Korrektur: Am Samstagmorgen berichtete medico, Razan Al-Najjar sei durch einen Schuss in die Brust ums Leben gekommen. Im Laufe des Tages änderten wir diese Mitteilung, weil unsere Partner von der Menschenrechtsorganisation Al Mezan Center for Human Rights nach ersten gesammelten Zeugenaussagen zu dem Ergebnis gekommen waren, dass es sich um einen Schuss in den Rücken gehandelt hat. Nach weiterer Überprüfung stellte sich jedoch heraus, dass die von uns ursprünglich kommunizierte Version doch die richtige war: Razan Al-Najjar wurde in der Brust von scharfer Munition getroffen, nicht im Rücken.
Von Riad Othman
Am 24. Mai lehnte der Oberste Gerichtshof die Petition der beiden medico-Partner Adalah (Haifa) und Al Mezan Center for Human Rights (Gaza) ab. Sie hatten das Gericht am 23. April dazu aufgefordert, den Gebrauch von scharfer Munition durch die israelische Armee gegen unbewaffnete DemonstrantInnen im Gazastreifen zu untersagen. Die Menschenrechtsorganisationen Association for Civil Rights in Israel, Gisha, HaMoked und Yesh Din hatten eine zweite Petition gestellt, die gemeinsam mit der unserer Partner verhandelt und auch abgelehnt wurde.
Die Richter folgten der Argumentation des israelischen Militärs, wonach die am Protest Beteiligten eine Gefahr für israelische SoldatInnen und ZivilistInnen darstellten. In ihrer Antwort auf die Ablehnung stellten Adalah und Al Mezan fest: „Der Oberste Gerichtshof Israels hat die breite Faktenbasis, die von den Petitionsstellern vorgelegt wurde und die zahlreiche Zeugenaussagen von Verwundeten sowie Berichte internationaler Organisationen beinhaltete, die an der Dokumentation der Tötung und Verwundung von unbewaffneten Protestierenden in Gaza beteiligt waren, völlig ignoriert. Es ist bemerkenswert, dass der Oberste Gerichtshof sich weigerte, sich Videos anzusehen, die den israelischen Beschuss von Demonstrierenden dokumentierten, und eher die Behauptungen des Staates völlig akzeptierte anstatt den eigentlichen Fall zu untersuchen.“
Kurz nach dem blutigen 14. Mai der Proteste im Rahmen „des Großen Marschs der Rückkehr“ kündigten die Veranstalter, aber auch in Gaza dominante politische Kräfte wie die Hamas an, dass die Freitagsdemonstrationen über den ursprünglich geplanten Schlusspunkt des 15. Mai hinaus bis zum 5. Juni fortgesetzt würden. Damit sollte nicht nur der Vertreibung und Flucht vor allem von 1948-49 im Rahmen des Nakba-Tages (alljährlich der 15. Mai) gedacht werden, sondern auch der sogenannten Naksa (arabisch: Rückschlag), womit die arabische Niederlage im Krieg von 1967 gemeint ist, der damals am 5. Juni begann.
Rückblende
Vor gut drei Wochen traf ich mich in Gaza-Stadt mit drei freiwilligen Ersthelfern des langjährigen medico-Partners Palestinian Medical Relief Society (PMRS). Nada Al-Aham, Ahmed Ra’i und Mahmoud Al-Da’ur sind zwischen 21 und 31 Jahre alt. Zwei von ihnen, Nada und Mahmoud, engagieren sich ehrenamtlich als ErsthelferIn bei der PMRS, während Ahmed dort auch hauptamtlich als Krankenpfleger arbeitet, während er noch studiert. Alle drei waren zu dem Zeitpunkt seit Jahren als medizinische Nothelfer immer wieder für die PMRS im Einsatz und seit dem Beginn der Proteste Ende März auch immer bei den großen Demonstrationen am Zaun zu Israel anwesend. Dort bargen sie auch Verletzte aus der Gefahrenzone, d. h. der rund 300 Meter tiefen Pufferzone zum Zaun hin.
Auf die Frage, wie das mit der Bergung überhaupt funktioniere, wenn scharf geschossen werde, sagte Mahmoud damals: „Im Feld gibt es keine Sicherheit. Wenn wir Verletzte bergen, gibt es keine Kommunikation mit den Soldaten. Wir gehen langsam mit erhobenen Händen zu den Verwundeten. Aber eine Garantie dafür, dass nicht auf dich geschossen wird, gibt es nicht.“ Alle drei hatten damals angesichts der Zahl verletzter KollegInnen den Eindruck, dass nicht einmal zwischen medizinischem Personal, JournalistInnen und DemonstrantInnen unterschieden werde, umso weniger zwischen friedlich und gewalttätig Protestierenden.
Nada lebt in Khan Younis. Sie ist mit ihrem Team deshalb meistens auch dort im Einsatz. Sie beschrieb, wie sie Verletzte auch aus der Nähe des Zaunes geborgen hatte. Einmal war ihr besonders im Gedächtnis geblieben: „In Khan Younis schien es an dem Tag für Frauen sicherer, sich als Ersthelferinnen dem Zaun zu nähern. Also ging nur ich, sehr langsam, mit erhobenen Händen und klar als medizinisches Personal erkennbar, wie es unser Sicherheitsprotokoll vorsieht, zu dem Verwundeten. Dann brachte ich ihn aus der Pufferzone, damit wir ihn verarzten konnten.“ – „Du hast einen Erwachsenen alleine aus der Pufferzone getragen?“ – „Ich zog ihn an den Armen. Das ging, weil es kein Mann war, mehr ein Junge, vielleicht 14, 15 Jahre alt.“ – „Konntest du sicher sein, dass dir dabei nichts passiert?“ – „Nein. Dass mir als Frau erlaubt wurde mich dem Zaun zu nähern, sehe ich als Ausnahme, nicht als Regel. Verlassen würde ich mich darauf nicht. Es gibt ja keine direkte Kommunikation.“
Epilog
Eine ihrer Kolleginnen, Razan Al-Najjar, lebte in Khuza’a, östlich von Khan Younis. Neben dem weiter nördlich gelegenen Shuja’iya war dies das im Krieg von 2014 am stärksten zerstörte Stadtviertel des gesamten Gazastreifens. Nada und Razan engagierten sich nicht nur beide in Khan Younis, sie waren auch gleich alt. 21 Jahre. „Auch wenn Verletzte in der Nähe des Zauns liegen, gehen wir da hin, um zu helfen. Wir sind Ersthelfer. Das ist, was wir tun“, hatte ihr Kollege Mahmoud am 10. Mai gesagt.
Bei den Freitagsprotesten am 1. Juni 2018 wurde Razan Al-Najjar, die sich ehrenamtlich als Krankenschwester und Ersthelferin engagierte, durch das Feuer eines israelischen Scharfschützen getötet. Laut Zeugen, die von Al Mezan Human Rights Center befragt worden sind, wurde sie östlich von Khan Younis bei dem Versuch, einen verletzten Demonstranten gemeinsam mit anderen in Richtung der Sanitätszelte im örtlichen Protestcamp zu evakuieren, gegen 18:45 Uhr durch einen Schuss in die Brust mit scharfer Munition tödlich verwundet. Razan war in ihrer weißen Bekleidung klar als Sanitäterin erkennbar und befand sich etwa 100 Meter vom Zaun entfernt. Sie wurde noch aus der Pufferzone getragen, und in einem Sanitätszelt vor Ort gab es eine erste notfallmedizinische Versorgung inklusive künstlicher Beatmung, bevor sie ins Nasser Hospital in Khan Younis transportiert wurde. Dort musste eine halbe Stunde später ihr Tod festgestellt werden. Das war nicht das erste Mal, dass Razan im Einsatz durch die israelische Armee verletzt wurde. Am 20. April traf sie ein gummiummanteltes Stahlgeschoss am Fuß, am 28. April ein Tränengaskanister auf der Brust. Auch 29 weitere SanitäterInnen der PMRS wurden während der Proteste verletzt. Razan aber ist das erste Todesopfer.
medico trauert mit den Angehörigen und FreundInnen Razan Al-Najjars und mit den KollegInnen der PMRS. Angesichts der Ereignisse der letzten Wochen und des Todes unserer Kollegin bekräftigt medico seine Unterstützung für eine unabhängige Untersuchungskommission der Geschehnisse im Gazastreifen seit Beginn der Proteste. Die Entsendung einer solchen wurde im Mai durch eine Mehrheit von 29 zu 2 Stimmen bei 14 Enthaltungen im UN Menschenrechtsrat beschlossen, in dem kein Staat ein Vetorecht hat. Die Vereinigten Staaten hatten zuvor ihr Veto genutzt, um eine entsprechende Resolution im UN-Sicherheitsrat zu blockieren. Die israelische Regierung hat bereits angekündigt, nicht mit der Kommission kooperieren zu wollen.