Coronakrise

Ballhausschwur des 21. Jahrhunderts

22.04.2020   Lesezeit: 11 min

Wenn mit der Krise als Argument erneut die Menschenrechte hintangestellt werden – was setzen wir dem entgegen?

Von Thomas Rudhof-Seibert

Egal, ob er sich zu den apokalyptischen Verhältnissen auf Lesbos oder zur Frage der Schulden äußert, mit denen Weltbank und IWF die Staaten des globalen Südens dem Kapital gefügig machen, Minister Müller ist der Berliner Politiker, dem man spontan zustimmen kann. Damit steht der Leiter des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit nahezu einzig dar, und das sogar parteiübergreifend. Das gilt auch für eines, wenn nicht das Kernproblem heutiger globaler Politik, das der weltumspannenden Herstellungs- und Lieferketten.

Zu Besuch in Südasien, dem Subkontinent, von dem wir alle unsere Jeans und T-Shirts beziehen, sagt der Minister, dass unsere enger werdenden Beziehungen im Süden „nicht zu weniger Menschenrechten“ führen dürfen. Konsequenterweise lässt er deshalb keinen Zweifel mehr daran, dass die Zeit „freiwilliger Selbstverpflichtungen“ von Weltmarktunternehmen abgelaufen ist, und dass es deshalb um die strafbewehrte Zwangsverpflichtung der Wirtschaft aufs Menschenrecht gehen müsse.

Unter den Bedingungen von Corona

Hier aber endet das Positive. Zwar hat Müller im letzten Jahr tatsächlich den Entwurf eines Lieferkettengesetzes zirkulieren lassen. Zurückgepfiffen von einem auch vor blanker Infamie nicht zurückschreckenden Chor der Unternehmensleitungen und ihnen gefügiger Politiker*innen aber setzte er mit dem Textilsiegel des „Grünen Knopfes“ nur noch auf Gesichtswahrung: die in der asymmetrischen Machtstruktur der globalen Herstellungs- und Lieferketten schon angelegten, doch immer auch absichtsvoll begangenen Menschenrechtsverbrechen in der Textilproduktion wird das Siegel nur kaschieren, nicht abstellen.

Immerhin: Müller nahm jetzt, in den Zeiten von Corona, einen zweiten Anlauf für ein Lieferkettengesetz, diesmal mit Unterstützung des Bundesarbeitsministeriums. Schamloser aber konnte man nicht ausgebremst werden. Das Bundeskanzleramt und Wirtschaftsminister Altmaier traten ihren Unternehmen sofort an die Seite, Altmaier ließ sogar ganz ausdrücklich verlautbaren, dass der deutschen Wirtschaft menschenrechtliche Sorgfaltspflichten nicht abzuverlangen seien, schon gar nicht unter den Bedingungen der Corona-Krise.

Was das heißt, ist in den letzten zwei Wochen klar geworden. Zuerst wurde bekannt, dass internationale, auch deutsche Auftraggeber in Erwartung einer Krise schon seit Monaten anstehende Zahlungen an ihre Auftragnehmer*innen im Süden zurückgehalten, herab- und schließlich ausgesetzt haben. Dann wurde öffentlich, dass sie Aufträge in Milliardenhöhe einfach storniert haben, ein Schritt, der möglicherweise sogar das unternehmensfreundliche Wirtschaftsrecht verletzt.

Schließlich musste man erfahren, dass sich die Stornierungen sogar auf bereits in der Herstellung befindliche und auf Aufträge bezogen, die bereits erledigt waren: Tonnen an Textilien auch für deutsche Märkte, die jetzt in den Häfen von Dhaka und Karatschi zum Transport bereitstehen, aber wohl nicht mehr abgeholt werden. Schutzlos der kriminellen Energie ihrer Auftraggeber ausgeliefert, mussten Tausende südasiatischer Fabriken in Wochenfrist schließen, Millionen Arbeiter*innen wurden ganz oder teilweise entlassen und stehen jetzt buchstäblich vor dem Nichts: vor dem Hunger und der Obdachlosigkeit. Auf jede von ihnen kommen noch einmal bis zu acht Menschen, deren Überleben an ihren sowieso lächerlich niedrigen Einkommen hängt.

Globale Umverteilungen

Was das heißt, lässt sich an dem zeigen, was derzeit die medico-Partner in Pakistan und Bangladesch zu tun gezwungen sind, die pakistanische National Trade Union Federation (NTUF) und die bangladeschische National Garment Workers Federation (NGWF). Beide verteilen an tausende von Arbeiter*innenfamilien Hilfslieferungen, die zumindest auf den nächsten Monat den Hunger abwehren und erste Hilfe im Krankheitsfall leisten sollen. Rund um die Uhr mit Tätigkeiten befasst, die eigentlich nicht Aufgabe einer Gewerkschaft sind, fand die NTUF immerhin Gelegenheit, ein staatliches pakistanisches Hilfsprogramm einzufordern, das Lohnersatzleistungen ebenso vorsieht wie umfassende Maßnahmen zum Schutz vor der Corona-Epidemie.

Die NGWF wiederum forderte in einer gemeinsamen Erklärung mit drei anderen Gewerkschaften die Erstattung der ausstehenden Löhne des Monate März und April, Lohnfortzahlungen bis zum Ende der Coronakrise, die Rücknahme der Entlassungen und systematische Hilfen zur sozialen Sicherung. Das Problem daran ist, dass weder der pakistanische noch der bangladeschische Staat noch die Unternehmen dieser Länder zur Erfüllung dieser Forderungen in der Lage sind: selbst wenn sie dazu willens wären.

Auch dazu hat sich Minister Müller umgehend geäußert. Er hat nicht nur weitgehende coronabezogene Umschichtungen der deutschen Entwicklungshilfe angekündigt, sondern auch die richtige Forderung gestellt, dass staatliche deutsche Hilfen an deutsche Unternehmen in Teilen auch an deren Auftragnehmer*innen im Süden weiterzuleiten wären. Zugleich hat er die 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer ausdrücklich zu einem „Schuldenschnitt“ für die Länder des globalen Südens aufgerufen. Alles fraglos unumgängliche Schritte, und Maßnahmen obendrein, in denen man sehr viel weiter wird gehen müssen als dies bislang absehbar ist: nicht nur, aber erst recht dann, wenn die Pandemie sich ausbreitet und vertieft.

Und trotzdem geht es darum, einen entscheiden Schritt weiterzugehen: den Schritt, den Müller im Hinblick auf ein Lieferkettengesetz bereits gehen will. Es geht nämlich nicht nur um ein globales Hilfsprogramm, für das tatsächlich in erster Linie die Staaten des globalen Nordens aufzukommen haben. Und es geht auch nicht nur um globale Umverteilungspolitiken, so unumgänglich sie seit Jahren schon wären. Es geht vielmehr um eine ausdrücklich politische Lösung, und es geht ums Menschenrecht, um das eine im anderen.

Globale soziale Menschenrechtspolitik

Unter den Bedingungen von Corona denken wir hier im ersten Schritt an das Menschenrecht auf gleichen Zugang aller zu Gesundheit. Politisch ist es bereits allen Menschen garantiert: seine praktische Umsetzung verlangt jetzt eine globale soziale Infrastruktur, die weltweit eine Basisgesundheitsversorgung sichern kann. Zugleich hätte eine solche globale soziale Infrastruktur nicht nur eine solche der Gesundheit, sondern auch des Wohnens und der Bildung zu sein. Sie hätte darüber hinaus alle sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Menschenrechte zu garantieren, für alle und für jede Einzelne.

Um die Ausgestaltung einer solchen globalen sozialen Infrastruktur demokratisch bestimmen zu können, wäre diese globale soziale Infrastruktur auch den politischen Menschenrechten zu unterlegen, dem Recht auf Unversehrtheit der Person, auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, nicht zuletzt dem Recht auf Freizügigkeit und natürlich dem Recht auf Schutz vor jeder Form der Diskriminierung. Die menschenrechtliche Freistellung ausnahmslos aller Einzelnen zur Übernahme ihrer Freiheit in Gleichheit wäre dann nach dem aktuellen spanischen Modell zu befördern. Spanien hat gerade angekündigt, seinen Bürger*innen ein lebenslanges Grundeinkommen bereitzustellen. Geplant war das schon länger, die Corona-Krise hat die Umsetzung beschleunigt. Das ist richtig, und richtig ist es vor allem, es im Prinzip eben nicht als Lohnersatzleistung anzulegen, mit der die Kopplung von Arbeit und Einkommen in Geltung bliebe. Richtig ist aber auch, es weltweit bereitzustellen, und nicht nur den Bürger*innen Spaniens bzw. der Europäischen Union.

Zusammengenommen befördern eine globale soziale Infrastruktur und ein globales soziales Grundeinkommen nicht nur die individuellen und kollektiven Menschenrechte. Sie garantierten auch deren unteilbaren Zusammenhang im Artikel 28 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in dem es heißt: „Jede hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“

Die von allen Mitgliedsstaaten der UN und so auch von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete und damit als verbindlich anerkannte Erklärung spricht an dieser Stelle überlegt und absichtsvoll von der „vollen Verwirklichung“ der Menschenrechte, nicht von einer bloß teilweisen. Sie sie ist auch nicht als bloße Absichtserklärung, sondern als bindende Verpflichtung des Denkens und Handelns zu verstehen. Wann, wenn nicht jetzt ist es dazu die höchste Zeit?

Die materiellen und die politischen Mittel zu einer solchen globalen politischen Lösung, das belegt die Corona-Krise, sind längst gegeben: Wenn es binnen Wochen möglich ist, den Hochgeschwindigkeitssturmlauf des globalen Kapitals in Wochenfrist einem shut down zu unterwerfen, dann ist noch viel mehr möglich. Was dazu allerdings fehlt, ist der politische Wille. Daran kann ein gutmeinender Politiker allein nichts ändern: der schafft es für sich allein, das zeigt Gerd Müller, bestenfalls zu grünen Knöpfen.

Zur Verwirklichung dessen, was möglich, nötig, richtig und rechtens ist, braucht es einen globalen politischen Kampf. Ein solcher Kampf muss mehr sein als ein Arbeitskampf, mehr aber auch als ein Kampf zur Rettung der abertausenden Geflüchteten, die die Europäische Union der Altmaiers schlicht verrecken lassen wird, wenn wir alle zusammen sie nicht aufhalten. Und da die Zeit jetzt reif ist, muss irgendwer den ersten Schritt tun, den Schritt, der dann eine Kettenreaktion auslösen könnte.

Minister Müller ist nicht der einzige, der aktuell einen Schuldenschnitt zugunsten der Länder des globalen Südens fordert. Er antwortet damit auch dem pakistanischen Premierminister Imran Khan, der angesichts der Corona-Krise höflichst gebeten hat, dem natürlich auch aus eigener Verantwortung bankrotten Land die ins Maßlose aufgetürmten Schulden wenigstens zu stunden: eine Bitte übrigens nicht nur an den Internationalen Währungsfonds und den Westen, sondern auch an China.

Pakistans medico-Partner NTUF aber fordert Khan jetzt auf, den Schuldendienst einseitig einzustellen, zugleich aber alle nicht-entwicklungsbezogenen Staatsausgaben einschließlich des Verteidigungsbudgets um die Hälfte zu kürzen. Die derart eingesparten Mittel sollen dann in ein „universelles System der sozialen Sicherung“ im Geist des Artikels 38 der pakistanischen Verfassung eingespeist werden. Bliebe Pakistan mit einem solchen Schritt allein, müsste Khan so zurückrudern, wie Minister Müller das mit seinem Lieferkettengesetz tun musste. Dafür würden, daran ist kein Zweifel, die Altmaiers dieser Welt schon sorgen, zum Nutzen der Strukturen der Ausbeutung, Verelendung und Missachtung, zu deren Bewahrung und Ausbau sie da sind. Schlössen sich dem Premierminister Pakistans aber erst fünf, dann zehn, dann 50 Länder des globalen Südens an, könnte wenn nicht alles, so doch vieles kippen. Aus dem Stand, wie beim Corona-shut down.

Der Ballhausschwur des 21. Jahrhunderts

Irgendwer muss jetzt den ersten Schritt tun: nicht, um den Weg allein zu Ende zu gehen, sondern damit die Dämme brechen. Darin ähnelt die Corona-Zeit der Zeit unmittelbar vor der Französischen Revolution, der Zeit kurz vor der Verkündung der ersten Erklärung der Menschenrechte. Zur Behebung einer schweren Finanzkrise berief der König damals – zum ersten Mal seit 175 Jahren! – die „Generalstände“ ein, eine Art Parlament, in dem Adel, Klerus und Dritter Stand mit gleichen Stimmen vertreten waren. Die Vertreter*innen des Dritten Standes nötigten dem von der Krise bedrängten König erst die Verdopplung der ihnen zustehenden Sitze ab und forderten dann, dass bei künftigen Abstimmungen allein die Einzelstimmen gezählt werden sollten. Das hätte ihnen, gestützt auf Sympathisant*innen aus Adel und Klerus, die Mehrheit gebracht. Ihre Forderungen wurden immer wieder abgelehnt – ganz so, wie es heute allen ergeht, die einen Schuldenschnitt, ein strafbewehrtes Lieferkettengesetz oder die Rettung der Menschen auf Lesbos fordern.

Damals, 1789, erklärten sich die Vertreter*innen des Dritten Standes im Gegenzug eigenmächtig zur „Nationalversammlung“, und sie beriefen sich dazu auf das Faktum, 98 % aller Französ*innen zu vertreten. Der König ließ die Versammlung, das stand ihm damals zu, umgehend schließen. Die Abgeordneten aber blieben einfach zusammen und schworen sich gegenseitig, erst dann auseinanderzugehen, wenn das Land über eine neue Verfassung verfügen würde. Nach dem Ort ihrer historischen Versammlung nennt man das heute den „Ballhausschwur“. Er war der Dammbruch, den die Déclaration des Droits de l‘Homme et du Citoyen, die Erklärung der Rechte der Menschen und Bürger*innen, nur wenige Monate später ratifizierte: zu noch heute geltendem, wenn auch immer noch nicht durchgesetztem Recht erhob.

Dieselbe Erklärung der Rechte der Menschen und Bürger*innen fordert jetzt, unter den Bedingungen von Corona, den Schuldenschnitt, die volle Geltung des Menschenrechts auch und gerade in den globalen Herstellungs- und Lieferketten und die Vollendung des seit 1789 geltenden Rechts auf Freizügigkeit durch ein Recht auf sichere Ankunft unter Zuerkennung ausnahmslos aller Menschenrechte. Sie fordert eine globale soziale Infrastruktur und ein globales Grundeinkommen zur Entkopplung von Arbeit und Einkommen und zur Grundlegung eines sozialökologisch für alle verträglichen Entwicklungsmodells, in Zeiten von Corona wie unter dem Klimakollaps.

Nichts spricht dagegen, dass der allererste Schritt zur Durchsetzung dieser Forderungen von einem pakistanischen Premierminister gegangen wird. Er müsste dazu nur – so einfach ist das – glaubhaft versichern, die Menschen seines Landes andernfalls nicht vor dem Corona-Virus und nicht vor der Infamie der internationalen Textilindustrie schützen zu können. Das hat er schon getan, und er hat damit Recht. In der Sache kommt es dann allerdings nicht auf diesen Minister an: der allererste Schritt könnte mit demselben Recht irgendwo anders von irgendwem anders gegangen werden. Es kommt zuletzt auf den Schwur derjenigen an, die ihm oder ihr das Recht dazu auch geben, im vollen Sinn des Wortes. Nach Lage der Dinge ergeht der Ruf dazu an uns alle, überall. Gemeint ist jede für sich.

Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


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