Die Stimmung ist in diesen Tagen angespannt in der Türkei. So kurz vor einer Wahl, die so viel verändern könnte, sind unsere Partner:innen vor Ort kurz angebunden. Sie sind mit Wahlkampf, mit der Planung der Anreise von Wähler:innen zu den Wahllokalen und der Wahlbeobachtung beschäftigt. Die Hoffnungen sind groß, dass sich endlich etwas ändert im Land. Die Stimmung sei sehr gut, schreiben sie uns und schicken Bilder von Kundgebungen der Yeşil Sol Parti, die auf den Wahllisten steht, um das Verbot der linken HDP zu umgehen. Doch unsere Partner:innen sind auch angespannt, Angst und Unsicherheit sind groß: Wird es Übergriffe von Regierungsanhängern geben? Ist mit massiven Wahlfälschungen zu rechnen? Wenn es eine Stichwahl gibt, wie eskalativ werden die zwei Wochen bis dahin? Was passiert, wenn Erdoğan abgewählt wird und nicht geht? Und, falls sie gewinnt, wird die sozialdemokratisch-kemalistische CHP ihr Versprechen einer Demokratisierung der Türkei halten?
Die Sorgen sind nicht unbegründet. Die letzte große Repressionswelle gegen kurdische Journalist:innen, Anwält:innen und NGO-Mitarbeiter:innen war ein Schock, viele von ihnen sind bis heute in Haft. Der Vorwurf: Unterstützung einer terroristischen Organisation. Zudem gab es in den letzten Wochen immer wieder gewalttätige Übergriffe: Spitzenpolitiker der Oppositionsparteien wurden tätlich angegriffen, die Täter aufgehetzt von Erdoğans aggressiver Rhetorik. Auch antikurdische Übergriffe haben zugenommen, die Angriffe auf Fußballspieler von Amedspor in Bursa oder der faschistische Mord an einem kurdischen Straßenmusiker in Istanbul und die Polizeigewalt bei einer Gedenkveranstaltung vor einigen Tagen sind nur zwei Beispiele.
Die türkischen Medien stehen großenteils unter direkter oder indirekter Kontrolle der autokratischen Regierung. Vor ihrem Einfluss auf die Parlaments- und Präsidentschaftswahl am Sonntag warnt die Menschrechtsorganisation „Human Rights Watch“. Sie befürchtet Eingriffe in die sozialen Medien rund um die Wahl. Das gab es auch schon während des Erdbebens, als die türkische Regierung für einige Stunden soziale Netzwerke sperrte, um den Nachrichtenfluss von unten zu kontrollieren.
Wählen im Katastrophengebiet
Eine Woche nach dem Erdbeben des 6. Februar war ich im Gebiet des Epizentrums und sprach mit Betroffenen über ausbleibende staatliche Hilfe und das Agieren der Regierung. Damals ging niemand davon aus, dass Erdoğan an dem vorgezogenen Wahltermin festhalten würde. Das Entsetzen über das Ausmaß der Katastrophe und die millionenfache Betroffenheit war so groß, dass selbst glühende Anhänger:innen der Regierung den amtierenden Präsidenten zur Hölle wünschten.
Auch in den kurdischen Gebieten der Türkei haben Erdoğan und seine AKP viele Anhänger:innen. Zwar versprach der Präsident Soforthilfe und schnellen Wiederaufbau. Doch das Gefühl von Millionen Menschen, tagelang Angehörige unter den Trümmern zu wissen, ohne dass sie geborgen werden oder die eigene Existenz komplett von Mauern und Ziegeln begraben zu sehen und keine Lebensmittel, medizinische Hilfe oder Zelte zu bekommen, ist ein gesellschaftliches Trauma, das bis heute extrem präsent ist. Offiziell sind laut aktueller Zahlen 59.000 Menschen durch das Beben in der Türkei gestorben, andere Schätzungen gehen von 200.000 Toten aus. Zwei der drei Millionen Menschen, die obdachlos wurden, haben das Erdbebengebiet verlassen. Der Rest lebt in Notunterkünften und schlecht ausgestatteten Zeltstätten – ohne Perspektive.
Und unter diesen Bedingungen soll gewählt werden. Erdoğan hat an dem vorgezogenen Termin vermutlich nicht nur festgehalten, weil seine Wiederwahl sonst rechtlich angezweifelt hätte werde können (eine zweite Wiederwahl ist laut Verfassung eigentlich nicht möglich), sondern auch weil zu einem späteren Zeitpunkt ein noch größerer Stimmenverlust infolge der innenpolitischen Lage und die missratene Erdbebenhilfe zu befürchteten war. So wurden in den Zeltstädten bereits Wahllokale aufgebaut, viele Schulen mit guter Bausubstanz, die nicht zerstört wurden, dienen ebenfalls als Wahllokale. Dennoch ist unklar, ob die Regierung das Versprechen an die Menschen hier, regulär wählen zu können, einhalten kann.
Menschen, die aufgrund des Erdbebens ihre Städte und Dörfer verlassen haben, müssen an ihrem alten Wohnort wählen, wenn sie sich nicht bis zum 17. März an ihrem neuen Wohnort gemeldet hatten. So die offiziellen Vorgaben. Zehntausende waren zu diesem Zeitpunkt jedoch noch auf dem Weg, die Frist zur Ummeldung konnten viele nicht einhalten. Briefwahl existiert in der Türkei nicht. Nun müssen also Millionen eine weite Reise zur Wahlurne antreten, um ihre Stimme abgeben zu können. Eine Reise zurück dorthin, wo ihnen unendliches Leid widerfahren ist, sie Angehörige und Freund:innen verloren haben und ihre Existenz unter Trümmern liegt. Vielen ist es dennoch gerade deshalb ein Anliegen, hier zur Wahl zu gehen. Da viele Menschen aber keine Möglichkeit haben, die Reise selbst zu finanzieren, organisieren Parteien Busse und Wahlkonvois in die entsprechenden Regionen. Unklar ist jedoch auch so, ob wirklich alle Wahlberechtigten an die richtigen Urnen kommen.
Eine andere Sorge betrifft den Missbrauch der Stimmen verstorbener Personen. Bis heute sind die Todeszahlen unzuverlässig und die Vermisstenzahlen hoch. In der Erdbebenregion wird deshalb befürchtet, dass die Namen nicht-registrierter Verstorbener von der Regierungspartei als Stimmen für sich verbucht werden. Befürchtet wird zudem, dass Wählerverzeichnisse nach dem Beben nicht aktualisiert wurden und Menschen deshalb am Wahllokal abgewiesen werden. Ein knappes Ergebnis wird erwartet, die Folgen des Erdbebens könnten der Regierung da in die Karten spielen. Umso wichtiger sind Tausende Wahlbeobachter:innen, die von den Oppositionsparteien geschult wurden, um die Stimmabgaben und Auszählungen zu begleiten.
Die Hoffnung auf einen Regierungswechsel und das Ende des Präsidialsystems sind groß. Doch die Parteienallianz der größtem Oppositionspartei CHP ist fragil und ihr Spitzenkandidat Kılıçdaroğlu kein Garant für Sozialpolitik, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Frauenrechte – auch wenn er in Richtung Europa zurzeit anders spricht. Die Türkei werde sich mit Assad einigen und die Flüchtlinge aus Syrien zurückschieben, Europa müsse sich keine Sorgen machen. So lautete seine Botschaft in einem Fernsehinterview mit der ARD. Weiter würde er die Urteile des europäischen Menschenrechtsgerichtshofs umsetzen, die die Freilassung politischer Gefangener wie des ehemaligen HDP-Vorsitzenden, Selahattin Demirtaş oder des Philanthrops Osman Kavala fordern. Zu den tausenden anderen politischen Gefangenen sagte er nichts.