Migration

Unsägliche Debatte

10.12.2024   Lesezeit: 3 min  
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Nach dem Umsturz in Syrien braucht es Solidarität, keine Abschiebungen.

Von Valeria Hänsel

Nach 54 Jahren ist in Syrien eine grausame Diktatur gestürzt worden. In der ganzen Welt feiern Syrer:innen den Sturz des Assad-Regimes, an den kaum noch jemand geglaubt hatte. Videos gehen viral, die zeigen, wie Tausende Menschen aus den Kerkern der Gefängnisse befreit werden. So auch aus Sednaya bei Damaskus. Hier wurden über Jahrzehnte Menschen eingemauert, systematisch zu Tode gefoltert und offenbar wurden kurz vor dem Einrücken der Milizen noch Gefangene erschossen.

Und noch während Freiwillige, Angehörige und Suchtrupps dabei sind, unterirdische Zellentrakte in Assads "Schlachthaus" aufzubrechen, um die hier inhaftierten Menschen befreien zu können, wird in Deutschland schon über Abschiebungen nach Syrien diskutiert.

Über Hunderttausend politische Gefangene werden in Syrien noch vermisst und CDU-Politiker wollen bereits prüfen, ob der Schutzstatus von Syrer:innen in Deutschland nicht entfallen könnte. Jens Spahn ist sich nicht zu schade, das Konzept der „freiwilligen Rückkehr“ nach Syrien wieder aus der Mottenkiste zu holen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat bereits einen Entscheidungsstopp für die Asylgesuche von fast 50.000 syrischen Antragsteller:innen verhängt. Für sie kommt zu den sich überschlagenden Ereignissen in ihrem Herkunftsland nun auch in Deutschland der rechtliche Limbo. Auch andere europäische Länder gehen in diese Richtung.

Diese Debatte, diese Maßnahmen könnten zynischer nicht sein. Es ist nicht das erste Mal, dass unterstellt wurde, Syrien sei sicher. Das ganze Jahr 2024 hindurch wurden in verschiedenen europäischen Ländern „Debatten“ darüber geführt, ob Abschiebungen nach Syrien wieder aufgenommen werden könnten. Es gäbe sichere Zonen, beispielsweise um Damaskus. Der scheidende Bundeskanzler Scholz erklärte im Juni: „Wir werden Abschiebungen insbesondere von Straftätern nach Afghanistan, aber auch in andere Länder wie Syrien vornehmen und bereiten vor, dass das auch tatsächlich geschieht“. Menschen beispielsweise, die als „Schleuser“ gelten, sollten nach Syrien abgeschoben werden können. Auch das Oberverwaltungsgericht in Münster bestätigte einen Ablehnungsbescheid des BAMF im Juli mit der Erklärung: „Für Zivilpersonen besteht in Syrien keine ernsthafte, individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit“. 

Sie sollten alle demütig und still sein angesichts dessen, was die Befreiung der syrischen Gefängnisse an grausamen Werkzeugen und Zeugnissen zutage fördert. Auch die Bilder von Menschen, die teilweise nach rund 40 Jahren aus der Haft freikamen müssten die Entscheider:innen im BAMF oder in Münster an ihrer Kompetenz zweifeln lassen.

Doch war nicht nur die Einschätzung der Assad-Diktatur von Populismus und falschen Behauptungen geprägt. Auch die gegenwärtige Situation in Syrien bleibt unübersichtlich. Bei aller Freude über den Sturz des Assad-Regimes ist Syrien noch lange kein sicheres Land geworden. Die Bevölkerung in Rojava, im Nordosten des Landes, wird zurzeit massiv von Söldnern im Dienste der Türkei angegriffen und aus der Luft bombardiert, über Hunderttausend vertriebene Kurd:innen müssen Schutz suchen vor den neuerlichen Angriffen. Israel hat mit der Bombardierung militärischer Ziele begonnen und hat Gebiete im Südwesten des Landes besetzt. Die Institutionen des Landes sind instabil, wie wirtschaftliche Lage katastrophal und es ist nach wie vor ungewiss, wie das Machtvakuum noch ausnutzen werden.

Für den Wiederaufbau des Landes spielen auch Menschen aus der syrischen Diaspora, die sich seit Jahrzehnten für die Freiheit Syriens einsetzen, eine zentrale Rolle. Rund eine Million Syrer:innen leben aktuell in Deutschland, von denen ca. 600.000 nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung besitzen und somit in einer prekären Situation gehalten werden. Durch den Sturz des Assad-Regimes mag sich für viele endlich die Möglichkeit eröffnen, Syrien wieder zu betreten, ein Grund zu großer Freude. Aber die Menschen müssen selbst entscheiden können, ob sie reisen können oder nicht. Dafür brauchen sie keine Anreize von Jens Spahn, sondern einen sicheren Aufenthaltsstatus, der ihnen die Entscheidungsfreiheit gibt. Deshalb dürfen Asylverfahren nicht ausgesetzt werden.

Valeria Hänsel

Valeria Hänsel ist Migrationsforscherin und bei medico international als Referentin für Flucht und Migration in den Regionen Osteuropa, östliches Mittelmeer und Nahost tätig.


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