Die Mitarbeiter*innen von Physicians for Human Rights Israel (PHR-IR) beschaffen mit Unterstützung von medico medizinische Ausstattung, Medikamente und Bedarfsmaterialien und bringen sie mit einer fachärztlichen Delegation nach Gaza. Die Teilnehmenden der Delegation verteilen sich dort auf unterschiedlichen Krankenstationen, um bei der Versorgung der Verletzten zu unterstützen und übergeben Material an die Krankenhäuser.
Solidarische Hilfe wird dringend benötigt, denn es bestehen aktuell enorme Versorgungslücken in den Krankenstationen in Gaza. Bitte helfen Sie den medico-Partnern vor Ort mit einer Spende:
Weitere medico-Partner unterstützen bei Versorgung der Verletzen und leisten Rechtsbeistand. Riad Othman schreibt über die aktuelle Situation vor Ort, den „Schwarzen Montag“ und die Arbeit der Partnerorganisationen:
Vor wenigen Tagen sprachen mein Kollege Dieter Müller und ich in Gaza mit jungen Leuten, die sich bei der medico-Partnerorganisation Palestinian Medical Relief Society (PMRS) als freiwillige Ersthelfer engagieren. Bei den Protesten evakuieren sie Verwundete aus der Gefahrenzone und tragen dazu bei, die medizinische Erstversorgung sicher zu stellen.
Mahmoud Al-Da’ur ist Ingenieur. Das vernichtende Bombardement des Gazastreifens 2008/2009 brachte ihn dazu, sich als freiwilliger Ersthelfer zu engagieren. Damals war er Anfang 20. Seither ist er immer wieder für die PMRS im Einsatz. „Im Feld gibt es keine Sicherheit. Wenn wir Verletzte bergen, gibt es keine Kommunikation mit den Soldaten. Wir gehen langsam mit erhobenen Händen zu den Verwundeten. Aber eine Garantie dafür, dass nicht auf dich geschossen wird, gibt es nicht. Ich habe auch den Eindruck, dass die Soldaten überhaupt nicht zwischen medizinischem Personal, Journalisten und Demonstranten unterscheiden. Und damit meine ich nicht, dass es legitim wäre, auf Protestierende zu schießen“, sagt Mahmoud.
Ahmed Ra’i, ein 29jähriger Krankenpfleger der PMRS, der kurz vor der Vollendung seines Masters in Krisen- und Katastrophenmanagement steht und sich an seinem freien Tag als Sanitäter engagiert, ergänzt: „Sogar die Gesundheitsstationen in den Protestcamps, hunderte Meter vom Zaun entfernt, wurden mit Tränengas beschossen." Die Krankenschwester Nada Al-Aham ist 21, lebt in Khan Younis und engagiert sich ehrenamtlich bei der PMRS, aber auch in Gazas größtem Krankenhaus Shifa: „In Khan Younis schien es für Frauen sicherer, sich als Ersthelferinnen dem Zaun zu nähern, aber ich sehe das als Ausnahme, nicht als Regel. Verlassen würde ich mich darauf nicht.“
Die Generation ihrer Väter hat in vielen Fällen jahrelang, mitunter für Jahrzehnte in Israel gearbeitet. Die meisten verloren bereits Ende der 1990er Jahre ihre Arbeitsgenehmigungen, als Israel die Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Menschen von Gaza massiv verschärfte. Sie sehnen sich nach den alten Verhältnissen. Ihre Kinder hingegen wollen keine „liberalere Besatzung“.
Gleiche Rechte
Ihr Traum erschöpft sich nicht darin, als Niedriglohnkräfte nach Israel pendeln zu dürfen. Sie wollen gleiche Rechte. Sie verlangen als gleichwertige Menschen anerkannt zu werden. Auch deshalb sagt Ahmed: „Natürlich haben die Leute ein Recht darauf auch am Zaun zu protestieren.“ Mahmoud ist derselben Meinung. Doch die drei sind sich nicht einig darüber, wie sinnvoll der Gang an den Zaun ist. Nada warnt vor der absehbaren gewaltsamen Reaktion der israelischen Armee. Dem hält Ahmed entgegen, dass vor allem wegen dieser Eskalation berichtet wird. Die Anliegen der Bevölkerung, die in den Protestcamps auch in Workshops und Aktivitäten für Kinder ihren Ausdruck finden, hätten ansonsten überhaupt keine mediale Aufmerksamkeit erfahren.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen schafft es Gaza tatsächlich nur dann in die Schlagzeilen, wenn es dort zu hohen Opferzahlen kommt, um dann schnell wieder der Vergessenheit anheimzufallen. Dann ist es wieder ein stilles Leiden, das zwar auch von internationalen Regierungen als Übel beklagt wird, unter Hinweis auf israelische Sicherheitsinteressen und die Rolle der Hamas aber auch als leider unvermeidbar gerechtfertigt wird.
Dabei waren rund zwei Drittel der heutigen Bevölkerung zum Zeitpunkt des Wahlsiegs der Hamas 2006 noch minderjährig oder gar nicht geboren. Abgesehen davon hängt das Recht auf Rechte aber auch nicht vom individuellen Wahlverhalten vor 12 Jahren ab. Gaza besteht heute mehrheitlich aus Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die den Küstenstreifen noch nie verlassen konnten. Die vollständige Blockade ist eine völkerrechtswidrige Kollektivbestrafung der Gesamtbevölkerung. Die daraus resultierende Armut und fehlende Reisefreiheit rauben den Menschen jede Perspektive.
„Die Leute haben keine Wahl. Gaza fühlt sich an wie eine große Belagerung, ein großes Gefängnis. Eine Black Box“, sagt der Künstler Shareef Sarhan, der Mitglied des Kollektivs Shababek ist, das von medico darin unterstützt wird, jungen KünstlerInnen bei der Entwicklung ihrer Talente zu helfen.
Die Perspektivlosigkeit findet ihren Ausdruck auch darin, wer sich dem Zaun nähert, obwohl die Gefahr bekannt ist: Nicht so sehr diejenigen, die sich und ihre Familien in Gaza gerade noch so über Wasser halten können, riskieren ihre Gesundheit und ihr Leben am Zaun, indem sie aus ihrem Gefängnis auszubrechen versuchen, sondern jene, die längst nichts mehr zu verlieren haben. Und davon gibt es in Gaza immer mehr.
Wer jedoch glaubt, mit rein humanitärem Engagement wird sich Gaza auf Dauer befrieden lassen, sollte einmal mit Menschen vor Ort sprechen. Dann wird verständlich, dass nicht allein die Armut die Ursache der Proteste ist, sondern ein klares Empfinden darüber, was Recht und was Unrecht war, ist und bleibt. Rund 70 Prozent der Bevölkerung dort sind Flüchtlinge.
Die momentanen Proteste werden aber auch von den letzten Resten einer schon früher nur dünnen Mittelschicht getragen. Diese Klasse schmilzt weiter rapide zusammen, zuletzt auch wegen der jüngsten von Präsident Mahmoud Abbas verschärften Kürzungen von Gehaltszahlungen an die rund 40.000 Angestellten der Autonomiebehörde, die es in Gaza immer noch gibt. Diese Menschen demonstrieren und betreten dazu wie die jüngeren Protestierenden auch die von Israel unilateral festgelegte Sperrzone, die nicht klar markiert ist und den Küstenstreifen seit Jahren eines großen Teils seiner landwirtschaftlichen Nutzfläche beraubt.
Schießbefehl gegen Demonstrierende
Für die militärische Übermacht Israels stellt dies kein Risiko dar. Trotzdem machte Verteidigungsminister Avigdor Lieberman von Anfang an klar, dass die israelische Armee mit unbarmherziger Härte reagieren würde. Die Entscheidung Scharfschützen entlang des Zauns gegenüber den Protestlagern zu postieren und diese mit einem Schießbefehl gegen alle zu versehen, die sich dem Zaun nähern – unabhängig davon, ob von ihnen eine reelle Bedrohung für Leib und Leben der Soldaten ausgehen würde oder nicht – verdeutlicht, dass die Wahl auf israelischer Seite von Anfang an auf Eskalation fiel.
Die zahlreichen Opfer waren einkalkuliert. Das israelische Verteidigungsministerium versucht auch, Verwundete, die dringend medizinische Versorgung außerhalb Gazas benötigen, an der Ausreise zu hindern. Nur dank der sofortigen juristischen Intervention der langjährigen medico-Partner Adalah und Al Mezan Center for Human Rights konnte einer der ersten Betroffenen zur Behandlung nach Ramallah reisen. Das Gericht wies den Staat jedoch so spät an, den Patienten ausreisen zu lassen, dass eines seiner infolge von Schüssen verletzten Beine amputiert werden musste. Wie Dutzende andere wird er an den Folgen seiner Verwundung und an der Verweigerung des Menschenrechts auf Gesundheit durch die israelische Besatzungsverwaltung sein Leben lang zu tragen haben.
Auch die Physicians for Human Rights – Israel (PHR-I) sorgen dafür, dass Verletzte aus dem abgeriegelten Küstenstreifen gelassen werden. Ran Goldstein klagt, dass sie „in fast jedem Fall rechtlich Beschwerde einlegen müssen, weil die israelische Besatzungsverwaltung selbst die Ausreise zur medizinischen Versorgung verweigert. Mittlerweile geben die zuständigen Organe schneller nach, wenn sie Post von unseren Anwälten bekommen.“ Den Weg dafür haben Al Mezan und Adalah mit der erwähnten Petition beim Obersten Gerichtshof geebnet.
Am Nakba-Tag, der als Höhepunkt des Großen Marschs der Rückkehr und friedlicher Proteste vorgesehen war, werden höchstwahrscheinlich weitere Opfer zu beklagen sein. Es bleibt zu hoffen, dass die Menschen sie dieses Mal nicht umsonst gebracht haben, wenn alles vorüber sein wird. Die Erfahrung aber lässt befürchten, dass sich nach dem Ende wieder das Schweigen über Gaza breiten wird.
Neben der medizinischen Erstversorgung durch freiwillige SanitäterInnen der PMRS, der rechtlichen Unterstützung von Patientinnen und Patienten durch Adalah, Al Mezan und PHR-IL, betreut Fachpersonal der PMRS Verletzte zur Nachsorge in ihren Gesundheitszentren im Gazastreifen und bei Bedarf bei den Betroffenen zu Hause. Gerade angesichts der völligen Überlastung der großen Krankenhäuser sind Patientinnen und Patienten auf medizinische Nachsorge auch außerhalb der Hospitäler angewiesen. PHR-IL schickt weiterhin fachärztliche Delegationen nach Gaza.
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