Aussöhnung?

Gaza zwischen Angst und Hoffnung

04.10.2017   Lesezeit: 7 min

Hamas und Fatah verhandeln. Eine Lösung, auch mit Israel, wäre eine echte Chance, birgt aber auch große Gefahren. Stimmen aus Gaza und dem Westjordanland.

In Khan Younis erzählt Murad Abu Daqa von der Culture and Free Thought Association über sich: „Wenn ich könnte, würde ich Gaza heute verlassen – aber nur für 10-12 Tage, vielleicht zwei Wochen. Dann würde ich zurückkommen. Ich war in Norwegen, Belgien, zweimal in Frankreich, in Jordanien und Dubai und sogar in Dänemark. Ich will gehen und mir all die Orte anschauen. Ich reise gerne, aber meine Wurzeln sind hier. Das ist, wer ich bin. Ich möchte in Gaza leben, am Meer. Ich würde gerne gehört werden, weil die Leute schlechte Vorstellungen von Gaza haben. Ich hätte gerne, dass die Leute verstehen, dass wir auch Träume haben, dass wir Familien gründen und reisen wollen, dass wir gute Nachbarn und funktionierende Gemeinschaften haben wollen.“

Mein erster Gedanke, wie privilegiert ich im Vergleich bin, wie privilegiert alle sind, die einen Pass besitzen, der ihnen das Reisen ermöglicht, ist verkehrt. Nicht wir sind privilegiert, sondern jene Unsichtbaren sind entrechtet. Ein Grundrecht sollte kein Privileg sein.

„Gaza ist wie mein Kind“, ergänzt Murads Kollegin Majeda Al Saqqa, „aber zwischendurch willst du mal mit Freunden essen oder was trinken gehen und eine Pause machen. Ich würde Gaza niemals verlassen, um woanders zu leben. Etwas, das ich nie woanders gesehen habe, auch nicht in Ramallah, ist, dass, egal bei welchem Anlass, ob fröhlich oder traurig, du hier nie alleine stehen wirst. Es werden immer Leute bei dir sein.“

Die Hoffnung lässt vergessen

Hamas und Fatah verhandeln. Majeda und Murad hoffen darauf, dass es dieses Mal mit der innerpalästinensischen Aussöhnung klappt. Dabei machen sie sich keine Illusionen darüber, wie schwierig das wird – angefangen bei Machtfragen wie der zukünftigen Rolle der Qassam-Brigaden zu praktischen wie der nach der Integration zweier parallel existierender Verwaltungs- und Regierungsapparate. Über 50.000 Menschen hat die Hamas in dem Jahrzehnt ihrer Herrschaft in Dienst genommen: Beamten in Behörden ebenso wie Polizisten, Lehrerinnen usw.

Zwar hat die israelische Regierung den Konvoi des palästinensischen Premierministers aus Ramallah am Montag durch ihr Staatsgebiet passieren lassen, aber Benjamin Netanjahu hat sich tags darauf gegen die innerpalästinensische Aussöhnung gestellt. Stolpersteine auf dem Weg gibt es auch ohne israelische Einmischung genug. Samir Zaqout vom Al Mezan-Menschenrechtszentrum in Gaza-Stadt erklärt meinem Kollegen Dieter Müller und mir: „Das sind verwirrende Gefühle. Wir hoffen, dass es trotz der Hindernisse zur Aussöhnung kommt.“

Kinder, Jugendliche und Erwachsene, vor allem Männer, stehen mit palästinensischen Flaggen und Fähnchen entlang der Hauptstraße, die von Erez nach Gaza führt. Menschenansammlungen auf Kreuzungen und Autos mit wehenden Fahnen, wie nach einem Fußballspiel. Ein alter Mercedes ist mit Al Sisi-Postern plakatiert. Sein Geheimdienst spielt eine tragende Rolle in den Verhandlungen zwischen der Hamas und der Autonomiebehörde/Fatah. Die Rolle Ägyptens bei der Abriegelung der Enklave und für die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Würgegriffs scheint vergessen. Die Bevölkerung feiert, obwohl noch keine einzige Verbesserung der Lebensumstände in Gaza beschlossen worden ist.

Große Zweifel

Samir befürchtet, dass auch die innerpalästinensische Aussöhnung – falls sie überhaupt glücken sollte – keinen Frieden bringen wird. „Trump hat im Zusammenhang mit seinem ‚Jahrhundert-Deal‘ darüber gesprochen, dass sie auf palästinensischer Seite einen Ansprechpartner brauchen. Er hat auch mal von Gaza als möglichem Staat gesprochen. Das ist für die palästinensische Seite nicht annehmbar. Ich fürchte, es wird wie Oslo werden. Nur ein Abkommen darüber, dass wir Frieden schließen sollen, aber kein Friedensabkommen. Vielleicht wird es große Investitionen für Gaza geben, die Schaffung von ein paar Tausend Arbeitsplätzen, aber keine Lösung des eigentlichen Konflikts. Es ist auch unklar, was Abbas eigentlich will. Wir hatten das schon: Er stimmte zu, Probleme zu lösen, und tat nichts. Die neue Verbindung mit Ägypten schwächt die Beziehungen der Hamas zu Katar und der Türkei. Die Hamas sähe für sich vielleicht am liebsten eine Lösung nach dem Vorbild der Hisbollah, aber das hier ist nicht Libanon.“

Andere sehen das ganz ähnlich. „Die Hamas braucht jetzt Ägypten“, sagt Shawan Jabareen von Al Haq. „Im Hintergrund läuft etwas ab. Dabei könnte eine ‚Lösung‘ herauskommen, die für Gaza und die Westbank wirklich schlecht sein könnte.“ Wie das aussehen könnte, beschreibt Samir Zaqout: „Staat und Hauptstadt in Gaza mit einer gewissen Unabhängigkeit für uns hier und Verbindungen zu palästinensischen Bevölkerungszentren auf der Westbank, die ein Flickenteppich aus Städten und Kantonen wäre.“ So stellt es sich der Bildungsminister Naftali Bennett ungefähr auch vor, der Vorsitzende der Siedlerpartei Das Jüdische Heim.

„Die Menschen hier sind mittlerweile bereit, vieles zu akzeptieren“, sagt Samir, „die jungen Leute träumen davon, einen Job zu haben, davon, dass sie von hier weg können. Darin erschöpfen sich ihre Träume. Die Situation ist so schlimm geworden, dass viele hier zum ersten Mal ernsthaft über Auswanderung nachdenken. Die Leute werden alles akzeptieren, um ihre Lage zu verbessern.“

Ramallah, Käfig aus Gold

Auch in Ramallah, das – wie in Israel Tel Aviv – auf der palästinensischen Seite als Blase gilt und wo junge Leute mehr Freiheiten haben als in Gaza, fühlen sich Menschen wie auf einer einsamen Insel. „Ich bin eigentlich ein optimistischer Mensch“, erzählt ein Aktivist, „aber der Horizont der Möglichkeiten hier ist sehr eng geworden. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und ich habe das Gefühl, dass die meisten Jobs unter der Hand immer schon vergeben sind. Ich schäme mich, wenn ich Freunden in Gaza davon erzähle, dass ich mich in Ramallah fühle, als müsste ich ersticken. Wenn ich es trotzdem sage, fragen sie mich, warum ich mich beklage. Aber das hier ist ein Käfig aus Gold. Egal in welche Richtung ich laufe, renne ich nach drei Kilometern gegen eine Mauer. Ich will nicht viel. Ich will einfach die gleichen Rechte wie die Israelis.“

Er wurde von israelischen Sicherheitskräften verhaftet. Er wurde angeschossen. Palästinensischer Geheimdienst hat ihn allein dreimal verhaftet, nachdem er mit Freunden in einem Café über Politik diskutiert und das Präsidialregime unter Abbas kritisiert hatte. Er wurde schwer misshandelt und will nicht, dass ich seinen Namen nenne.

Fehlendes Selbstvertrauen

Auch der Blogger, mit dem wir uns abends in Ramallah treffen, möchte lieber nicht namentlich genannt werden. „Die Leute in Gaza und hier waren schon immer voneinander getrennt. Aber in Gaza – und irgendwie auch hier, aber auf andere Art – sind die Leute darauf konditioniert worden zu warten. Warten tötet jede Initiative, es tötet alles. Ich hasse warten. Ich habe nie auf einen Staat oder auf Unabhängigkeit gehofft, aber auf Freiheit. Auf die Freiheit mich fortzubewegen. Wir leben doch in einer Blase, aber nicht nur hier in Ramallah, sondern auch in Nablus, Dschenin usw. Dieser Staat, das alles ist eine Blase. Du hast mit Beamten und Behörden zu tun, als gäbe es hier keine Besatzung. Die Palästinenser sind wie Wasser. Wenn du es auf den Boden schüttest, findet es seinen Weg. Wenn Israel was in den Weg stellt, fließt es drum herum. Die Leute haben aufgehört, Hindernisse wahrzunehmen, sie manövrieren herum, diskutieren sie aber nicht mehr, besonders in den Städten. Uns fehlt es an Selbstvertrauen.“

Die Lösung hängt an einem seidenen Faden, denn sie ist abhängig vom guten Willen vieler Beteiligter. Reine Gutwilligkeit ist jedoch ein seltenes Motiv. Die Akteure handeln aus jeweiligem Eigeninteresse. Der palästinensischen Bevölkerung bleibt hingegen nur die Hoffnung auf ein Gelingen der Aussöhnung. Diese würde aber weder die Beendigung der Abriegelung Gazas garantieren noch die weitere Konfliktlösung mit Israel. Obwohl die Aussöhnung keine Bedingung sein sollte, erscheint eine Verbesserung der Situation ohne sie weiterhin in unerreichbarer Ferne. Die Europäische Union und die Bundesregierung sollten diesen Prozess deshalb nach Kräften unterstützen und dann auch sicherstellen, dass sich die Fehler von Oslo nicht wiederholen.  

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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