Kenia

Jung, gebildet, verzweifelt

01.10.2024   Lesezeit: 4 min

Vor kurzem noch Proteste für bessere Lebensbedingungen, jetzt ein Abkommen zur Arbeitsmigration nach Deutschland. Eine Antwort auf die Krise in Kenia? Fragen an medico-Partnerin Njeri Mwangi

medico: Die Erinnerung an die Proteste, die Ruto stürzen wollten, ist noch sehr frisch. Die Demonstrant:innen verwiesen in diesen Wochen auch auf den Internationalen Währungsfonds (IWF) und dessen Verantwortung für die politische und wirtschaftliche Krise. Wie ist die Situation auf Kenias Straßen jetzt?

Njeri Mwangi: Es gibt keine Massenproteste mehr. Allerdings finden noch immer kleinere Proteste statt, jedoch ohne Berichterstattung der Medien. Die Proteste wandelten sich um in gemeinschaftliche politische Formen der Organisierung. Die jungen Menschen kennen jetzt ihre Rechte und verbreiten sie durch gegenseitige politische Bildung und lokale Versammlungen. Dies geschieht in verschiedenen Orten Kenias, und natürlich auch hier in Mathare in Nairobi.

Was ist aus dem Slogan „Ruto muss weg!“ geworden?

Ruto muss weg! Aber wir wollen ihn nicht auf eine Weise stürzen, die unsere Verfassung ungültig machen würde. Das ist das Ergebnis langer und breiter Diskussionen, die wir während der Proteste geführt haben: Wenn wir ihn stürzen, was würde dann passieren? Zum Beispiel könnte das Militär die Kontrolle übernehmen, sodass wir die Verfassung verlieren würden. Sie ist ein wichtiger Gewinn, denn es ist eine sehr fortschrittliche Verfassung, ohne sie hätten wir gar nicht erst protestieren können. Wir gehen also lieber über den verfassungsmäßigen Prozess, um Ruto zu stürzen.

Wie sieht ein solcher Prozess aus?

Durch den Prozess eines Wahlverfahrens. Mit politischer Bildung und bürgerschaftlicher Mobilisierung und Organisierung durch die lokalen Versammlungen werden die Wähler bis 2027 eine andere Perspektive haben können. Durch politische Bildung wissen sie mehr über ihre Rechte und wie sie diese einfordern können. Bis dahin werden auch die Jugendbewegungen in der Lage sein, eine führende Rolle zu übernehmen und Führungen bilden.

Die Proteste richteten sich nicht nur gegen die lokale Machtdynamik, sondern auch gegen die internationale Wirtschaftsordnung, in der Kenia ausgebeutet wird. Ist das noch ein Thema?

Durch die Proteste wurde es zu einem öffentlichen Thema gemacht. Die breite Öffentlichkeit spricht endlich über den IWF und die Rolle der US-Botschaft. Es gibt sogar den Witz: „Ruto ist der Präsident, und der US-Botschafter ist der Vizepräsident“. Während der Proteste wurde deutlich, dass Ruto keine Entscheidung treffen kann, ohne auf die US-Botschaft zurückzugreifen. Die Menschen begannen sich zu fragen: Warum gibt es so viel Interesse an unseren inneren Angelegenheiten? Auch die Diskussionen um die Schulden sind ein allgemeines öffentliches Thema durch die Proteste geworden. Die Menschen fragen: Wofür nehmt ihr Kredite auf? Wohin fließt das Geld? Sie wollen, dass Rechenschaft abgelegt wird.

Gibt es auch eine Diskussion um Europa, oder meint der Westen hauptsächlich die USA?

Europa war schon immer ein Ausbeuter in Kenia. Das deutsche Abkommen zur Arbeitsmigration ist auch eine Form davon. Ruto verkauft junge Menschen nach Deutschland. Es gibt eine große Gegenreaktion auf dieses Geschäft. Ruto verkauft unsere Arbeitskräfte, die wir für den Aufbau unseres Landes brauchen, anstatt gute Lebens- und Arbeitsbedingungen zu schaffen. Er verpackt das so, als ob er den jungen Leuten den „europäischen Traum“ bringen würde. Aber selbst die von ihm empfohlenen Agenturen zur Arbeitsvermittlung sind für Betrug bekannt. Unter dem falschen Versprechen, dass sie die Arbeitsverträge für die jungen Leute anpassen werden, ziehen ihnen diese Agenturen das Geld aus der Tasche. Kurze Zeit später schließen diese Agenturen wieder ihr Geschäft – und die Menschen stehen vor dem nichts. Es gibt viele solcher Skandale. Es gibt in der Bevölkerung ein Misstrauen gegenüber solchen Abkommen. Eben weil die historische Erfahrung noch sehr präsent ist, wonach Kenianer:innen als Arbeitskräfte in andere Länder exportiert wurden, bezeichnen sie diesen jüngsten Prozess als „Arbeitssklaverei“.

Inwiefern profitiert Ruto von diesen Geschäften?

Zunächst einmal profitiert er finanziell. Diese Prozesse kosten Geld, die Beantragung eines Visums usw., das sind Einnahmen für den Staat. Aber er versucht auch, politisch zu profitieren. Ruto war für den Westen der „Sprecher Afrikas“, der beliebteste afrikanische Führer. Aber jetzt verliert er an Popularität, da er zeigt, dass er nicht einmal sein eigenes Land regieren kann. Neue Abkommen zu schließen und zu zeigen, dass man ihm in der internationalen Gemeinschaft noch vertraut, ist eine Möglichkeit, seine Position und Reputation in der internationalen Gemeinschaft zu retten. Darüber hinaus ist das auch eine Strategie, um die jungen Menschen davon abzuhalten, gegen ihn zu protestieren und sich zu organisieren.

Glaubst du, dass sich dennoch viele bewerben werden?

Ja, viele sind verzweifelt. Sie sind gut ausgebildet, leben aber in Armut und sind arbeitslos. Trotz allem – allein die Aussicht auf ein formalisiertes Beschäftigungsverhältnis ist attraktiv.

Das Interview führt Radwa Khaled-Ibrahim.

Übersetzung: Gunnar Bantz


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