Nakba-Proteste

Gaza und die Folgen

28.06.2018   Lesezeit: 7 min

Die Debatte um den Einsatz der israelischen Armee gegen palästinensische Demonstranten. Von Riad Othman

Dieses Jahr feierte Israel sein 70-jähriges Bestehen. Zum Jahrestag der Ausrufung des Staates durch David Ben Gurion am 14. Mai 1948 in Tel Aviv machte die US-Administration ein besonderes Geschenk: Nach der Anerkennung Jerusalems als Israels Hauptstadt Anfang Dezember 2017 vollzogen die Vereinigten Staaten beschleunigt den Umzug ihrer Botschaft von Tel Aviv, indem sie kurzerhand ihr Konsulat in West-Jerusalem aufwerteten. Das Areal liegt zum Teil jenseits der Grünen Linie im Niemandsland, d.h. dort, wo israelisches und ehemals jordanisches Territorium nicht direkt aneinandergrenzen. Dazwischen lag bis Juni 1967 die entmilitarisierte Zone, Teil des No Man’s Land in Jerusalem, wie es auch weiter nördlich am Mandelbaum-Tor zu finden war.

Im Gazastreifen demonstrierten zur gleichen Zeit im Rahmen des „Großen Marschs der Rückkehr“ Tausende Menschen für das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge, für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und gegen die Abriegelung der Küstenenklave. Und natürlich auch gegen die Eröffnung der US-Botschaft in Jerusalem, die für sie die Zementierung des Unrechts der Besatzung symbolisiert. Seit dem 30. März 2018 hatten Palästinenserinnen und Palästinenser in Gaza protestiert, mehrheitlich friedlich und unbewaffnet. Ausnahmen hat es gegeben, doch die Ankündigung des israelischen Verteidigungsministers Avigdor Lieberman, mit scharfer Munition schießen zu lassen, wenn sich in Gaza jemand dem Zaun zu Israel nähern würde, ließ von Anfang an befürchten, dass der Befehl an die entlang der Befestigungsanlage postierten Scharfschützen nicht zwischen Bewaffneten und Unbewaffneten unterscheiden würde.

Dass die Hamas einen großen Teil der am 14. Mai Erschossenen als ihre Mitglieder reklamierte, diente sowohl ihr selbst als auch der israelischen Regierung. Erstere beanspruchte damit einmal mehr eine tragende Rolle für sich, in der Hoffnung, dadurch einen Zugewinn an politischer Legitimität zu erzielen. Letztere nutzte die Verlautbarung der Hamas dazu, das eigene harte Vorgehen zu rechtfertigen und die Proteste insgesamt als von Islamisten organisierte Angriffe darzustellen, gegen die Israel sich und seine Bürger lediglich verteidigt habe. Von 30. März bis 12. Juni wurden im Gazastreifen 135 Personen erschossen und 14.605 verletzt, 3.895 durch scharfe Munition. Eine von ihnen war Razan Al-Najjar, eine 21-jährige Ersthelferin des medico-Partners Palestinian Medical Relief Society, die am 1. Juni bei dem Versuch, einem verletzten Demonstranten zu helfen, durch das Feuer eines israelischen Scharfschützen getötet wurde, obwohl sie in ihrer weißen Bekleidung klar als Sanitäterin erkennbar war.

Obwohl die Opferzahlen für sich sprechen und dem Obersten Gerichtshof (OGH) Israels von lokalen Menschenrechtsorganisationen wie den medico-Partnern Adalah und Al Mezan Center for Human Rights Beweise dafür vorgelegt wurden, dass getötete und verletzte Personen in vielen Fällen keine akute Bedrohung für irgendwen dargestellt hatten, folgten die Richter der Argumentation des Militärs: Die Protestierenden seien eine Gefahr für israelische Soldaten und Zivilistinnen. Der OGH weigerte sich sogar, die vorliegenden Videos zu sichten, die den israelischen Beschuss von Demonstrierenden dokumentierten. Der Einsatz scharfer Munition sei rechtens. In Israel erhoben sich vereinzelt kritische Stimmen gegen dieses Vorgehen, das eine Politik offenbart, die nicht zwischen Bewaffneten und Unbewaffneten unterscheidet, sondern jeden zum Feind erklärt, der es wagt zu protestieren. Fünf ehemalige Scharfschützen der israelischen Armee, die mit der medico-Partnerorganisation Breaking the Silence (BtS) verbunden sind, sprachen in einem offenen Brief von „Scham angesichts von Befehlen, die frei von Moral und ethischem Urteilsvermögen“ seien. Zeitungsanzeigen von BtS kritisierten den Einsatz öffentlich. Auch in den Medien gab es einzelne Gegenstimmen, wie die von Amira Hass, dem Menschenrechtsanwalt Michael Sfard oder dem renommierten Faschismusforscher und emeritierten Professor Zeev Sternhell. Die wenigen Menschen von Standing Together forderten in der Nähe des Erez-Übergangs nach Gaza Sicherheit auf beiden Seiten des Zauns. Sie verstehen, dass es israelische Sicherheit ohne palästinensische nicht dauerhaft geben wird. Im eigenen Land sind sie jedoch in der Minderheit. Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung stand laut Umfragen hinter dem harten Vorgehen der Armee.

In Teilen des Westjordanlands kam es zu Demonstrationen in Solidarität mit Gaza, aber auch wegen der Verlegung der US-Botschaft. Ein geplanter friedlicher Protestmarsch zum Checkpoint in Qalandiya blieb jedoch winzig klein, ebenso wie die Freitagsdemonstrationen an verschiedenen Orten der Westbank. Während die politische Führung in Ramallah angesichts der in die Höhe schnellenden Opferzahlen im Gazastreifen zu Solidaritätskundgebungen aufrief, war sie es, die im Rahmen der Sicherheitskooperation mit Israel die Zugangswege zu Checkpoints versperrte, um, wie am Tag der Eröffnung der US-Botschaft, Konfrontationen zwischen Palästinensern und israelischer Besatzungsmacht zu unterbinden. Hassan Ayoub von der Universität Nablus hatte mir in einem Gespräch vor acht Monaten erläutert, was die Überführung von 90% der palästinensischen Westbank-Bevölkerung aus israelischer Kon- trolle in die polizeiliche Überwachung durch die Autonomiebehörde bedeutet: „Wir haben die Fähigkeit verloren, die Besatzung zu konfrontieren. Wenn wir protestieren, gehen wir auf die zentralen Plätze unserer Städte und schreien ins Nichts. Israel hat alle unsere Kapazitäten, Widerstand zu leisten in einen Strohmann namens Autonomiebehörde verwandelt. Ich wusste, dass Oslo nicht gut war. Aber ich hätte mir nicht vorstellen können, dass es uns in Stellvertreter verwandeln würde.“

Aus Teilen der jüdischen Gemeinde in den Vereinigten Staaten wurde das Vorgehen der israelischen Regierung deutlich kritisiert, Belgien bestellte die israelische Botschafterin ein und Südafrika zog aus Protest seinen Botschafter aus der Hauptstadt Tel Aviv ab. Die Berichte in den deutschen Medien, aber auch international, waren gemischt. Von „der Grenze zu Israel“ war u.a. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Rede (obwohl es sich nicht um eine Grenze handelt), die ARD sprach von „blutigen Zusammenstößen“ (was irreführend ist, weil es auf der einen Seite Protestierende gab, die von erhöhten Positionen aus durch Soldaten beschossen wurden). Weithin wurden Stellungnahmen der israelischen Regierung zitiert, die besagten, die „Randalierer“ seien nur durch die Hamas aufgehetzte Massen gewesen (als hätten die Leute ohne die Hamas keinen Grund zu demonstrieren gegen Besatzung, Kollektivbestrafung und fortwährende Völker- und Menschenrechtsverletzungen).

Auch uns erreichten teils aufgebrachte Schreiben, weshalb wir Hamas-Anhänger in Schutz nähmen, Israel habe schließlich gewarnt, „an der Grenze“ zu schießen. Das Problem an dieser Argumentation ist, dass den betroffenen Opfern dabei ein eigener politischer Wille abgesprochen und die Legitimität ihrer Entscheidung, gegen Unrecht zu protestieren und dabei auch die eigene Unversehrtheit zu riskieren, in Frage gestellt wird. Die Zuordnung zur Hamas, ob den Tatsachen entsprechend oder nicht, erklärt Menschen damit für vogelfrei. Als hätten sie qua ihrer politischen Zugehörigkeit ihr Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, ja ihr Recht zu leben verwirkt, völlig unabhängig davon, ob sie sich im Einzelfall etwas haben zuschulden kommen lassen oder nicht.

Auf die (diskursive) Opferumkehr wies die palästinensischstämmige US-Menschenrechtsanwältin Noura Erekat in einem Interview mit dem Fernsehsender CBS hin: „Wir haben fast alles versucht, und bei allem, was wir tun, wurde uns gesagt, es sei unsere Schuld, dass wir nicht frei sein können. Das ist das Problem. Es ist fast, als würde Afro-Amerikanern gesagt: Ihr könnt nicht frei sein, es sei denn, ihr kapituliert und hört auf zu protestieren und nach Gleichheit und Freiheit zu verlangen. Als ob es die Schuld von Martin Luther King gewesen wäre, dass er über die Brücke in Selma gehen musste und nicht die Schuld der weißen Suprematie, die eine Bevölkerung unterwarf.“

Dabei ging es den Menschen um die anhaltende Abriegelung des Gazastreifens, die fortschreitende Kolonisierung der Westbank, kurz um Grundrechte, Freiheit und Würde. Und es ging darum, im Ringen um diese Rechte überhaupt wieder einmal wahrgenommen zu werden. Die israelische Journalistin Amira Hass zitiert in einem ihrer Texte einen Freund in Gaza: „Wir sind ein Volk ohne Ressourcen, und jetzt auch ohne eine Vision oder einen Plan, am absoluten Tiefpunkt, was internationale Unterstützung und interne Organisation angeht. Aber wir gingen demonstrieren, um die Feierlichkeiten zum Umzug der Botschaft zu sprengen. […] Wir gehen protestieren, um nicht lautlos zu sterben, weil wir es satt haben, still und leise in unseren Häusern zu sterben.“

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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