Sahelzone

In Verteidigung der Bewegungsfreiheit

11.07.2022   Lesezeit: 7 min

Unterstützung für Migrant:innen und Geflüchtete beim Kampf um ihre Rechte: medico-Partner in Westafrika haben sich zusammengeschlossen.

medico: Ihr habt das Netzwerk ROA-PRODMAC im August 2017 gegründet. Was war damals Anlass und Motivation dazu?

Amadou M'Bow: Wir sind einfach von unseren eigenen Erfahrungen ausgegangen. Wir haben viel Lobbying gemacht und Weiterbildungen durchgeführt, aber die Situation von Geflüchteten und Migrierenden hat sich immer mehr verschlechtert. Daher haben wir unsere Arbeitsweise verändert und uns stärker strategischen Prozessführungen zugewandt.

Ich persönlich hatte viel mit der „Afrikanischen Kommission für Menschenrechte und die Rechte der Völker“ (ACHPR) zusammengearbeitet sowie mit dem „Forum der NGOs“, das sozusagen das Gegenüber der Kommission ist. Das Forum kann Resolutionen gegen Länder verabschieden, die Menschenrechte verletzen. Wenn eine Resolution von der Kommission bestätigt wird, wird das Land moralisch verurteilt. Die Kommission kann, wenn das Land nicht reagiert, immer wieder neue Anläufe machen, aber wenn auch das ohne Antwort bleibt, kann dieser Fall an den Afrikanischen Gerichtshof für Menschenrechte gerichtet werden. Als Mitgliedsstaat kann man die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS auch direkt adressieren, um Menschenrechtsverletzungen verurteilen zu lassen. Diese Arbeit ist nun der Kern des Netzwerkes.

Wenn du auf die letzten fünf Jahre zurückschaust, was waren die größten Erfolge des Netzwerkes?

Fünf Jahre ist einerseits viel, andererseits auch wenig Zeit für ein Netzwerk, das sich solch hohe Ziele gesetzt hat. Wir konnten mehrere Fortbildungen für Mitgliedsorganisationen im Hinblick auf die Vorbereitung einer strategischen juristischen Prozessführung durchführen. Die meisten Mitgliedsorganisationen sind keine Organisationen mit juristischem Schwerpunkt. Nicht alle haben Rechtsanwält:innen, wie zum Beispiel die AMDH. Die Organisationen mussten erst einmal verstehen, wie eine rechtlich basierte Arbeit aussehen kann und was für Voraussetzungen dafür geschaffen werden müssen, um sich gegenüber der Kommission in Banjul (Gambia) zu behaupten. Diese Fortbildungen wurden mit Hilfe von medico international ermöglicht.

In Banjul gibt es zudem das Afrikanische Institut für Menschenrechte und Entwicklung (IRDA), das sich auf strategische Prozessführung spezialisiert hat und mit dem wir ein Rahmenabkommen abgeschlossen haben, damit es hilft, Fälle vorzubereiten, bis sie reif sind, um sie der Kommission oder dem Gerichtshof zu präsentieren. Des Weiteren haben wir auch Lobbyarbeit gemacht, indem wir an die Sonderbeauftragte der Kommission für die Rechte von Migrant:innen, Geflüchteten und afrikanischen Binnenflüchtlingen herangetreten sind.

Weitere Fortbildungen widmeten sich der korrekten Dokumentation von Menschrechtsverletzungen. Auf Vermittlung von medico fand eine Fortbildung statt, die Border Forensics durchgeführt hat. Dabei ging es vor allem um Techniken, um Fälle zu recherchieren, zu dokumentieren und aufzubereiten. Das war sehr hilfreich, da Border Forensics über die nötige fachliche Kompetenz verfügt und sehr professionell arbeitet.

Als wir all diese Informationen hatten, sind wir mit den Fragebögen, die uns das Institut zur Verfügung gestellt und mit dem methodischen Wissen, das uns Border Forensics vermittelt hat, auf die Suche nach geeigneten Fällen in unserem jeweiligen Wirkungskreis gegangen. Aufgrund der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Restriktionen in verschiedenen afrikanischen Ländern war es uns jedoch zunächst nicht möglich, das praktisch anzuwenden.

Wahrscheinlich ist es etwas zynisch, von Erfolgen zu sprechen, wenn sich die Situation der Geflüchteten, der Migrant:innen und auch der Bewegungsfreiheit in der Sahel-Region in den letzten Jahren sehr verschlechtert hat. Was genau beobachtet ihr?

Gerade in der Corona-Pandemie hat sich die Situation von Geflüchteten und Migrant:innen noch mal sehr verschlechtert, weil unsere Regierungen sich erstmal um ihre eigenen Staatsbürger:innen gekümmert haben. Wenn ich nach Mauretanien schaue, wurden dort während der Pandemie viele Menschen aus den Gefängnissen entlassen, um das Infektionsrisiko zu minimieren. Das war einerseits sinnvoll, andererseits auch schwierig, Geflüchtete und Migrant:innen ohne eine Unterstützung auf die Straße zu schicken. Sie haben sich in einem Umfeld wiedergefunden, in dem sie ihr Überleben nur ganz schwer sicherstellen konnten. Es gab ja auch keine Arbeitsmöglichkeiten.

Entsprechend konnten wir beobachten, wie erneut immer mehr junge Senegales:innen Boote bestiegen haben, die die gefährliche Fluchtroute in Richtung Kanarische Inseln nahmen. Dabei gab es enorm viele Tote. Im Jahr 2020 ertrank ein 12-jähriger senegalesischer Junge namens Doudou bei der Überfahrt. Die Behörden unternahmen in der Folge den Versuch, seine Eltern zu kriminalisieren. Die Medien haben das Spiel mitgespielt und es gab eine regelrechte Hetzjagd auf Eltern, die ihre Kinder haben gehen lassen. Wir haben als Netzwerk zusammen mit unserem Partner vor Ort die Initiative ergriffen und einen Anwalt der Senegalesischen Liga für Menschenrechte beauftragt, die Familie vor Gericht zu vertreten. Das war für uns ein paradigmatischer Fall, weil der Versuch, diese Familie zu kriminalisieren für uns der Anlass war, im Senegal der Öffentlichkeit zu zeigen, an welchem Tiefpunkt die Solidarität mit Geflüchteten und Migrierenden angekommen ist. Der Vater wurde schließlich freigesprochen. Ein kleiner Erfolg.

Wie haben sich die politischen Rahmenbedingungen in den Ländern der Sahelzone, wo Migration Alltag so vieler Menschen ist, in den letzten Jahren verändert? Habt ihr als zivilgesellschaftliche Organisation die Möglichkeit, staatliches Handeln zu beeinflussen und diese weg von einem rein sicherheitspolitischen Diskurs hin zu mehr Freizügigkeit und Menschenrechte für alle zu bewegen?

Für mich ist die Verbindung dieser Fragen zentral. Denn die Verschlechterung der Situation von Geflüchteten und Migrierenden im Sahel hat sehr viel mit der Migrationspolitik der EU, Deutschlands und unserer Staaten zu tun. Man kann nicht über die Sicherheit und die Defizite der Demokratie im Sahel sprechen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass auch die demokratische Verfasstheit und die Legitimität der Regierungen dort sehr stark unter der Externalisierungspolitik Europas gelitten haben. Die Destabilisierung ist ein Resultat dieser Politik.

Unserer Erfahrung nach ist es sehr schwierig für einzelne zivilgesellschaftliche Organisationen, auf ihre Regierungen oder gar auf einer multilateralen Ebene signifikanten Einfluss ausüben. Dafür muss man sich zusammenschließen und eben deshalb haben wir ROA-PRODMAC gegründet. Wir haben einige Themen identifiziert, bei denen wir aktiv werden müssen und wollen jetzt diese Notwendigkeiten in konkrete Aktionen gießen. Ein ganz konkretes Ergebnis, das wir festgehalten haben, ist, dass wir in verschiedenen Sahel-Ländern dokumentieren wollen, wie die Rechtsprechung genutzt wird, um die Handlungsfähigkeit der Zivilgesellschaft einzuschränken.

Gleichzeitig beobachten wir, dass Staaten in der Region zunehmend neue Gesetze im Kontext der Kriminalisierung von Geflüchteten, Migrant:innen und denen, die sie unterstützen, erlassen und dabei voneinander abzuschreiben und zu lernen. Wir wollen uns das Zustandekommen solcher Gesetze und ihre Umsetzung wie deren Folgen genauer ansehen und schauen, wie wir eine solche Analyse nutzen können, um sie für Advocacy-Maßnahmen gegenüber nationalen und multilateralen Akteur:innen, als Instrument der Lobbyarbeit für die Rechte von Geflüchteten zu nutzen. Das Netzwerk wird hier die Federführung übernehmen.

Wenn du einen Blick in die Zukunft wirfst. Wie schätzt du die kommende Entwicklung ein: Wird es gelingen, das Recht auf Freizügigkeit und offene Grenzen in der Region auszubauen oder in welche Richtung könnte es gehen?

Die aktuellen Bedingungen werden nicht dazu führen, dass das Recht auf Freizügigkeit bald wieder legalisiert wird. Einige Staaten im Sahel stehen kurz vor dem Zusammenbruch. In Burkina Faso weisen sehr bedrohliche Entwicklungen in Richtung eines Bürgerkrieges. Wenn in einem Land wie Mali die Bevölkerung beginnt, sich zu organisieren, um sich zu verteidigen, statt auf die Armee zu vertrauen, dann ist das Risiko eines Bürgerkrieges sehr hoch. Die große Sorge, von der wir hoffen, dass sie nicht eintritt, ist die, dass die Unsicherheit in der gesamten Sahel-Zone zu einem Dauerzustand werden wird. Wo Unsicherheit herrscht, kann es keine Bewegungsfreiheit geben. Aber es gibt auch einen Hoffnungsschimmer. Es gibt junge Aktivist:innen, die sich organisieren und zusammenschließen, um einer anderen Vision Geltung zu verschaffen.

Es braucht einen zweiten Thomas Sankara?

In gewisser Weise. Es gibt junge Organisationen wie in Burkina Faso, mit denen wir gemeinsam für Freizügigkeit eintreten und dabei neue Methoden der Mobilisierung und Zusammenarbeit zwischen den Generationen entwickeln können. Eine Möglichkeit über die wir nachdenken, ist es, Vertreter:innen der Jugendbewegungen zu unseren Treffen einzuladen und sie über unsere Arbeit und die Bedeutung von Freizügigkeit zu informieren. Außerdem ist es für uns sehr positiv zu sehen, dass es im globalen Norden, in Europa Organisationen gibt wie das Netzwerk Fokus Sahel, die Ideen entwickeln, wie die Region eine andere Entwicklung nehmen kann und die uns in Kontakt mit politischen Entscheidungsträgern bringen, um unserer Position in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit Geltung zu verschaffen. Es ist enorm wichtig für uns, dass es Organisationen gibt, die uns diese Räume eröffnen, damit wir als Bewohner:innen der Sahel-Zone unsere Wahrnehmungen der deutschen und europäischen Politik, deren Auswirkungen und der Entwicklungen in der Region vermitteln können. Das ist für mich eine positive Entwicklung in all dem Negativen.

Das Interview führte Kerem Schamberger.


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