Syrien

Beginn der Geschichte

09.12.2024   Lesezeit: 4 min  
#menschenrechte 

Die Syrer:innen haben sich von der Assad-Diktatur befreit, die Ewigkeit ist zu Ende.

In ganz Syrien fallen die Statuen von Hafiz und Baschar al-Assad, Plakate werden heruntergerissen, ihre Bilder verbrannt – in Aleppo, Damaskus und Qamislo. Die Konterfeis der Assads sollten von der Ewigkeit ihrer Herrschaft künden. Nun jubeln die Menschen im ganzen Land über ihr Ende. Das multiethnische und multireligiöse Syrien ist auf den Straßen und auf dem Weg in die Gefängnisse und Folterstätten, um nach verschollenen Angehörigen zu suchen; in die Städte und Dörfer, aus denen die Menschen über ein Jahrzehnt verbannt waren; auf die zurückeroberten Plätze eines anderen, eines freien Syriens.

Der Sturz des Regimes trägt die Erinnerung an die Aufstände des Jahres 2011 in die Gegenwart. Von Beginn an haben wir Basiskomitees der Revolution unterstützt, in denen der Grundstein eines demokratischen Syriens gelegt werden sollte. Heute stehen wir in engem Austausch mit denen, die weitergemacht haben: mit dem Frauenzentrum in Idlib, dessen Leiterin Huda Khayti sich von Idlib aus, wohin sie vor Jahren fliehen musste, auf den Weg nach Damaskus gemacht hat. In ihre Freude mischt sich der Schmerz des Andenkens all derer, die das Ende des mörderischen Regimes nicht erleben können. Hudas Bruder wurde vor Jahren getötet, die Dimension der Gewalt in den Foltergefängnissen zeigt sich auf den Gesichtern der Menschen, die aus den Geheim- und Foltergefängnissen befreit werden.

Seit Jahren begleiten wir das MENA Prison Forum, zu dem sich Aktivist:innen aus der Region zusammengeschlossen haben, um die Auseinandersetzung mit den Unterdrückungs- und Gefängnissystemen voranzutreiben. Seit Jahren unterstützen wir auch das Syrian Center for Legal Studies and Research um Anwar al-Bunni bei dem Versuch, die Täter des Assad-Regimes vor europäischen Gerichten verurteilen zu lassen. Ihre Arbeit wird jetzt erst recht wichtig für die Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur, für die es keine Straflosigkeit gegen darf. Ein medico-Partner in Nordsyrien sagt: „Mit Sicherheit wird es viele Hindernisse geben, aber das größte Hindernis, Assad selbst, ist beseitigt. Der erste Schritt auf dem Weg zu einem zivilen, demokratischen Syrien liegt hinter uns – es sind aber noch viele Schritte nötig.“

Angriff auf Rojava

Mit Sorge verfolgen wir die Entwicklung in den kurdischen Gebieten. Seit Beginn des „demokratischen Projektes“ Rojava im Jahr 2012 begleitet medico die Entwicklung der Selbstverwaltung in der Region. Heute ist sie einmal mehr extrem bedroht. Die türkische Regierung nutzt die Gunst der Stunde und hat ihre Söldner in den Kampf gegen die Kurden geschickt, zur Stunde wird Manbij, die westlichste Stadt Rojavas angegriffen. Über Hunderttausend Menschen wurden erneut vertrieben und flohen Richtung Osten. Hier werden sie versorgt von unserer Partnerorganisation, dem Kurdischen Roten Halbmond. Seit Jahren betreut der Halbmond Flüchtlinge in der Region, immer auch mit medico-Hilfe. Nun sind die Nothelfer:innen einmal mehr auf die Probe gestellt.  

In Deutschland haben Hunderttausende Syrer:innen eine Zuflucht gefunden. Ihr Marsch ins Zentrum Europas im Sommer 2015 verbindet die syrische mit der europäischen Geschichte. Beschämend sind Äußerungen Mancher, die nur einen Tag nach der Flucht Assads die Ausreise der hier Schutzsuchenden ins Spiel bringen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die Entscheidung über Asylanträge für Syrer:innen bereits ausgesetzt. Anstatt sich angesichts der Bilder aus den syrischen Gefängnissen zu entschuldigen für vergangene Abschiebe-Forderungen, wird die eigene Menschenverachtung nur weiter zur Schau getragen.

Internationale Unterstützung

Der Aufbau demokratischer Institutionen in Syrien und der Wiederaufbau des Landes braucht keine Abschiebedebatten, sondern internationale Solidarität – auch für die Diaspora. Die Syrer:innen selbst haben sich aus 50 Jahren Diktatur befreit, dreizehn Jahre lang hat der Umsturz gedauert, jetzt braucht es Zeit und Unterstützung für den Neuanfang. Es gibt hoffnungsvolle, wiewohl fragile Ansätze konfessionsübergreifender Versöhnung und Anerkennung der multiethnischen Realität Syriens. Hier müssen, hier können wir anknüpfen.

Der syrische Philosoph Yassin al-Haj Saleh, der selbst über ein Jahrzehnt in Assads Gefängnissen verbrachte, und der regelmäßig im medico-Rundschreiben publiziert, schrieb am Sonntag auf X: „Die Ewigkeit ist zu Ende und die Geschichte wird beginnen. (…) Wir werden viele Jahre lang die ganze Anstrengung des Geistes, des Gewissens und der kreativen Energie brauchen, damit Syrien auf die Beine kommt. Der Erfolg dieser Herausforderung hängt von der Beteiligung aller Syrer ab.“ Möge die Geschichte einmal gut ausgehen.


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