Angriff auf Rojava

Eskalation eines hybriden Krieges

21.11.2022   Lesezeit: 6 min

Die Türkei missachtet systematisch die Menschenrechte und verstößt gegen das Völkerrecht. Die Bedrohung ist für die Menschen in der Region existentiell.

Von Anita Starosta

Es war nur eine Frage der Zeit, bis das türkische Militär erneut Angriffe auf das Gebiet der autonomen Selbstverwaltung in Nordostsyrien startet. Die ersten Bomben schlugen in der Nacht vom 19. auf den 20. November in den Städten Kobanê, Dirbesiye, Zirgan und in der Region Dêrik ein, auch an der Grenze zum Nordirak wurden Ziele getroffen. Im Visier waren auch zivile Ziele wie ein Weizendepot, ein Stromwerk und ein Krankenhaus. Mindestens elf Zivilist:innen starben, neun wurden verletzt. Hinzu kommen mehrere Tote der syrischen Armee und der kurdischen Streitkräfte. Auch in dieser Nacht haben Artilleriegeschütze Dörfer um Kobanê, Manbij und in Sheba getroffen.

Wie lange die Angriffe anhalten werden, ist unklar. Für die Bevölkerung bedeutet dies eine extreme Belastung und existentielle Bedrohung.

Seit dem Bombenanschlag auf der zentralen Einkaufsstraße Istiklal in Istanbul mit sechs Toten und 80 Verletzten scheint der Wahlkampf der AKP begonnen zu haben – im Juni 2023 finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Trotz zahlreicher Ungereimtheiten – unter anderem hatte Innenminister Soylu wohl Kontakt zur vermeintlichen Attentäterin – hält die türkische Regierung an dem Vorwurf fest, der Anschlag habe im Auftrag der PKK bzw. PYD stattgefunden. Schon am Tag des Anschlags verkündete Soylu: „Der Befehl kam aus Kobanê“. Stimmen aus Nordostsyrien interpretierten dies schon vor einer Woche als Kriegsankündigung.

Es ist eine inzwischen hinlänglich bekannte Methode der AKP-Regierung, Terroranschläge für die Mobilisierung nationaler Einheit zu instrumentalisieren. Besonders wenn Referenden oder Wahlen anstehen, ist die Sicherheitspolitik ein Vehikel, um die Bevölkerung an die Regierung zu binden. Dabei geht es besonders oft gegen die Kurd:innen im eigenen Land und an den Grenzen zu Syrien und Irak. So auch jetzt.

Anlass abzulenken, gibt es zudem nicht nur angesichts der hohen Inflation und schlechten wirtschaftlichen Aussichten, die die Umfragewerte für die AKP in den Keller sinken ließen. Zudem gab es in den letzten Wochen vermehrt Kritik am Einsatz von Giftgas gegen die Guerillaeinheiten der PKK im Nordirak. Auch hat Erdogan bis zuletzt Schweden unter Druck gesetzt, dem NATO-Beitritt des Landes nur zuzustimmen, wenn die schwedische Regierung sich von der autonomen Selbstverwaltung distanzieren und ihre Unterstützung einstellt. Die Luftangriffe unterstreichen die türkische Position deutlich.

Seit Monaten forciert Erdogan eine erneute militärische Bodenoffensive in der Region und kündigte immer wieder an, einen 30 Kilometer tiefen Streifen jenseits der syrischen Grenze komplett einnehmen zu wollen, um eine sogenannte Sicherheitszone zu errichten. Zuletzt fokussierte er sich in seinen Drohungen auf die Region um Kobanê und Manbij – also die westlichen Gebiete der Selbstverwaltung. Für eine solche Bodenoffensive erhielt er bislang kein grünes Licht, doch Russland und die USA kontrollieren den Luftraum über der Region und müssen den aktuellen Luftangriffen zugestimmt haben. Vermutlich hat die erfolgreiche Vermittlerrolle der Türkei im Ukraine-Krieg sie dazu bewogen. Und einen weiteren Konfliktherd kann sich niemand leisten.

Bis dato schweigen alle NATO-Staaten zu den Angriffen. Auch von der Bundesregierung ist nichts zu vernehmen. Beileid oder die Zusicherung von Aufklärung wie nach dem tödlichen Raketeneinschlag in Polen vor wenigen Tagen: Fehlanzeige. Ob das Schweigen aufrechterhalten werden kann, wird sich zeigen. Schon gestern fanden der außenpolitische Sprecher der Grünen, Jürgen Trittin, und das grüne Mitglied im Auswärtigen Ausschuss Max Lucks deutliche Worte. Sie verurteilten den Militärschlag, forderten den sofortigen Stopp der Angriffe sowie eine rechtsstaatliche Ermittlung des Istiklal-Anschlags.

Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser reist heute in die Türkei. Dort wird sie die deutsch-türkische Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung und Migrationspolitik mit dem türkischen Innenminister Soylu besprechen. Eine gute Gelegenheit, um eine deutliche Position gegen die Luftangriffe und den hybriden Krieg gegenüber der türkischen Regierung zu formulieren und sich für Menschrechte einzusetzen.

Wann zählen Menschenrechte und Demokratie?

Noch sieht es nicht nach einer erneuten Bodenoffensive aus, die Türkei hat jedoch angekündigt, die Luftangriffe weiter fortzuführen. Mit ihren Angriffen eskaliert die türkische Regierung die seit Monaten schon bedrohliche Situation in Nordostsyrien. Immer wieder ist es in den letzten Monaten zu Drohnenangriffen gekommen, bei denen auch Zivilist:innen getötet wurden – unter anderem auch Verantwortliche für medico-Projekte. Doch die hybride Kriegführung Erdogans geht über das Militärische hinaus: Die Kontrolle der Wasserzufuhr, die anhaltende Besetzung von Gebieten und die Unterstützung islamistischer Milizen bedrohen die autonome Selbstverwaltung in Nordostsyrien.

Die Türkei missachtet systematisch die Menschenrechte und verstößt gegen das Völkerrecht. Die militärische Bedrohung ist für die Menschen in der Region existentiell –seit Monaten leben sie im Ausnahmezustand. Das wirkt sich auch auf die soziale Infrastruktur aus, Schulen und andere Einrichtungen müssen immer wieder schließen. Außerdem wächst die Bedrohung durch den IS – immer noch sind tausende IS-Kämpfer in Gefängnissen der Region untergebracht, im Angriffsfall müssen sie besonders gesichert werden. Sollte ein Gefängnis getroffen werden oder die Insassen einen Aufstand anzetteln, stärkt dies die Terrormiliz. Diese permanente Bedrohung zermürbt die Bevölkerung.

Das Verteidigungsministerium in Ankara beruft sich zur Rechtfertigung der Luftangriffe auf das Recht zur Selbstverteidigung in der Charta der Vereinten Nationen – nicht mehr als eine rhetorische Worthülse. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hatte bereits bei den größeren türkischen Militäroperationen in Afrin (2018) und Serêkaniyê (2019) festgestellt, dass sie gegen Völkerrecht verstoßen. Zu keinem Zeitpunkt hatte eine Bedrohung bestanden, die ein militärisches Eingreifen gerechtfertigt hätte. Ähnlich sieht die Lage jetzt aus. 

Ein Eingreifen ihrer NATO-Partner muss die türkische Regierung nicht befürchten, zu offensichtlich wird ihr freie Hand gelassen. Hier geht es nicht um „feministische Außenpolitik“, um Menschenrechte oder Demokratie, hier geht es um Geopolitik und Machtverteilung in einer neuen Weltordnung.

Das zeigen auch die anderen Orte des Konflikts in der Region: Der Militäreinsatz in der kurdischen Stadt Mahabad, die iranischen und türkischen Angriffe auf kurdische Stellungen im Nordirak und die türkischen Bombardements von Rojava in Nordostsyrien erfordern unsere Aufmerksamkeit und unsere Solidarität. Der Einsatz für Menschenrechte und Demokratie darf der staatlichen Gewalt nicht zum Opfer fallen.

Trotz der wiederkehrenden Angriffe setzen sich medico-Partner:innen in Nordostsyrien dafür ein, Grundlagen für eine demokratische und gerechte Zukunft zu legen. Sie versorgen Geflüchtete, arbeiten in der Reha der Kriegsversehrten und dokumentieren Fälle von Übergriffen, Enteignungen und Straftaten, die besonders von türkischen Militärs und islamistischen Milizen begangen wurden – mit dem Ziel, dass über sie eines Tages vor dem Internationalen Strafgerichtshof Recht gesprochen wird. Aktuell gilt: Je größer die Ungewissheit in der Region ist, umso wichtiger ist unsere Solidarität und Unterstützung.

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Kommunikation zur Türkei, zu Nordsyrien und dem Irak zuständig. 

Twitter: @StarostaAnita


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