ sie auf unbeleuchteten Straßen das Industriegelände. Vielleicht sah sie den Lieferwagen, der jede Nacht an einem verlassenen Rondell neben dem Parkplatz der Maquiladora-WS-Inc. Stan und Milchkaffee, kalte Getränke und Backwaren aller Art an die kommenden und gehenden, meist weiblichen Arbeiter verkaufte. Sie hatte jedoch keinen Hunger oder wusste, dass zu Hause ein Essen auf sie wartete, und ging weiter. Sie ließ den Industriepark und den immer ferneren Lichtschein der Maquiladoras hinter sich. Sie überquerte die Hauptstraße nach Nogales und nahm den Weg durch die Siedlung Guadalupe Victoria, für den sie nicht mehr als eine halbe Stunde brauchte. Dahinter würde die Siedlung San Bartolomé auftauchen, wo sie wohnte. Alles in allem ein Fußmarsch von rund fünfzig Minuten. Aber irgendwo auf dem Weg kam es zu einem Zwischenfall oder zum Äußersten, und ihrer Mutter sagte man später, es könne doch sein, dass sie mit einem Mann durchgebrannt sei. Sie ist erst sechzehn, sagte die Mutter, und ein anständige Mädchen. Vierzig Tage später fanden Kinder ihre Leiche unweit einer alten Baracke in der Siedlung Maytorena. Ihre linke Hand ruhte auf einem Büschel Guaco-Blätter. Wegen des Zustands der Toten war der Gerichtsmediziner nicht in der Lage, die genaue Todesursache festzustellen. Dafür war einer der an der Bergung der Leiche beteiligten Polizisten in der Lage das Guaco zu erkennen. Gut gegen Mückenstiche, sagte er, beugte sich und pflückte einige der lanzettförmigen, harten grünen Blätter.
Der chilenische Schriftsteller Roberto Bolano erzählt diese fiktive Geschichte von Margarita López in seinem auf Deutsch posthum in diesem Jahr erschienen Roman 2666. Gar nicht fiktiv ist die Realität, die er als Romanvorlage benutzte. In seinem Roman heißt die Stadt Santa Teresa in Wirklichkeit Ciudad Juarez, im Norden Mexikos gelegen. Auch "Stadt der toten Mädchen" genannt. Hier sind in den letzten zehn Jahren etwa 600 Mädchen und Frauen ermordet worden. Maquiladora-Arbeiterinnen, Rechtsanwältinnen, Migrantinnen auf dem Weg in die USA. Kaum einer der Fälle ist aufgeklärt worden, manche der ermordeten Frauen bleiben für immer namenlos. Ihr Tod wird als Kollateralschaden einer Globalisierung gezählt, die Menschen zwingt, sich überall und unter allen Bedingungen auf die Suche nach Lohn und Brot zu begeben. Die Namenlosigkeit der ermordeten Frauen, damit das Fehlen von Empathie und Trauer für ihr Leben und Schicksal, symbolisiert so das "gefährdete Leben", von dem die US-amerikanische Philosophin Judith Butler spricht. Das gefährdete Leben, das aus der öffentlichen Wahrnehmung ausgeschlossene Leben wie das der ermordeten Frauen in Ciudad Juarez stellt radikal die Frage danach welches Leben, uns wie viel Wert ist.
Wenn ich hier über Frauengesundheit in sozialer Ungleichheit und ihr globales Gesicht spreche, dann scheinen mir die systematischen Frauenmorde, die als Phänomen vor allen Dingen in Mittelamerika zu beobachten sind, ein unerträglich beredtes Beispiel dafür, wie Ausgrenzung, Armut, die Zerstörung sozialer Bindungen das Leben von Frauen, den weiblichen Körper an sich gefährdet. Wenn Judith Butler ein gleichermaßen "gültiges" Leben als Ausgangspunkt von Wahrnehmung und Handlung beschreibt, dann muss eine Beschäftigung mit Frauengesundheit unter den heutigen Bedingungen, diese soziale Ausgangslage mit erfassen.
Frauengesundheit ist eine soziale Frage – auch global
Gesundheit ist eben nicht in erster Linie eine Frage des biomedizinischen Fortschritts und der Entwicklung neuster Pharmaprodukte, sondern zu allererst eine soziale Frage. Die Zahlen dazu liegen auf dem Tisch. Zwei Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. 800 Millionen leiden an Unterernährung. Die UN fürchten, dass das 21. Jahrhundert als Jahrhundert des Hungers in die Geschichte eingehen wird. Ein Drittel der Weltbevölkerung hat keinen sicheren Zugang zu den unentbehrlichen Medikamenten. In diesen Zahlen spiegelt sich – man möchte hinzufügen: noch – ein Nord-Süd-Verhältnis wider. Aber auch im Norden lässt sich soziale Ungleichheit am Zugang zu qualitativen Nahrungsmitteln messen und auch der Zugang zu Gesundheitsversorgung wird hier mit der Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme und der Aufkündigung der solidarischen Absicherung für sozial Ausgegrenzte immer schwieriger. Das Nord-Süd-Gefälle wird so zu einer globalen Metapher. Privilegierte und unterprivilegierte Zonen, Zentrum und Peripherie sind mittlerweile eine charakteristische Verfasstheit für die meisten Länder.
Bislang schien dieser große Kluft im Gesundheitsstatus geographisch festgelegt. Die unterprivilegierten, arm gehaltenen Länder wiesen Negativ-Rekorde in Kinder- und Müttersterblichkeit sowie Lebenserwartung auf. In vielen entwickelten Ländern des Nordens schien zumindest der Zugang zum Gesundheitswesen einigermaßen gerecht verteilt.
Den us-amerikanischen Filmemacher Michael Moore veranlasste diese Errungenschaft eines sozialdemokratisch orientierten Wohlfahrtsstaates in seinem Film "Bowling for Colombine" zu einer Eloge auf Kanada. Bei seiner Untersuchung des Schulmassakers von Colombine beschäftigt er sich mit der Frage, warum ein Fremder auf einem Grundstück in den USA ein hohes Tötungsrisiko durch den Besitzer eingeht und in Kanada bei gleichen liberalen Waffengesetzen nicht einmal die Türen verschlossen sind. Die Antwort des Films ist recht verblüffend: Der an den Bedürfnissen aller ausgerichtete gerechte Gesundheitszugang in Kanada schafft ein Klima der sozialen Integration und Sicherheit. Die systematische Ausgrenzung des us-amerikanischen Systems hingegen, das nirgendwo so sichtbar wird wie in der unterschiedlichen Gesundheitssituation der Menschen, führt zu einer Gesellschaft voller Angst und Misstrauen. Und zu einer extremen Zunahme von Gewalt. Dazu gehört auch die eingangs beschriebene Gewalt gegen Frauen.
Armut macht krank und Krankheit macht arm – dieser Satz gilt längst weltweit. Die Welt teilt sich so nicht mehr ein in reichen Norden und armen Süden, sondern in Gewinner und Verlier. Die systematische Ausgrenzung der "Verlierer", ihr Ausschluss vom sozialen Sein ist in Leben oder in Lebensjahren zu messen. Nur an ihrer Situation lässt sich letztlich messen, wie sich die Gesundheitssituation der Menschen in der Welt darstellt. Die Kommerzialisierung der Gesundheit als weltweite Tendenz ist dabei das Menetekel, das das höchst Gut des Menschen, das Leben selbst, zur Ware macht.
Brain Drain von Gesundheitsarbeiterinnen aus dem Süden
Was bedeutet das für die Frauengesundheit in sozialer Ungleichheit? Zunehmende Gewalt und gerade für Frauen zunehmende informelle Beschäftigungsverhältnisse und zunehmende Migration im Land oder in andere Länder auf der Suche nach Arbeit. Dabei ist das Gesundheitswesen in den privilegierten Regionen traditionell ein Bereich, der immer wieder Gesundheitsarbeiterinnen aus aller Welt anwirbt und vorhandenen Fachkräftemangel auf diese Weise ausgleicht.
Umverteilung von Arm nach Reich, von Süd nach Nord
Der Brain-Drain von Gesundheitsarbeiterinnen ist ein Phänomen des sich globalisierenden Arbeitsmarktes und der sich verschlechternden Arbeitsbedingungen in den Gesundheitssystemen der Entwicklungsländer. Ähnlich wie in anderen Bereichen der sozialen Ungleichheit erleben wir auch hier eine Umverteilung von Arm nach Reich. In den Entwicklungsländern und Schwellenländern ausgebildete Gesundheitsarbeiterinnen wandern in den reichen Norden ab. Damit nicht nur ausgebildetes Personal, sondern auch die Ressourcen, die in ihre Ausbildung geflossen sind. 1990 betrug die Zahl der in Großbritannien registrierten Krankenschwestern, die im Ausland ausgebildet wurden, 10 Prozent. 2001 waren es mehr als die Hälfte. Die Gründe: Ein wachsender Bedarf in den entwickelten Ländern durch eine älter werdende Bevölkerung, eine aktive Anwerbe-Politik der entwickelten Länder in den Entwicklungsländern, zum Teil betrieben von kommerziellen Anbietern. Die USA sind dafür bekannt, Gesundheitspersonal weltweit offensiv zu werben. 2010 werden die USA eine Million mehr Krankenschwestern brauchen.
Es gibt ja schließlich auch genug Gründe auszuwandern. Die Arbeits- und Einkommensbedingungen sind im Norden wesentlich besser. (Die Gesundheitsarbeiterinnen gehören zu den "privilegierten" Migrantinnen, weil sie zumindest in den Gesundheitssystemen in formellen Beschäftigungsverhältnissen tätig sind.) Während die öffentlichen Gesundheitssysteme der armen Länder seit den 1980er Jahren durch die Strukturanpassungsmaßnahmen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds systematisch ausgehöhlt wurden.
Das Drama dahinter erläutert der alternative Weltgesundheitsbericht Global Health Watch: "Die Abwanderung von Gesundheitspersonal kann eine Abwärtsspirale in der Qualität der Gesundheitsversorgung auslösen, die ganz schwer umzukehren ist. Der Verlust von institutionellem Wissen, über das erfahrenes Personal verfügt, kann nicht einfach durch jüngere ersetzt werden. Je mehr Personal abwandert, umso größer wird der Arbeitsstress für die verbliebenen, ein Grund mehr selbst zu gehen. Die Migration selbst einer kleinen Gruppe von erfahrenem und ausgebildeten Personal kann dramatische Auswirkungen auf die unterfinanzierten Gesundheitssysteme haben." (Global Health Watch, 2005 – 2006).
Vom öffentlichen ins private System
Neben der Abwanderung von erfahrenem Gesundheitspersonal in den Norden, gibt es eine weitere Abwanderung vom öffentlichen Gesundheitswesen in das Private, vom Land in die Stadt. Je ärmer und marginalisierter die Region und die Menschen, umso schlechter versorgt sind sie mit gut ausgebildetem Personal. Je höher der Bedarf nach guter Versorgung umso geringer ist sie tatsächlich vorhanden. Ausgelöst wird dieses Phänomen durch die Privatisierung des Gesundheitswesens selbst in den ärmsten Regionen der Welt. Im Irak und in Afghanistan war die Privatisierung des Gesundheitswesens eine der Hauptmaßnahmen nach den Militärinterventionen. Privatisierung findet auch durch Hilfe statt. So haben die gut finanzierten AIDS-Programme zu einer völligen Verschiebung im Gesundheitswesen insbesondere in Afrika geführt. Hierhin ist Gesundheitspersonal abgewandert auf Kosten anderer ebenso wichtiger Gesundheitsprogramme.
Die Auswirkungen auf die Frauengesundheit lassen sich statistisch nachweisen. Die Müttersterblichkeit, die sicherlich auch noch viele andere Ursachen hat, wächst mit abnehmender Anwesenheit von Gesundheitsarbeiterinnen.
Frauengesundheit und die Millenium-Entwicklungsziele
Dies ist insofern interessant, da die Verminderung der Müttersterblichkeitsrate zu den zentralen Milleniumsentwicklungszielen (MDG) gehört, die die UNO im Jahr 2000 beschlossen haben. Bis 2015 soll sie um zwei Drittel gesenkt werden, sowie der Hunger halbiert. Zwei von acht MDGs, die beide – das ist jetzt schon klar – erheblich verfehlt werden. Nun kann frau sagen, dass die MDGs zu Recht von Gesundheitsfachleuten erheblich kritisiert werden. Nichtsdestotrotz deutet ihr angekündigtes Scheitern auf die globale Armuts- und Gesundheitskrise hin, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird.
Wider technokratische Lösungen
Die Kritik der Gesundheitsorganisationen an den MDGs lautet kurz gefasst. Es ist kein integrierter Ansatz, sondern die acht Ziele laufen unverbunden nebeneinander her. Es gibt keine Mechanismen der Partizipation und Mitbestimmung durch die betroffenen Länder und Zivilgesellschaften. Es sind im Gesundheitsbereich Programme mit einem Top-Down-Ansatz. Aktuell ist das besonders in Ländern wie Kenia oder Tansania zu sehen, in denen bis zu 20 verschiedene Gesundheitsprogramme mit internationaler Finanzierung (wie die großen Global Public Private Partnerships for Health wie "Roll back Malaria", "Stop TB", die "Global Alliance for Vaccines and Immunisation") parallel durchgeführt werden (WEMOS, 2004). Vielleicht noch problematischer ist, dass die Schwerpunkte dabei in aller Regel von außen verordnet werden. Das läuft der Entwicklung einer Kultur des Beteiligtseins, des Mitbestimmens, der "Ownership" der Gesundheitsfachkräfte sowie der aktuellen und zukünftigen Patienten – also aller vor Ort relevanten Beteiligten – diametral entgegen.
Rückkehr zu Alma-Ata
Die Milleniums-Entwicklungsziele haben solche ambitionierten Überlegungen wie die in Alma-Ata 1978 beschlossene Strategie der "Gesundheit für alle bis zum Jahr 2000" abgelöst. Letztere hat in ihrem gesamten Denken und Programmen viel mehr die Politik der Beseitigung von sozialer Ungleichheit in den Mittelpunkt gerückt, statt einzelner Krankheitsthemen, die durch schnell durchzuführende Impfkampagnen in den Griff zu kriegen sind. In der WHO stellt sich nun mit der Finanzkrise die Frage nach einem anderen Denken in der Gesundheit neu. Und eine Rückbesinnung auf die Grundsätze von Alma-Ata und die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit als einer der Hauptfaktoren für schlechte Gesundheit rückt wieder in den Mittelpunkt. Einer der Indikatoren für diesen Schwenk ist der 2008 verabschiedete Bericht zu den Sozialen Determinanten von Gesundheit, der in jeder Hinsicht lesenswert ist, weil er sich von dem kurativ-medizinischen, auf Individualversorgung und Selbstverantwortung ausgerichteten Ansatz verabschiedet. (mehr dazu im medico-Rundschreiben 3/2009)
Warum die Rückbesinnung auf Alma-Ata eine entscheidende Frage für die Frauengesundheit ist: Gewalt gegen Frauen
Frauengesundheit wird gern auf die reproduktive Gesundheit von Frauen reduziert. MDG 5 ist dafür das beste Beispiel. Zwar ist das Verständnis von reproduktiver Gesundheit längst um die sexuelle Selbstbestimmung und Wahlfreiheit erweitert worden. Aber vielleicht wird an der desolaten Situation, in der wir uns heute befinden, deutlich, wie schwach der MDG-Ansatz ist. Denn die rasant zunehmende Gewalt gegen Frauen, die zunehmende Beschneidung von Wahlfreiheit in Fragen von Schwangerschaft sind Indikatoren für eine tiefe Krise der Frauengesundheit weltweit.
Es gibt in diesem Bereich Lieblings-Themen in der Öffentlichkeit. Insbesondere der Islam nicht nur der islamische Fundamentalismus und seine frauenfeindlichen Aspekte werden gern lauthals diskutiert. Wenn man sich die Situation der Frauen in der Welt anschaut, die mit dem Thema Gewalt, sexueller Missbrauch, Mord konfrontiert sind, wird man schnell feststellen, dass diese Phänomene keinen in erster Linie religiösen Hintergrund haben. Im gar nicht islamischen Lateinamerika sind in den letzten Jahren nicht nur die Möglichkeiten für Abort in einigen Ländern erheblich eingeschränkt worden. Darunter in Nicaragua und Chile, wo auch der therapeutische Abort verboten wurde. In Mexiko haben Frauen zwar in der Hauptstadt durchsetzen können, dass Abort bis zu drei Monaten in öffentlichen Krankenhäusern durchgeführt werden darf. Die konservative neoliberale Regierung aber überlegt bundesweite Gesetze, um Landesgesetze aufzuheben und ähnliche restriktive und gesundheitsgefährdende Regeln zu erlassen wie in Nicaragua und Chile. Dieselbe Regierung hat vor wenigen Monaten einen der infamsten Staatsanwälte in Sachen Gewalt gegen Frauen zum Generalbundesanwalt ernannt. Herr Chavez Chavez war nämlich bis dato Staatsanwalt in Ciudad Juarez und hat in aufsehen erregenden Erklärungen die Opfer für ihren Tod verantwortlich gemacht. Die Straflosigkeit bei Frauenmorden hat nicht nur in Mexiko System. Auch in Guatemala werden jährlich 600 Frauen umgebracht, ohne dass eine nennenswerte Zahl von Tätern verurteilt worden wäre. Nach Umfragen haben 70 Prozent der Frauen in Lateinamerika Erfahrungen von häuslicher Gewalt, 30 Prozent haben ihren ersten sexuellen Kontakt gegen ihren Willen gehabt.
Diese tödliche Gewalt gegen Frauen wird in Lateinamerika auch als "Feminizid" bezeichnet. Es gibt darauf keine einfachen Antworten. Ich würde aber die These wagen, dass der Nährboden des Machismo nur eine von vielen Ursachen ist. Die Zerstörung der sozialen Strukturen, die der Neoliberalismus hinterlassen hat, die Auflösung sozialer Beziehungen, die brutalen Überlebensverhältnisse in der Ausgrenzung gehören als Ursachenbeschreibung genauso mit dazu wie die Straflosigkeit. Sie betrachtet Gewalt gegen Frauen als Kavaliersdelikt, genauso wie die Tötung von indigener Bevölkerung (in Guatemala waren es 200.000 Morde), ebenso wie Korruption und Wirtschaftskriminalität. Mit einem Wort: Sie ist Ausdruck eines staatlichen Zerfalls, der nicht nur in Afrika, sondern auch in Ländern wie Mexiko, Guatemala oder vielleicht auch Italien zu beobachten ist. Mit direkten Auswirkungen auf die Frauen.
Die equitäre Strategie von Alma Ata, das Denken in Kategorien von "bestmögliche Gesundheit für alle gleichermaßen", ein gesellschaftlicher Umbau, der sozial ausgeglichenere Verhältnisse ermöglicht – das wären die Prioritäten einer Gesundheitspolitik, die ihren Namen zum Schutz der Schwächsten wirklich verdiente. Das brächte auch mehr Schutz für Frauen.
Möglichkeiten alternativen Handelns
Im Jahr 2000 hat nicht nur die UNO ihre Millenium-Entwicklungsziele verkündet. Im Jahr 2000 hat sich auch die globale alternative Gesundheitsbewegung neu formiert. Die Gründung des People's Health Movement, das Basis-Gesundheitsinitiativen aus aller Welt vereinigt und die Verabschiedung der "People's Health Charta", die Gesundheitspolitik wieder in die Sozialpolitik zurückholt und Zugang zu Gesundheit als Menschenrecht einfordert, waren ein Zeichen, dass die Traditionen alternativen Gesundheitsdenkens lange nicht tot sind.
Im Gegenteil sie sind quicklebendig und höchst erfolgreich. Ein Beispiel aus Bangladesh:
Die wesentlich von Frauen getragene Gesundheitsorganisation Gonoshasthaya Kendra (GK) entstand im Rahmen des Unabhängigkeitskrieges von Bangladesh in den 1970er Jahren. Einer der Gründungsväter ist der Arzt Zafrullah Chowdhury, der sehr schnell verstanden hat, dass man mit einem kurativen Verständnis die Gesundheitskatastrophe in Bangladesh, die extreme Unterversorgung der ländlichen Gemeinden und die schwierigen geographischen Bedingungen nicht bewältigen kann. Ausgehend von den Überlegungen von Alma Ata entstand bei GK ein Netz vorwiegend aus weiblichen Gesundheitspromotorinnen, die die Basisgesundheit von etwa einer Million Menschen in Bangladesh sichert. Mit erstaunlichen Ergebnissen. Laut einer Studie der Weltbank hat GK in den Gemeinden, in denen sie arbeit, die Gesundheits-MDGs bereits erreicht.
Ein Beispiel die Müttersterblichkeit. Mutter-Kind-Programme gehören seit Gründung der Organisation zur grundlegenden Arbeit. In einer eigenen Schule, die direkt neben der eigenen Universität gelegen ist, bildet GK Frauen aus den entlegensten Regionen Bangladeshs zu Gesundheitsarbeiterinnen (Promotorinnen) aus.
Die Frauen leben während der Ausbildung in Unterkünften der Schule und kehren anschließend in ihre Heimatregionen zurück. Dort betreiben sie ausgehend von den lokalen Gesundheitszentren GKs eine aufsuchende Gesundheitsbetreuung. Hier im Detail die Mutter-Kind-Programme, sie sind aber Teil eines Gesamtprogramms von Basisgesundheitsversorgung.
Das GK-Mutter-Kind-Programm besteht aus:
- regelmäßige, aufsuchende Schwangerschaftsbetreuung, Früherkennung von Risikogeburten, gezielte Präventionsaktivitäten (Tetanusimpfung der Mütter, Behandlung von Vaginalinfektionen, Verhinderung von Blutarmut, Beratung zu Ernährung, und Geburtsvorbereitung)
- Begleitung von Geburt und Wochenbett durch ausgebildete Professionelle, Paramedics und/oder traditionelle Hebammen – Organisation stationärer Geburt im vorhersehbaren Risikofall und Notfalleinweisungen bei unvorhergesehenen und nicht lösbaren Problemen in der Hausgeburt – Krankenversicherungsmodell zur Finanzierung der Kosten
- Nachverfolgung von mütterlichen und kindlichen Todesfällen bei der Geburt und Diskussion mit den beteiligten Familienmitgliedern über mögliche Ursachen des Todes und wie sie hätten vermieden werden können
- Fortsetzung der Betreuung der Kinder und Mütter, Impfungen, Angebote der reproduktiven Gesundheit incl. Familienplanung.
Und das sind die Ergebnisse dieser Arbeit im Vergleich mit entsprechenden Regierungsprogrammen (in Klammern):
- 100 % (47%) der schwangeren Frauen nehmen am Vorsorgeprogramm teil, 66% (21%) werden 3 mal oder öfter besucht
- 97% (87%) wurden in der letzten Schwangerschaft gegen Tetanus geimpft
- 87% (24%) der Geburten werden von Professionellen (Paramedics, traditionellen Hebammen, ÄrztInnen) betreut.
Die Mutter-Kind-Programme von GK haben so nach ca. 10 Jahren Arbeit sowohl die MDG-Ziele für Mütter- wie für Kindersterblichkeit erreicht.
Worin besteht das Erfolgsmodell von GK. GK setzt auf Partizipation. Die Gemeinden, in denen die Programme stattfinden, sind bei der Entwicklung und Ausführung beteiligt. Die Promotorinnen werden geschult in der Einbeziehung der lokalen Strukturen in die Arbeit. Hauptsächlich Frauen sind die Akteurinnen der Programme, ihre Bildung und Weiterbildung, ihre Anbindung an GK und ihre Wertschätzung macht den Erfolg der Arbeit aus. GK mystifiziert nicht die Medizin, stellt nicht den Arzt als zentrale Autorität in den Mittelpunkt von Gesundheit, sondern vertritt die Philosophie (lange vor Obama) "Yes, we can" – wir können das selbst. Und GK und seine MitarbeiterInnen haben nie aufgehört, politisch zu intervenieren. Von den lokalen Organen bis zur nationalen Regierung und der internationalen Arbeit. Das Menschenrecht auf bestmögliche Gesundheit ist Mittelpunkt der politischen Arbeit von GK. Deshalb gehört die Organisation auch zu den wichtigsten Gründungsorganisationen des People's Health Movement. Es ist in jeder Hinsicht ein anderes politisches und menschenrechtlich ausgerichtetes Gesundheitsverständnis, das diese Arbeit so erfolgreich macht. Und nur mit einem solchen integrativen und höchst politischen Ansatz ist eine andere Gesundheit für Frauen denkbar.
Projektstichwort
Medico international unterstützt diese Arbeit von Gonoshasthaya Kendra seit vielen Jahren. Gemeinsam sind wir im People's Health Movement aktiv und versuchen einem anderen menschenrechtlichen Gesundheitsverständnis Gehör und finanzielle Mittel zu verschaffen. Spenden werden erbeten unter dem Stichwort Bangladesch.