Globale Gesundheit

Kalkulierte Überforderung

16.03.2023   Lesezeit: 6 min

Die Lage der Gesundheitssysteme im Erdbebengebiet der Türkei und Syriens ist katastrophal.

Von Felix Litschauer

Als der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Ghebreyesus, Anfang März den Nordwesten Syriens besuchte, hatte er Schwierigkeiten, seine Eindrücke in Worte zu fassen: „Das Ausmaß des Leids des syrischen Volks ist schwer zu beschreiben. Schon vor dem Erdbeben stiegen die Bedarfe [nach Hilfe], während internationale Hilfe nachließ.“ Seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges ist er der erste hochrangige Vertreter einer UN-Organisation, die das Land bereist.

Einen Monat nach dem Jahrhundertbeben in Nordsyrien und der Türkei hat die Zahl der offiziell bestätigten Todesopfer mehr als 55.000 erreicht, davon 7000 in Syrien, etwa 2 Millionen Menschen wurden über Nacht obdachlos. Viele Tausende Menschen werden weiter vermisst. Das Erdbeben hat insbesondere in Syrien, aber auch in vielen Gebieten der Türkei zu einem Zusammenbruch der gesundheitlichen Infrastruktur geführt. Es ist eine Katastrophe in der Katastrophe. So gibt es etwa in der stark betroffenen Provinz Hatay keinerlei funktionierendes Krankenhaus, sämtliche Behandlungen finden in temporären Feldkrankenhäusern statt.

Nach Angaben der türkischen Ärztekammer wurden 450 Gesundheitsfachkräfte getötet. Die verbliebenen Gesundheitseinrichtungen und Gesundheitsfachkräfte müssen eine dramatische Anzahl von etwa 100.000 Verletzen behandeln. Die prekäre Situation der obdachlos gewordenen Menschen sowie der ohnehin schon in Lagern lebenden syrischen Flüchtlinge, die zerstörte Wasserversorgung, sanitäre Infrastruktur und die Wetterbedingungen begünstigen übertragbare Durchfall- und Atemwegskrankheiten und die Verbreitung von Parasiten. Ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit der Versorgung chronisch Kranker, wie etwa Dialysepatient:innen.

Der Bedarf an Hilfe ist schier unendlich groß. Umso größer ist aber auch die Gefahr, dass die notwendige Hilfe vonseiten der syrischen und türkischen Regierung instrumentalisiert wird.

Gesundheit in der Krise

Doch das Erdbeben passierte nicht im luftleeren Raum. Sowohl Präsident Erdogan, als auch Assad tragen Verantwortung dafür, dass viele Tote, Verletzte und Obdachlose hätten vermieden werden können. Im Bereich Gesundheit heißt das: Die Katastrophe ist auf Gesundheitssysteme getroffen, die in keiner Weise adäquat auf die Situation reagieren konnten und in denen schon lange weiten Teilen der Bevölkerung das Recht auf Gesundheit vorenthalten wird.

In der Türkei ist das Gesundheitssystem extrem unter Druck. Jahrzehntelang hat der türkische Staat die Privatisierung des Systems vorangetrieben und gleichzeitig die öffentlichen Einrichtungen zur gesundheitlichen Versorgung derer, die sich keine Behandlung in den privaten Kliniken leisten können, massiv unterfinanziert. Warnungen und Proteste von medizinischem Personal wurden diskreditiert, der Präsident lieferte sich einen offenen Kampf mit der türkischen Ärztekammer.

Schlechte Bezahlung, unzumutbare Arbeitsbedingungen und Gewalttaten von Seiten frustrierter Patient:innen haben eine beispiellose Migrationswelle von Gesundheitsfachkräften, insbesondere Ärzt:innen, zur Folge. Allein 2022 verließen 3000 Ärzt:innen das Land, zehn Jahre zuvor waren es nicht einmal 60. Hinzu kommt die offensichtliche Weigerung der Regierung, Empfehlungen der Ärztekammer zur Erdbebenvorsorge umzusetzen. Die Folge waren neben vermeidbaren Zerstörungen der medizinischen Infrastruktur und mindestens 28 eingestürzten Krankenhäusern auch die Überforderung des Gesundheitspersonals aufgrund fehlender Notfallpläne.

In Syrien ist die Situation ungleich dramatischer. Vor dem Beben waren fast 7 Millionen Menschen in Nordsyrien auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Versorgung mit Medikamenten und technischen Geräten ist dabei insbesondere für den Nordosten unter kurdischer Selbstverwaltung (Rojava) schwierig, da UN-Hilfsgüter seit Anfang 2020 dorthin nur mit Genehmigung des syrischen Regimes gelangen können.

Grundsätzlich gibt es bei der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung große Unterschiede zwischen den von der Regierung kontrollierten Gebieten und den de facto autonomen Regionen. Das liegt zum einen daran, dass Hilfslieferungen von der syrischen Regierung immer wieder konfisziert oder verzögert werden – zuletzt auch aufgrund des Erdbebens dringend benötigte humanitäre Hilfe. Zum anderen waren Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen im Laufe des mittlerweile zwölf Jahre andauernden Krieges immer wieder Ziel von Angriffen durch Syrien, Russland, die Türkei und Milizen wie den IS. Erst im November letzten Jahres flog die türkische Luftwaffe Angriffe auf Rojava, die unter anderem auch ein Krankenhaus zerstörten.

Gleichzeitig haben der Krieg und die schlechten Arbeitsbedingungen – die Behandlung von 40 bis 50 Patient:innen in zwei Stunden gehört zur Normalität – auch hier viele Gesundheitsfachkräfte zur Flucht in die Türkei oder nach Europa genötigt. Die wenigen Krankenhäuser in Nordsyrien konzentrieren sich auf die größeren Städte, während die Landbevölkerung oft weite, teure und gefährliche Wege auf sich nehmen muss, um eine Basisgesundheitsversorgung zu bekommen. Der Kurdische Rote Halbmond, langjähriger medico-Partner vor Ort, hat es trotz der widrigen Bedingungen geschafft, in Rojava 44 Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen aufzubauen.

Angst vor der Cholera

In der nordwestlichen Region Idlib, die zum Großteil von den Milizen der Hayat Tahrir al-Sham kontrolliert wird, leben mittlerweile 3 Millionen Binnenflüchtlinge in einer katastrophalen ökonomischen und sozialen Lage. Dort brach im Herbst 2022 erstmals seit zehn Jahren wieder die Cholera aus, die seitdem mehr als 92.000 Infizierte und über 100 Tote zur Folge hatte. Die Infektionskrankheit breitete sich rasch aus, Tausende infizierten sich in den kurdischen Regionen Raqqa und Hasakeh.

Vor dem Hintergrund der durch das Beben zerstörten sanitären Infrastruktur und der Unmöglichkeit sauberes Wasser zu bekommen, mehren sich Befürchtungen nach einer Intensivierung der Cholerafälle besonders in Idlib und Aleppo. In der Folge führen WHO, UNICEF und lokale Partnerorganisationen seit dem 7. März eine breit angelegte Impfkampagne in den am stärksten betroffenen Gebieten im Nordwesten durch. Geplant ist, mehr als 2 Millionen Impfdosen zu verteilen.

Gleichzeitig bleibt dem kurdischen Nordosten die Möglichkeit einer präventiven Impfung verwehrt, denn eine offizielle Zusammenarbeit zwischen WHO und dem Kurdischen Roten Halbmond gibt es nicht. Eine solche Kooperation würde als ein symbolischer Schritt in Richtung internationaler Anerkennung der autonomen kurdischen Gebiete gewertet werden, was besonders dem syrischen Regime in Dorn im Auge ist. In der Folge sind nicht nur Corona-Impfungen sehr erschwert, sondern auch eine reale Eindämmung der Cholera fragwürdig. Die Krankheit aber lässt sich nicht von Grenzen aufhalten.   

Konsequenzenreiches Nichthandeln

Die weitere Ausbreitung der Cholera in Syrien ist auch gerade deshalb so gefährlich, weil die Folgen weit über das Land hinaus spürbar sein werden. Das gilt zum einen für die Gefahr einer Ausweitung auf die Nachbarländer, wie schon im Herbst 2022 in den Libanon. Zum anderen sind da die globalen Folgen: Laut WHO sind zurzeit 30 Länder weltweit von Cholera-Ausbrüchen betroffen. Malawi im Südosten Afrikas leidet seit einem Jahr unter der tödlichsten Cholera-Epidemie seiner Geschichte.

Doch im Jahr 2022 wurden nur 36 Millionen Impfdosen produziert. Zurzeit stellt nur ein einziges Unternehmen weltweit überhaupt noch Cholera-Impfstoffe her. Das mag angesichts der Lage absurd klingen, ist aber logische Folge einer Politik, die die Herstellung lebenswichtiger Medikamente und Impfstoffe den Kräften des freien Marktes überlässt: Die Erforschung und Produktion von Cholera-Impfstoffen lohnt sich wirtschaftlich schlichtweg nicht. In der Folge konkurrieren die betroffenen Regionen der Welt um die viel zu geringe Zahl der Impfdosen – eine flächendeckende Versorgung mit den eigentlich notwendigen zwei Dosen pro Person ist momentan unmöglich.

Derweil muss die WHO selbst um dringend benötigte Gelder für die weitere Nothilfe in Syrien und der Türkei betteln: von den akut benötigten 84,5 Millionen Dollar sind gerade mal 7 Millionen zusammengekommen. Gehofft wird auf die Geberkonferenz am 20. März, zu der die EU geladen hat.

Mit dem Erdbeben hat die hausgemachte Krise der Gesundheitssysteme in Syrien und der Türkei das nächste Level erreicht. Verantwortung trifft dabei nicht nur die Regierungen der Länder, für die das Recht auf Gesundheit ihrer Bürger:innen wahlweise als Verhandlungsmasse verstanden wird oder nur der Profitmaximierung dient. Auch die UN versagt, wenn sie zulässt, dass jahrelang systematisch Gesundheitseinrichtungen Ziel von Luftangriffen werden, humanitäre Hilfe blockiert und instrumentalisiert wird oder die Bereitstellung von Medikamenten und Impfstoffen zur Behandlung der Opfer vom Kalkül der Pharmaindustrie abhängt.

Felix Litschauer

Felix Litschauer ist Referent für Globale Gesundheit bei medico international. Er ist Friedens- und Konfliktforscher und war lange aktiv in der Medinetz-Bewegung, die für das Recht auf Gesundheit von Geflüchteten kämpft. Zurzeit beschäftigen ihn besonders die Zusammenhänge von Klima- und Gesundheitsgerechtigkeit.

Twitter: @LitschauerFelix


Jetzt spenden!