Zum ersten Mal nach fast zwei Jahren Pandemie bin ich wieder in Südafrika. Eine bleierne Schwere liegt über dem Land, kein freundliches „How are you?“ am Flughafen, kein warmes Lächeln wie sonst. Traurige Augen hinter den Masken.
Auf der Fahrt vom Flughafen in Pietermaritzburg in das Township Newholmes Schlaglöcher, kaputte Straßenschilder, verrammelte Läden, Bettler an den Ampeln mit ausgemergelten, ausdruckslosen Gesichtern. Angekommen werde ich freundlich begrüßt, aber die Schwere will nicht weichen. „Das Leben ist wirklich hart geworden, die Pandemie hat vieles verändert“. Die Frage „Wie geht‘s Dir?“ löst Beklemmung und Furcht aus, die Antworten sind niederschmetternd. Alle haben jemanden verloren, der oder die an Covid gestorben ist. Für alle haben sich die ökonomische Situation und der Alltag dramatisch verschlechtert. Alle berichten von Erschöpfung und Kraftlosigkeit, vom Verlust von Kollektiven. Von den Folgen der Unruhen, die durch Hunger und Manipulation ausgelöst waren, rassistischen Spaltungen und Misstrauen, der Kriminalisierung der Armen. Viele berichten von psychischen Krankheiten und der Zunahme von Sucht und Gewalt. Selbst der Small Talk stockt. Über Abgründe kann man weniger sprechen, als sie spüren.
Leben unter prekarisierten Bedingungen hängt oft an wenigen seidenen Fäden, die das Überleben und den Alltag ermöglichen. Ein Kurzzeitjob hin und wieder, eine freundliche Nachbarin, die in der Krise mit Essen vorbeikommt, ein Community-Arzt, der auch mal kostenlos behandelt, wenn man zu krank ist, um einen Tag in der Klinik zu warten, ein Cousin, der ein altes Auto hat und im Notfall etwas besorgt, eine NGO, die hilft, Anträge für die zwar winzige, aber einzige Sozialhilfe auszufüllen sowie hin und wieder soziale Kontakte mit Familie und Community, um die drohende Depression zu vertreiben. Durch die Pandemie wurden viele Fäden plötzlich abgeschnitten – es gibt keine Jobs mehr und keine sozialen Kontakte, die Nachbarin ist an Covid gestorben und der Community-Arzt völlig überfordert, der Cousin ist krank geworden, weil die Behandlung seiner chronischen Krankheit nicht mehr betreut wird, die NGO kann nur noch digital arbeiten. Dazu die strengen Lockdown-Regeln mit Polizei und Militär auf den Straßen, Stromausfälle, fehlende Medikamente, geplünderte Läden, verlorene Hoffnungen. Abgebrochene Studien und Familienangehörige im Ausland, die man seit Beginn der Pandemie nicht mehr sehen konnte. Als ich nach Kapstadt komme, sehe ich überall Zelte und Plastikverschläge in der Innenstadt, am Straßenrand, auf Verkehrsinseln und am Rand von Auffahrten. „Das sind die Hungrigen und Obdachlosen aus den Townships“, erklärt eine Freundin. „Seit der Pandemie sind sie überall. Die Stadt versucht sie mit Steinhaufen zu vertreiben, auf denen man nicht mehr zelten kann, aber sie finden immer wieder neue Orte.“
Seit September gibt es ein wenig Aufatmen – zumindest was die Bewegungsfreiheit betrifft. Der Lockdown wurde allmählich auf Stufe 1 gesetzt, nächtliche Ausgangssperren gibt es immer noch, aber tagsüber wird es besser. Wieder mehr Treffen und Familienbesuche, „normale“ NGO-Arbeit mit Workshops und Treffen in den Communities, wirtschaftliche Erholung, man hofft auf ein wenig Tourismus und neue Kurzzeitjobs im Dienstleistungssektor, besonders für die Frauen. Auch mein Besuch wird als Zeichen der zaghaften Verbesserung gesehen.
Die Reaktionen auf Omikron zerstören die Hoffnung
Doch bevor ich wieder richtig angekommen bin, unser Netzwerktreffen mit den Partnerorganisationen stattfinden kann, kommt die Meldung von südafrikanischen Wissenschaftler:innen über eine neu entdeckte Corona-Variante, die inzwischen Omikron heißt. Noch am selben Abend stoppt Großbritannien den kompletten Flugverkehr. Kurz darauf reagieren die EU-Staaten wie Dominosteine und schränken ebenfalls sämtliche Reisen ein. Am nächsten Tag werden aus 56 Ländern fast alle Flugverbindungen abgesagt. Das südliche Afrika wird isoliert.
Alle sind schockiert und wütend. Der südafrikanische Präsident sagt es in seiner Ansprache zwei Tage später offen: „Es gibt keine wissenschaftliche Begründung für Reisebeschränkungen“.
Es ist offensichtlich, es sind politische Entscheidungen, die Handlungsstärke und Kontrolle gegenüber der eigenen Bevölkerung suggerieren sollen. Gegenüber den Menschen im südlichen Afrika muss man sich für die Folgen nicht rechtfertigen. Niemand denkt daran, so etwas wie Corona-Hilfen für ausgefallene Einnahmen und ökonomische Härten anzubieten. Niemand interessiert, wie Südafrika mit der neuen Variante fertig werden soll. Es sind rassistische Reflexe, Afrika und damit „das Problem“ wegzusperren.
Doch „das Problem“ ist genau das, wovor viele so lange und so oft gewarnt haben. Aufgrund der Impf-Apartheid, dem Horten von Impfstoff im globalen Norden und dem Vorenthalten von Impfstoffen, Patenten und Technologietransfers, ist in Afrika nur eine Minderheit geimpft, in Südafrika noch die meisten mit ca. 25 Prozent. Durch die große Zahl von Ungeimpften auch unter Immungeschwächten wie HIV-Positiven hat sich eine Mutation des Coronavirus entwickelt, die womöglich viel ansteckender ist als alle Varianten, die wir bisher kennen.
Doch das Problem lässt sich nicht wegsperren. Es wird umso sichtbarer, je mehr man es leugnet: Ohne eine globale Perspektive, eine solidarische globale Lösung, bei der alle Zugang zu Impfstoff und Wissen haben, wird dieser Alptraum nicht zu Ende gehen. Es wird immer weitere, immer schlimmere Varianten geben. Ein aufgebrachtes Video der Leiterin der African Vaccine Delivery Alliance, Dr. Ayoade Alakija, verbreitet sich wie Lauffeuer, geht viral. Selbst die Zusammensetzung von PCR-Tests wird nicht an Südafrika weitergegeben, obwohl dadurch die Verbreitungswege von Omikron einfacher verfolgt werden könnten. Botswana, wo der erste Omikron-Fall identifiziert wurde, hatte im Juli eine halbe Million Impfdosen bei Moderna bestellt, zu 29 US-Dollar pro Dosis, viel mehr als die USA oder EU zahlten, um ihre Impfkampagnen durchzuführen. Trotzdem schnappte ein anderer Käufer Botswana die Impfstoffe weg und die Lieferung verzögerte sich stark. Dabei hat Botswana noch den Vorteil, über Diamantenexporte wenigstens etwas Einnahmen zu haben. Andere afrikanischen Länder haben das nicht.
Kolleg:innen und Freund:innen in Südafrika sind empört über die weltweiten Reaktionen auf die engagierte wissenschaftliche Arbeit im Land, die ihr Wissen teilt. Gleichzeitig entwickelt sich eine Stimmung aus Trotz und Stolz, die zusammenschweißt. Auch ich bin wütend, dass ich gehen soll, dass diese Räume der grey zones, der Menschen, die zwischen den globalen Welten leben, so brutal zerstört werden, dass wir alle in unsere „Homelands“ geschickt werden, wo wir uns „zuhause“ fühlen sollen. Und dabei zusehen müssen, wie die deutsche und europäische Politik, die sich durch strukturelle Verantwortungslosigkeit auf allen Ebenen der Wirtschaft und Politik auszeichnet, dieses Zuhause zerstören, das nur eine ganze Welt sein kann, ohne Grenzen und Apartheid.
Manchmal gibt es Kipp-Punkte, die wir beherzt ergreifen müssen. UN-Chef Guterres spricht von einem globalen Impfplan, überall werden wieder globale Gegenstrategien eingefordert. Doch die wird es ohne entschiedene, radikale Kämpfe nicht geben. Fangen wir an.