Kommentar

Hilfe, die Hilfe

22.03.2023   Lesezeit: 7 min

Die trügerische Hoffnung auf Zivilgesellschaft und die Hilfe als Ersatz für Politik.

Von Katja Maurer

Mit dem Ende der Sowjetunion und des Warschauer Paktes im Jahr 1990 schien das „Ende der Geschichte“ gekommen. Es galt bloß noch, die Verwaltung einer liberal organisierten kapitalistischen Welt zu bewältigen und ihre hier und da auftauchenden Probleme und Krisen zu lösen. So hieß es. Aber es gab Ereignisse, die einen Bruch dieser Erzählung darstellten. Eines davon war der sogenannte dritte Golfkrieg, der vor 20 Jahren am 20. März 2003 begann. Der von den USA und Großbritannien angeführte Irakkrieg wurde unter der nachweislich falschen Behauptung, der Irak besitze verbotene Massenvernichtungswaffen, als ein Weltordnungskrieg geführt. Passend zur Erzählung, dass man (oder vielmehr die USA als der eigentliche Welthegemon) Konflikte nur noch einhegen und lokal ordnen müsse, flatterte der Krieg weltweit in die Wohnzimmer in der Anmutung eines Computerspiels.

Dass er keine Sache von Tagen war, dass der Krieg Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Opfern kostete und der Irak bis heute ein dysfunktionales Staatswesen ist, ist bekannt. Der Irakkrieg ist die Geburtsstunde einer von außen durchgeführten Regime-Change-Politik im Namen der Weltgemeinschaft und der Menschenrechte. Im Angesicht blutrünstiger Herrscher wie Saddam Hussein schien das moralisch gerechtfertigt, ist aber trotzdem gescheitert. Der Krieg hat den Nahen und Mittleren Osten in ein bis heute anhaltendes dramatisches Chaos gestürzt, bei Demokratiebewegungen falsche Hoffnungen auf altruistische Militärhilfe geweckt und mit der Ausrufung des Anti-Terror-Kriegs die Welt in ein Freund-Feind-Schema gezwungen, in dem nicht nur grundlegende Rechte Einzelner verletzt wurden – das Foltergefängnis Abu Ghraib oder Guantanamo sind nur Stichworte für ein illegales, weitgehend unsichtbares weltweites Verfolgungssystem. Er war auch der Beginn einer neuen Form von Antiislamismus, der Muslime mit dem Terrorverdacht homogenisierte und so zu Menschen zweiter Klasse machte.

Auch auf der Seite der Kriegsgegner:innen, die die Mehrheit der Regierungen auf ihrer Seite hatten, ist der Irakkrieg ein Einschnitt. Bevor der Krieg begann, gab es bei einem weltweiten Aktionstag mit 15 Millionen Teilnehmer:innen die größten Demonstrationen gegen den Irakkrieg, die zugleich ein letzter Mobilisierungshöhepunkt der auslaufenden Globalisierungsbewegung waren. Heute würde man von einer defizitären Revolution sprechen.

Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy, die eine Sprecherin dieser Bewegung war, bezeichnete die Nichtverhinderung des Irakkrieges trotz des massiven Widerstands als die endgültige Niederlage der globalisierungskritischen Bewegung. In einem Gespräch zum 10. Jahrestag dieses Krieges machte sie darauf aufmerksam, dass die Medien nicht nur die Fake News zur Begründung des Krieges ständig wiederholten, sondern auch im hohen Ton der Moral den Krieg legitimierten. Er habe außer der Rüstungsindustrie keine Sieger gehabt, aber die betroffenen Gesellschaften und insbesondere die Frauen in das Mittelalter der Entrechtung befördert: Eine freie Presse, die ungeachtet dessen Argumente zur Rechtfertigung des Krieges wiederhole, sei „das hohle Kissen“, so Roy, „auf dem sich die westliche Demokratie ausruht“.

Militärisch eingebettet

Roy bezog sich auch auf die Tatsache, dass die Presse damals nur über den Krieg berichten konnte, wenn sie sich bei der britischen oder der US-Armee „einbettete“. Das nannte sich „embedded press“. Dasselbe galt für die Hilfe. Humanitäre Hilfe konnte nur in Absprache mit den kriegsführenden Armeen durchgeführt werden. Exakt zu dieser Zeit führte medico eine Konferenz mit dem Titel „Macht und Ohnmacht der Hilfe“ durch, die der Auftakt zu einer langen und bis heute andauernden kritischen Beschäftigung mit Hilfe, ihrer ambivalenten Wirkung und ihrer fortschreitenden Entpolitisierung bildete.

Der Vertreter des Roten Kreuzes wandte sich damals im Angesicht des Irakkrieges eher verzweifelt gegen die Forderung nach einem politischen Verständnis der Hilfe mit der Begründung, unter den gegenwärtigen Bedingungen sei es für Organisationen wie das Rote Kreuz schon schwierig genug, die Neutralität der Hilfe zu verteidigen. „Tausend Fragen, eine Antwort: Hilfe“ – das plakatierte damals eine deutsche Hilfsorganisation, ganz im Gestus des liberalen Pragmatismus, der die Grundfragen für geklärt hielt und Hilfe nur noch im Hinblick auf den möglicherweise schwierigen Zugang zu den „Bedürftigen“ oder entlang der Frage nach den richtigen Methoden problematisierte.

Ukraine

Im Kontext des Ukraine-Kriegs ist Hilfe erneut auf unerhörte Weise mit dem Militärischen verknüpft. Als wolle man hier nun endgültig den Schlussstein hinter die Idee von Hilfe als einer Form der solidarischen und unberechenbaren Beziehung setzen. In Grafiken des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, die sich mit den internationalen Ukraine-Verpflichtungen beschäftigen, zeigen Säulen die Hilfen, in der Kredite, Militärexporte und humanitäre Unterstützung in eins gesetzt sind. Der Anteil der humanitären Hilfe ist dabei so gering, dass sie vor allen Dingen die militärische Unterstützung legitimiert. Ein Sternchen in den Grafiken verweist darauf, dass die privaten Spenden nicht abgebildet sind. Diese werden von privaten Organisationen nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten und ohne jede Koordination gut oder schlecht verausgabt.

Im Kontext der Ukraine erlebt das Konzept des „besser wieder aufbauen“, das von Afghanistan bis Haiti krachend gescheitert ist, eine seltsame Renaissance. Auf der Wiederaufbaukonferenz in Lugano im Juli 2022 unter maßgeblicher Beteiligung ukrainischer Regierungsvertreter und global agierender Hightech-Konzerne tauchte die Losung wieder auf. Das Land, so schreibt die Schweizer Wochenzeitung WOZ, „soll nicht bloß wiederaufgebaut, sondern neu erfunden werden.“ Grün, digital, aufgeschlossen. Aber vor allen Dingen eins sein: offen für Investoren und Konzerne. Bisweilen frage man sich beim Zuhören: „Reden die von einem Staat – oder von einem Start-up?“, resümiert die WOZ. Internationale Konzerne übernehmen die Wirtschaft, internationale und nationale NGOs die Wohlfahrt. Das wurde dort allen Ernstes als Programm verkündet.

Heute, 20 Jahre nach dem Irakkrieg, bewegt sich die Hilfe zwischen politischer Instrumentalisierung und Entpolitisierung. Erstere lässt sich nach dem Erdbeben in der Türkei unter Erdogan und in Syrien unter Assad beobachten. Die entpolitisierte Hilfe wiederum wickelt Hilfe ab, ohne sich nach der Wirkung zu fragen oder sich gar den Kontexten zu stellen, in denen sie Not lindert oder Schaden anrichtet. Sie ist heute außerdem entkleidet von den neoliberalen Versprechen, die noch nach dem Tsunami 2005 und den großen Naturkatastrophen in Haiti und Pakistan 2010 galten und von einer agierenden Weltgemeinschaft in Form von UNO und globaler Zivilgesellschaft getragen wurden. Sie redeten einem Wiederaufbau zum Besseren hin das Wort. „Build back better“ lautete das Motto, ganz im Sinne einer technokratischen Hilfe im Reparaturbetrieb des Neoliberalismus. Tatsächlich wurden solche Versprechen nur gegeben, wenn es sich um eine „media driven emergency “ handelte, also eine Katastrophe, die von den Medien wahrgenommen und gepusht wird. Die Technisierung der Sprache mit den erwähnten Anglizismen ist dabei Teil eines Marketings der Entpolitisierung, die sich nur für das interessiert, was medial verwertbar ist, nicht nach Ursachen fragt und keinen Horizont hat, der über die medial vermittelte Gegenwart hinausgeht.

Zwischen Instrumentalisierung und Entpolitisierung

Schon der kamerunische Historiker Achille Mbembe sprach in seiner „Kritik der schwarzen Vernunft“ davon, dass das Kapital seinen äußersten Fluchtpunkt erreicht hat und alles mit einem Marktwert ausgestattet wird. Ob Krieg oder Wohlfahrt – nichts bedarf mehr einer gesellschaftlichen Übereinkunft, eines demokratischen Streits darüber, wie diese zu gestalten oder wie viele Opfer in Kauf zu nehmen seien. Ein Verständnis von Hilfe, die im Horizont eines Rechts auf Hilfe gedacht ist, die sich als Vorgriff auf eine öffentliche Infrastruktur begreift, die eigentlich allen gelten muss und die um ihre Grenzen weiß, so lange sie nicht für alle gilt, wirkt wie aus der Zeit gefallen. Das weist weit über die Ukraine hinaus, wenn hier exemplarisch die neue Weltordnung verhandelt wird.

Tatsächlich ist der Ort der Verhandlung nicht überraschend, denn die Schocktherapie, mit der der ehemalige Ostblock privatisiert wurde, hat jede Idee des Öffentlichen und Gemeinsamen mit beseitigt. An die Stelle hatte man das schwammige Wort von der Zivilgesellschaft gesetzt. Die albanische Philosophin Lea Ypi beschreibt diesen Prozess des Übergangs vom albanischen Sozialismus zum Liberalismus überaus kritisch und humorvoll in ihrem im letzten Jahr erschienenen Buch „Frei“: Die Zivilgesellschaft sollte außerhalb des Staates stehen, ihn gegebenenfalls ersetzen. Sie habe aus vielen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bestanden, die zumeist „mit der Hilfe unserer Freunde aus dem Ausland“ gegründet worden seien. All diese harmonischen Vorstellungen von den Möglichkeiten einer Zivilgesellschaft konnten in Albanien später einen kurzen, aber verheerenden Bürgerkrieg nicht verhindern.

Wenn Lea Ypi schreibt, dass ihre heutige Welt von der Freiheit so weit weg sei wie die Welt, der ihre Eltern entkommen wollten, dann ist das ein bitteres Fazit der letzten 30 Jahre, zu denen eben auch als Begleitphänomen die Entpolitisierung der Hilfe wie aller sozialen Fragen gehört. 2003 hat medico auf der Konferenz „Macht und Ohnmacht der Hilfe“ versucht, diesen Punkt zu setzen. Eine kritische Hilfe ist politisch. Dies immer wieder neu auszubuchstabieren im Denken und in der Praxis, bleibt Suchbewegung und Aufgabe.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Katja Maurer hat sich in dem bei Brandes&Apsel erschienenen Buch „Haitianische Renaissance – der lange Weg zur postkolonialen Befreiung“ am Beispiel Haiti ausführlich mit den Folgen internationaler Hilfe und den neokolonialen Praktiken beschäftigt, die Hilfe mit Marktliberalisierung verbinden.

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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