Haben Sie das auch schon erlebt? Sie besuchen eine Diskussionsveranstaltung und sollen am Ende auf einem Zettel ankreuzen, wie Ihnen die Veranstaltung gefallen hat. Im Supermarkt darf man dem Leiter auf Vordrucken seine Meinung über den Service mitteilen. Und in Flughäfen in den USA fragt der Airport Security: How was your security experience today?
Solcherlei Befragungen sind häufig standardisierter Teil von Qualitätskontrolle. Zentral sind die Messbarkeit und die Standardisierung. Nach allem wird gefragt, nur Grundsätzliches wird nicht in Frage gestellt, etwa, ob der Sicherheitscheck tatsächlich der Sicherheit dient, und wenn ja wessen und welcher?
Kritik der Vermessung des Sozialen
Auf der Konferenz „Beyond Aid“, die medico 2014 mit Partnern veranstaltete, wurde diese Form des Qualitätsmanagements, die Vermessung des Sozialen, immer wieder als Form der Verbetriebswirtschaftlichung von Hilfe kritisiert. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit gibt es eine Konjunktur von Qualitätsmanagement und Wirkungsbeobachtung. Dabei basieren quantitative Monitoring- und Evaluationsmodelle darauf, den Erfolg von Hilfe in vermeintlich klare Kennziffern gerinnen zu lassen: in Tonnen gelieferter Nahrung, die Anzahl von Notunterkünften und geretteten Menschenleben, in Aufwand-Ertrags-Quotienten.
Prozesse, Effekte und Nachhaltigkeiten lassen sich so nicht abbilden. Genau darum geht es aber in dem Ansatz von medico: um Formen von Ermächtigung, um Prozesse der Strukturbildung, um die Dauerhaftigkeit von Veränderung, um Erfahrungen von Solidarität – um Qualitäten statt um Quantitäten.
Neue Formen finden
Daher stellt sich die Frage, wie man einer Verbetriebswirtschaftlichung sozialer Prozesse entkommen und trotzdem Formen finden kann, die eigene Arbeit zu reflektieren, Wirkungen zu beobachten und Lektionen zu lernen? Wie lassen sich auch Fehler und Schwächen offen benennen? Wie kann man Spenderinnen und Spender darüber informieren – zumal in einem heiß umkämpften Spendenmarkt, in dem auf den ersten Blick Handlungsfähigkeit und Erfolge zählen? Und wie begleitet man Projektarbeit durch Monitoring und Evaluation in einem finanziell vertretbaren Maß, in dem die Wirkungsbeobachtung nicht teurer ist als die Förderung der Partner?
Planung, Monitoring und Evaluierung
medico hat in den vergangenen Jahren verstärkt an der Entwicklung eines angepassten Konzepts für „PME“, also Planung, Monitoring und Evaluierung, gearbeitet. Von Anfang an haben die Debatten die genannten Fragen berücksichtigt. Aber nur der Prozess selbst kann Antworten geben. Das Konzept liefert Kriterien, welche Projekte, Maßnahmen oder Regionen in welcher Form evaluiert werden. Auch zuvor war dies Alltagsarbeit der Koordinatorinnen und Koordinatoren, Gegenstand von Abteilungssitzungen und Arbeitsgruppen oder im Rahmen des hausinternen Planungsprozesses.
Nun aber ist es auch systematisch beschrieben und organisiert. Im Rahmen dieses Konzeptes wurde 2014 das gesamte Haiti-Programm, das medico seit 2010 mit lokalen Partnerinnen und Partnern durchgeführt hat, evaluiert. Durch das Bündnis Entwicklung Hilft und eigene Spendeneinnahmen hatte medico nach dem verheerenden Erdbeben über vier Millionen Euro zur Verfügung. Über 40 Projekte, ein Büro in Haiti und eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit wurden damit finanziert.
Ein Lernprozess im Hinblick auf zukünftige Maßnahmen
Beauftragt mit der Untersuchung wurde eine erfahrene Evaluatorin, deren Schwerpunkt auf Konflikttransformation und Organisationsentwicklung liegt und die Haiti gut kennt. Der Arbeitsauftrag bestand darin, „sowohl intern als auch gemeinsam mit den haitianischen Partnern aus den Erfahrungen für die Zukunft zu lernen“. Dabei sollten die Auswahl der Partner, Projekte und Aktivitäten reflektiert werden, aber auch der „Gesamtprozess des Umgangs medicos mit einer Großkatastrophe und umfangreichen Katastrophenspenden in einem Land, welches für medico zum Zeitpunkt der Katastrophe noch neu war“.
Auch für die Evaluatorin war das ein ungewöhnlicher Auftrag, ging es doch weniger darum zu überprüfen, ob definierte Projektziele erreicht wurden. Vielmehr sollte ein Lernprozess im Hinblick auf zukünftige Maßnahmen, Arbeitsprozesse und Herangehensweisen angestoßen werden.
Einen politischen Diskurs entwickeln
Die medico-Arbeit in Haiti hatte und hat Ziele. Diese sind aber nur bedingt messbar. Es ging medico darum, zu Haiti einen politischen Diskurs zu entwickeln, der sich den verbreiteten Bildern von Haiti als dem Armenhaus der Karibik, dem „gescheiterten Staat“ und dem Land der wiederkehrenden Katastrophen entgegenstellt. Dabei sollte die soziale und politische Katastrophe im historischen Kontext begriffen werden – gegen einen verbreiteten öffentlichen Diskurs, der die Probleme als selbstverschuldetes Elend darstellt.
Außerdem wollte man auch unter den extremen Bedingungen eines Erdbebens eine andere Praxis einer entwicklungsorientierten und partnerschaftlichen Hilfe möglich machen. Schließlich sollte die Arbeit den partnerschaftlichen Dialog mit lokalen Organisationen auch mit Hilfe der Stärkung einer weiteren Süd-Süd-Vernetzung fördern.
Die Partner wurden nicht geschwächt
Die Evaluatorin kam zu dem Ergebnis, dass es medico gelungen ist, die Partner nicht zu schwächen. Das klingt nach wenig. Tatsächlich ist in solchen Großkatastrophen immer wieder zu beobachten, dass lokale Partner durch die internationale Hilfe eher geschwächt werden. Einige Partner stellten denn auch eher überrascht fest, dass medico anders als andere Organisationen „wirklich daran interessiert war zu erfahren, wie es uns ging und was wir brauchten“.
Ein Ergebnis ist auch, dass es einigen Partnern gelungen ist, mit medicos Hilfe Gesundheitsstationen und Zentren aufzubauen – deren Zukunft angesichts aufgebrauchter Mittel aber ungewiss ist. Manches für die Selbstorganisation der Partner bedeutsame Gebäude könnte in einigen Jahren also nicht mehr so genutzt werden.
Partner wie die Menschenrechtsorganisation RNDDH oder das Forschungszentrum CRESFED konnten laut Evaluation nachhaltiger unterstützt werden. Auch andere Projekte, darunter die aus Spendengeldern finanzierten Süd-Süd-Projekte sind positive Beispiele für eine Stärkung der haitianischen Zivilgesellschaft, die auf Hilfe von außen letztlich nicht hoffen kann. Die Frage aber, wie eine Projektarbeit aussehen kann, wenn klar ist, dass die Hilfe in Kontexten wie Haiti begrenzt ist, bleibt offen.
Haitianische Erschütterungen
Auch die Öffentlichkeitsarbeit zu Haiti wurde beleuchtet. Das Ergebnis: medico sei es gelungen, einen anderen Diskurs zu Haiti einzuführen und durchzuhalten, ein Diskurs, der die historische und politische Dimension der haitianischen Probleme deutlich macht. Dies wurde auch bei der Vorführung des von medico produzierten Films „Haitianische Erschütterungen“, in der die Partner selbst Bilanz der Hilfe ziehen, von allen anwesenden haitianischen Kolleginnen und Kollegen sehr positiv wahrgenommen.
Gleichwohl wirft die Evaluatorin die Frage auf, warum nicht auch die Probleme der Hilfe deutlicher benannt worden sind. In einem Editorial zu einem Rundbrief werde an die Leser appelliert, die Projekte in Haiti weiter zu unterstützen, auch angesichts von Schwierigkeiten. „Diese werden aber nicht weiter ausgeführt. Hält man die Leserinnen und Leser nicht für mündig genug, sich auch damit auseinanderzusetzen?“ Die Evaluatorin schneidet damit das Problem an, dass sich die medico-Öffentlichkeitsarbeit in dem nicht aufzulösenden Widerspruch zwischen Marketing und Aufklärung bewegt.
Haiti war für medico ein Einschnitt
Innerhalb medicos wird die Debatte über die Evaluation in einer kleinen Gruppe fortgesetzt. Gelernt hat die Organisation aber schon heute. Absprachen zwischen Projekt- und Öffentlichkeitsarbeit funktionieren besser. Es wurden weitere Nothilfekoordinatoren eingestellt. Im Nothilfefall bilden sich adhoc-Teams, die sehr eng Projekt- und Öffentlichkeitsmaßnahmen absprechen.
Für die politische Entwicklung von medico war Haiti ein Einschnitt. Denn die extreme historische, politische und ökonomische Marginalisierung des Landes hat die Grenzen von Hilfe auf dramatische Weise deutlich gemacht.
Konferenz und Film
Die Konferenz „Beyond Aid – Jenseits der Hilfe“ hat sich diese haitianische Erfahrung zu eigen gemacht. Sie hat die Notwendigkeit von strukturellen Veränderungen und das Schaffen einer transnationalen Öffentlichkeit auch als Aufgabe für eine politische Hilfe beschrieben. Dazu gehört, die Haitianerinnen und Haitianer selbst sprechen zu lassen und ihnen Sichtbarkeit zu verleihen. Mit dem Film „Haitianische Erschütterungen“ hat medico einen solchen Versuch unternommen.