Meinungsfreiheit

Bin ich ein Berliner?

Die Politik der Staatsraison ist auch ein Frontalangriff auf die Hauptstadt der arabischen Exil-Communities.

Von Yassin al-Haj Saleh

„Im deutschen Kultursektor herrscht ein Klima der Angst. Zensur und Selbstzensur sind zur neuen Normalität geworden. Arabische und jüdische Künstler und Intellektuelle, die sich mit Palästina solidarisieren, werden weitgehend ausgeschlossen und zum Schweigen gebracht“, sagte Pascale Fakhry im April in ihrer Eröffnungsrede des 15. ALFILM-Festivals, dem arabischen Filmfestival in Berlin. Ähnliche Einschätzungen sind unter palästinensischen und arabischen Intellektuellen, Künstler:innen, Akademiker:innen und Journalist:innen weit verbreitet. Dabei war Berlin noch bis vor kurzem der Ort, an dem sie sich sicher und geschützt wähnten. Noch 2019 hatte der ägyptische Wissenschaftler Amro Ali die Stadt als „Hauptstadt des arabischen Exils“ bezeichnet und eben hier auf eine Renaissance der künstlerischen und intellektuellen Kräfte der ins Exil getriebenen arabischen Aufstände gehofft. Doch diese Hoffnung hat sich in den letzten sieben Monaten, den Monaten seit dem 7. Oktober 2023, wohl erledigt.

Viele der von Zensur und Ausgrenzung betroffenen Menschen sind Linke und Laizisten, die der Hamas schon lange und eindeutig kritisch gegenüberstehen. Sie sind jedoch aufgrund ihrer persönlichen und kollektiven Erinnerungen, ihrer politischen Sensibilität und manchmal auch ihrer persönlichen Erfahrungen geneigt, den palästinensischen Kampf für Freiheit, Gleichheit und Staatlichkeit zu unterstützen, so auch, unbeirrt, sogar mit Stolz, die ALFILM-Leute. Diese Unterstützung aber hat sie zur Zielscheibe für Zensur und Ausgrenzung in Deutschland werden lassen. „Ich habe an schwierigen Orten moderiert, in Beirut, Kairo, Amman, Abu Dhabi und Dubai. Dieses Jahr war ich auch in Saudi-Arabien. Die Leute denken, dass es dort zu viel Zensur gibt. Aber dort hat mir noch nie jemand gesagt, wie ich meine Gäste vorstellen soll, was ich zu sagen habe, worauf ich achten muss und ob es Wörter gibt, die schwierig sind oder nicht gesagt werden dürfen“, so Rabih el-Khouri, Leiter des Auswahlkomitees des Festivals.

Die Beispiele, auf die sich solche Aussagen beziehen, sind so zahlreich, dass sich die internationalen Medien bereits seit Monaten dafür interessieren. „Ein Klima der Angst und der Schuldzuweisungen hat den Status Berlins als internationale Kulturhauptstadt stärker gefährdet als jemals zuvor seit 1989“, heißt es beispielsweise in einem Bericht der New York Times über den „Leuchtturm der künstlerischen Freiheit“, der Berlin einmal war. Ähnlich äußerte sich die palästinensische Aktivistin Fidaa al-Zaanin in einem Bericht der taz: „Das Klima in Deutschland ist beängstigend.“

Monolog der Erinnerungspolitik

Man kann noch weiter gehen und fragen, inwieweit das deutsche Vorgehen in Bezug auf die palästinensische Sache auch eines gegen die Meinungsfreiheit ist. Das israelische +972 Magazine berichtet umfassend über die teils fanatischen Maßnahmen, die in Deutschland gegen die Solidarität mit den Palästinenser:innen ergriffen werden. Diese Maßnahmen, die im Bericht als „drakonisch“ bezeichnet werden, haben die Wirkung einer „Othering Machine“. Diese Ausgrenzungsmaschine hat viele Menschen mit Migrations- und Exilgeschichte entfremdet, einige haben Deutschland inzwischen verlassen.

Wenn man bedenkt, dass die Figur des oder der Intellektuellen in gewisser Weise „europäisch“ ist – wie zumindest ich persönlich es zu denken pflegte, mit Vorstellungen von Pluralität, Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Weltoffenheit im Kopf –, dann klingt die Botschaft dieser Maschine nach dem Gegenteil dessen: Sie vermittelt allen nicht deutschen Intellektuellen: „Nein! Du gehörst nicht hierher! Du hast nicht das Recht, dich hier frei zu äußern! Du bist uns nicht gleichgestellt! Du bist subaltern!“ In Anlehnung an Hannah Arendt habe ich andernorts behauptet, dass wir als Flüchtlinge in Deutschland vielleicht einige Rechte genießen, aber niemals das Recht, Rechte zu haben. Die sieben Monate seit dem 7. Oktober beweisen dies allzu gut.

Die Logik des Andersseins widerspricht dem Konzept der Stadt als Raum der Vielfalt, der Freiheit und des Dialogs oder besser des „Polylogs“. Sie widerspricht sogar der Seele Berlins als Kulturhauptstadt, in der viele Sprachen, Erinnerungen und Weltanschauungen aufeinandertreffen. Eigentlich widerspricht sie sogar dem Prinzip der demokratischen Integration und offenbart stattdessen eine sehr repressive Version von ihrer Verwirklichung. Im Land kursierende Vorschläge, wie Individuen zur Anerkennung Israels gezwungen werden könnten, sind nicht nur nicht neugierig auf andere Perspektiven. Sie verletzen die Gewissensfreiheit.

Die Maschine zielt auf einen Monolog im Namen der deutschen Erinnerungspolitik. Abgesehen davon, dass Deutschland Teil eines moralischen Dreiecks ist, wie Sa‘ed Atshan und Katharina Galor ihr unbedingt lesenswertes Buch über Palästinenser und Israelis in Berlin betitelt haben – eines Dreiecks, das Deutschland nicht nur mit Israel, sondern auch mit Palästina verbindet –, kann das deutsche Gedächtnis nur dann „gesund“ sein, wenn es Teil eines multidirektionalen Gedächtnisses wird; eines Gedächtnisses also, das auch die Geschichte des Kolonialismus erinnert, so die These von Michael Rothberg in seinem Buch, das vielen im Lande kontrovers erschien.

Von Palästinenser:innen und anderen aber wird erwartet, dass sie in dem Moment, in dem sie hier ankommen, ihr eigenes Gedächtnis ablegen und das deutsche anziehen. Sie sollen quasi einen „Erinnerungs-Selbstmord“ begehen. Die Kultur der Demokratie selbst wird so untergraben, meint Enzo Traverso, der – meiner Meinung nach zu Recht – behauptet, dass die deutsche Staatsraison auf einen „Ausnahmezustand“ anspielt, auf die „unmoralische Seite eines Staates, der seine eigenen Gesetze übertritt“ im Namen eines „übergeordneten Gebots der Staatssicherheit“. Dies ist die nationalistische Logik der Souveränität und der Aufhebung des Rechts. Und sie ist spaltend und hat bereits großen Schaden angerichtet.

Düstere Erinnerungen

Menschen aus Palästina oder aus Syrien (wie ich) sind Flüchtlinge. Nicht wenige flohen auch, weil eine Logik, die Menschen zensiert und sie daran hindert, sich frei zu äußern, unsere Städte und Gesellschaften stark ausgezehrt hat. Als einer von ihnen habe ich mich in den letzten sieben Monaten in Berlin manchmal ähnlich ausgegrenzt und verstummt gefühlt wie damals in Syrien, wo ich mich öffentlich nie hatte äußern können. Eine Berliner Zeitung hatte nichts dagegen, dass ich für sie über mein Land schreibe, aber sie wollten meine Artikel nur veröffentlichen, wenn ihnen der Inhalt passte. Ich hätte auch für die Assad-Zeitungen schreiben können, wenn ich für sie sympathische Artikel geschrieben hätte. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden, sagte Rosa Luxemburg 1918, ein Jahr bevor sie in Berlin ermordet wurde.

Räume werden kleiner, enger, flacher und exklusiver, wenn die Menschen gezwungen werden, sich einer Ideologie oder einem nationalistischen Dogma anzupassen. Im Gegensatz dazu werden sie tiefer, geräumiger und umfassender, wenn sie mit Pluralität und Freiheit belebt werden. Berlin als deutscher, europäischer und globaler Raum ist hiervon nicht ausgenommen. Auch die Räume in syrischen Städten sind seit den 1970er-Jahren kleiner und erdrückender geworden. Was die Meinungsfreiheit in Bezug auf die palästinensische Frage betrifft, so ähnelt die Situation in Deutschland und in etwas geringerem Maße in vielen westlichen Ländern unserer Situation in den meisten arabischen Ländern, die von strengen oder sehr strengen Diktaturen regiert werden. Sobald es um Palästina geht, neigen westliche Regierungen zunehmend dazu, „arabische Regime“ zu sein.

Suleiman Abdallah, ein syrischer Journalist, dem ich die beiden Zitate am Anfang dieses Artikels verdanke, berichtete kürzlich, dass viele syrische Künstler Angst vor erneuten Traumata haben, die an das Leben in der Diktatur erinnern. Ihre Strategie in dieser neuen Realität der „demokratischen Diktatur“ ist die Selbstzensur. Einer der drei in dem Bericht befragten Künstler, Khaled Barakeh, plant seine Ausreise; eine andere, Kefah Ali Deeb, sagte, dass die Ausreise ihr Traum sei. Beide sind seit fast zehn Jahren in Berlin und in der Berliner Kulturlandschaft sehr aktiv.

Deutschland hat viel in seine Kulturlandschaft investiert, vor allem in Berlin, das sich einer umfangreichen kulturellen Infrastruktur erfreut. Die Stadt ist sehr menschlich, bescheiden, multizentrisch, kosmopolitisch. Es gibt kaum imperialistische Symbole und im Gegensatz zu Paris und London ist das Leben günstig. Diese Vorzüge sind es vor allem, die Berlin für Intellektuelle und Künstler aus vielen Teilen der Welt so attraktiv gemacht haben. Und diese Attraktivität ist es, die in den letzten sieben Monaten aktiv verspielt wurde. Die Folge: Viele Menschen, nicht nur Palästinenser:innen und Araber:innen, fühlen sich eingeschränkt und ausgrenzt. Auf beunruhigende Weise haben die intellektuellen und kulturellen Akteure eine Logik der Staatsraison übernommen. Diese Realität hat Carola Lentz, Präsidentin des Goethe-Instituts, zu der Forderung veranlasst: „Kulturarbeit muss unabhängig bleiben!“

Doch der Kampf ist noch nicht ganz verloren. Das ALFILM-Festival fand sechs Tage lang in mehreren Berliner Kinos statt. Das Herz der Stadt ist noch nicht ganz für die palästinensische Frage verschlossen. Aber die Situation ist verletzlich, und man kann sich derzeit nicht sicher sein, ob eine Veranstaltung wie das ALFILM-Festival eines der letzten Zeichen eines pluralistischen Berlins ist – oder eines von vielen, die noch folgen werden.

medico unterstützt die arabischen Exil-Communities über die Arbeit des MENA Prison Forum, das seit einigen Jahren vorwiegend von Berlin aus arbeitet.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 23. Mai 2024
Yassin al-Haj Saleh

Der Schriftsteller Yassin al-Haj Saleh ist eine der prominentesten Stimmen der syrischen Opposition. Dass der Terror des Assad-Regimes bereits Jahrzehnte währt, weiß er nicht nur, weil er seit 1980 insgesamt 16 Jahre in syrischen Gefängnissen inhaftiert war. Al-Haj Saleh lebt heute in Berlin und schreibt regelmäßig für das medico-rundschreiben.


Jetzt spenden!