Während im Dezember 2024 in Syrien das Assad-Regime gestürzt und Gefängnisse geöffnet wurden, begann in Deutschland die heiße Phase des Wahlkampfes. Letztlich war er nicht mehr als eine migrationsfeindliche Kakophonie. Die Wahl ist mittlerweile gelaufen und das Ergebnis verkündet. Dennoch wird es wohl eine ganze Zeit dauern, bis sich ihre tatsächliche, zweifellos historische Bedeutung erschließen wird. Rund zehn Millionen Stimmen hat die AfD im ganzen Land bekommen, in Ostdeutschland hat sie bis auf wenige Ausnahmen alle Wahlkreise gewonnen.
Wahlkampf- und Schützenhilfe kam dabei nicht zuletzt aus den USA, genauer vom reichsten Mann der Welt: Elon Musk. Der leitet mittlerweile das „Department of Government Efficency“ in den USA. Kürzlich schenkte ihm der argentinische Präsident Milei bei einem Besuch für diese neue Aufgabe öffentlichkeitswirksam eine Kettensäge – ein Symbol, mit dem Milei während seines Wahlkampfes aufgetreten war und mit dem er nach seiner Wahl zum Präsidenten gar nicht mehr symbolisch Hand angelegt hat an Sozialstaat, politische Rechte und das, was manche Bürokratie, andere Demokratie nennen.
Es konnte angesichts dieser unvollständigen Auflistung bereits im Wahlkampf keinen Zweifel daran geben, dass unsere Zeit eine des aufstrebenden Autoritarismus ist, der die zunehmenden geopolitischen Spannungen und militärischen Eskalationen weltweit begleitet. Ein Autoritarismus, der keinesfalls bloß „von außen“, sondern aus der Mitte westlicher Demokratien und ihrer Eliten kommt. Zur Erinnerung: Es wollten auch hierzulande einige Spitzenpolitiker „mehr Milei und mehr Musk wagen“. Doch statt diesen sich schon lange abzeichnenden Realitäten im Wahlkampf mit einer angemessenen Debatte zu begegnen, wurden sie entweder hingenommen oder mit einem alten, aber deswegen nicht minder irrwitzigen Taschenspielertrick beantwortet.
Ein anderes Land
So sollte nach Meinung der „Mitte“ wieder einmal die Verschärfung der Migrationspolitik, die stets auch mit einer Verschärfung der rassistischen Debatte einhergeht, das Wundermittel sein, mit dem rechtsextreme Parteien bekämpft oder sogar überflüssig gemacht werden. Wenn man die „illegalen Migranten“ loswürde, wäre man auch den Faschismus los. So weit, so falsch. Weil diese Rechnung nicht aufgeht, hat das wieder einmal nicht funktioniert – siehe zehn Millionen. Und weil es nicht funktioniert hat, wird man es jetzt noch einmal versuchen, noch ein bisschen härter. Man fragt sich: Wann wird Deutschland endlich verstehen, dass die Migration ebenso wenig Schuld am aufstrebenden Faschismus trägt wie Jüdinnen und Juden am Antisemitismus?
Mit diesem Wahlkampf und dem folgerichtigen Wahlergebnis ist Deutschland jedenfalls endgültig ein anderes, ein düsteres Land geworden. Der über Jahre von rechts etablierte und nun zum Common Sense gewordene Ton wurde nicht nur von Parteien und ihren Wähler:innen angeschlagen. Vielmehr hat er den gesamten medialen Raum durchzogen und von dort aus den Gesellschaftsvertrag der Einwanderungsgesellschaft aufgekündigt. Das haben viele Menschen mit Migrationsgeschichte gehört und verstanden; in zahllosen Geschichten berichten sie davon, wie sie auf einmal zu den Straftaten anderer Stellung beziehen und sich distanzieren müssen. Besonders öffentlichkeitswirksam tat das ein afghanisches Mädchen nach dem Messerangriff in Aschaffenburg. Sie entschuldigte sich bei der Opferfamilie auf einer Mahnwache. „Menschen denken, weil ich eine Afghanin bin, dass ich böse bin.“
Rund um diese sich in erschreckender Häufigkeit ereignenden Anschläge, bei deren Besprechung es fast nur um die Nationalität der Täter, so gut wie nie um ihre soziale Situation und ebenso selten um die Opfer und ihre Angehörigen ging, hat sich beinahe unmerklich die Ethnisierung gesellschaftlicher Probleme zum neuen State of Mind der deutschen Debatte entwickelt. Sie ist das Resultat einer neuen Ordnung des Diskurses und das neue Angebot an die Massen einer autoritären politischen Kultur.
Die Ethnisierung allen Unheils zieht sich wie ein roter Faden durch die deutschen Debatten der vergangenen Jahre. Der Antisemitismus ist ein Palästinenser, der Krieg ein Russe, der psychisch Kranke ein Afghane. Ein Land und seine Öffentlichkeit, das die Welt und sich selbst nicht mehr versteht und das langsam, aber sicher in sich zusammensackt, versucht, die real existierenden Probleme innenpolitisch in der Frage der Herkunft und außenpolitisch in einer der Kulturen und ihrer Werte aufzulösen; ein Land, das sich einredet, seine Krisen durch Migration erklären zu können: Das erinnert alles nicht zufällig an die USA.
„Only AfD can save Germany”
Ein Großteil der Medien trägt dafür eine vielerorts verspürte, doch viel zu wenig problematisierte Verantwortung. Mit den immergleichen Fragen haben sie eine eigene Form der Politik betrieben, ein rechtes Framing wie aus dem Lehrbuch: Journalist:innen, die mit einer teils unerträglichen Vehemenz danach riefen, dass migrationspolitisch „endlich etwas passieren muss“, nachdem sie es teilweise kaum abwarten konnten, die Anschläge mit der Migrationspolitik kurzzuschließen. Herkunft und Aufenthaltsstatus von Attentätern wurden darin zum eindeutigen Beleg verfehlter Migrationspolitik, um dann über die angezettelte Migrationsdebatte die großen sozialen und politischen Fragen unserer Zeit – Mietenwucher, Ukraine-Krieg, Klimakrise, Steuerhinterziehung, um nur einige zu nennen – regelrecht zu verschweigen.
Der französische Philosoph Étienne Balibar hat bereits vor über 30 Jahren darauf hingewiesen, dass es ein Kennzeichen des institutionellen Rassismus und seiner Diskurse ist, ihn der „Gesellschaft zuzuschieben“, während er selbst permanent an seiner Befeuerung arbeitet. Genauso funktionierte der öffentliche Mechanismus der letzten Monate. Über seine herausragende Rolle bei der Verstärkung rassistischer Narrative und Vereinfachungen, ihres bedeutenden Einflusses auf das, was man heute das „Sicherheitsempfinden“ der Bevölkerung nennt, und die De-Thematisierung großer Probleme und Krisen müsste eigentlich noch zu reden sein. Nur wo?
Migration macht Demokratie
Wo waren die großen Fragen dieser Zeit? Sie liegen auf dem Tisch, jede:r kennt sie. Wir leben in dramatischen Zeiten. Dem Kollaps der US-dominierten internationalen Ordnung folgt der absehbare Kollaps der politischen Mitte in Deutschland und die Schockstarre eines uneinigen, handlungsunfähigen Europas. Und über allem schwebt der Klimakollaps. Doch anstatt diese weithin anerkannten Fakten zu einem Lackmustest für journalistische Interviews im Wahlkampf zu machen, hat man sich für eine deutschlandweite Stammtischdebatte entschieden, die suggerierte, dass Frieden und Sicherheit in Europa eine Frage des Grenzschutzes sei. Und nicht nur die großen Probleme waren abwesend, sondern auch die anderen Geschichten, die zu erinnern sich gelohnt hätte.
Eine, die nicht etwa die Islamisierung des Abendlandes, sondern die Demokratisierung Europas hätte befeuern können, jährt sich bald zum zehnten Mal. Am 4. September 2015 machten sich vorwiegend syrische Flüchtlinge, die seit Tagen rund um den Budapester Bahnhof Keleti ausharrten, auf einen Fußmarsch ins 180 Kilometer entfernte Wien. Etwa 3.000 Menschen campierten in diesen Tagen im Untergeschoss des Bahnhofs. „Wir haben genug davon, auf dem Boden zu schlafen. Wir gehen nach Österreich.“ Sie gingen los, der Rest ist Geschichte: Die Geschichte des Sommers der Migration.
Als im Dezember des vergangenen Jahres das Assad-Regime in Syrien fiel, feierten Zehntausende Syrer:innen in Deutschland. „Das Volk will den Sturz des Regimes“ war eine Parole des Jahres 2011, die nach diversen Verwandlungen im Jahr 2015 Europas Grenzregime stürzte und nun Ende 2024 endlich in Syrien Realität geworden ist. Anstatt diese einzigartige Beziehung zwischen Deutschland und Syrien, in der sich die lange Geschichte eines Kampfes für Demokratie im Nahen Osten mit der Migration nach Deutschland verbindet, zum Anlass für eine Prüfung der gängigen Narrative zu nehmen, hat man sie in der aktuellen Migrationsdebatte schlicht ignoriert.
Es kam einem zeitweise so vor, als wäre kaum jemandem aufgefallen, dass dieses Syrien der außenpolitischen Nachrichten etwas mit den syrischen Flüchtlingen zu tun hat, über die hier zeitgleich hergezogen wurde. Das Gleiche gilt für Afghanistan und die Abwesenheit der 2021 so dramatisch geendeten NATO-Mission in der Migrationsdebatte über afghanische Flüchtlinge. Wäre das alles anders, hätte man vielleicht gemerkt, dass die Frage der Migration eine der Demokratie und nicht der „Sicherheit“ ist. Es bleibt zu hoffen, dass die gar nicht mal so schlechten Wahlergebnisse derjenigen, die sich dem Stammtischniveau verweigerten, dazu beitragen, sie wieder angemessen zu stellen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 01/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!