Am vergangenen Montag gab das Büro des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) bekannt, Haftbefehle gegen die Hamas-Führungspersonen Yahya Sinwar (Anführer der Hamas im Gazastreifen), Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri (Oberbefehlshaber des militärischen Arms) und Ismail Haniyeh (Chef des Polit-Büros) sowie gegen die israelischen Regierungsmitglieder Benjamin Netanyahu (Ministerpräsident) und Yoav Gallant (Verteidigungsminister) beantragt zu haben. Anders als im Verfahren Südafrika vs. Israel vor dem Internationalen Gerichtshof, wo es um die Verantwortung von Staaten geht, untersucht der IStGH die rechtliche Verantwortung von Einzelpersonen, weshalb in den seit 2021 laufenden Untersuchung neben israelischen auch palästinensische Verbrechen untersucht werden.
Dass es aus den USA Entrüstung über die Anträge gab, konnte nicht wirklich überraschen. Die USA sind historisch nicht nur seit den späten 1960er Jahren der wichtigste Unterstützer des israelischen Staates gewesen, sondern anders als Deutschland auch keine Vertragspartei des Römischen Statuts und damit des IStGH. Die entschiedene Gegnerschaft gegenüber dem Gericht, die ihren deutlichsten Ausdruck im American Service-Members‘ Protection Act von August 2002 fand, wurde später teilweise durch dessen opportunistische Unterstützung relativiert – zum Beispiel, als ein Haftbefehl des IStGH im März 2023 gegen Putin in den USA begrüßt wurde. Wenn es allerdings um eigene Verbrechen oder die enger Verbündeter geht, wie jetzt Israel, ist die dominierende Haltung gegenüber dem IStGH in der US-Politik über Parteigrenzen hinweg bis heute klar: Das Gericht ist mindestens unter Druck zu setzen und, wo möglich, zu bekämpfen.
Eigentlich sollte das in Deutschland anders sein: Die Bundesrepublik hat sich jahrelang für das Römische Statut und die Schaffung eines solchen Gerichtshofs eingesetzt – gerade auch vor dem Hintergrund der eigenen Geschichte und mit Blick auf die nach den Massenverbrechen der 1990er Jahre in Jugoslawien und Ruanda erforderlich gewordenen Sondertribunale. Der Straflosigkeit bei schwersten Verbrechen sollte mit einer ständig arbeitenden Einrichtung begegnet werden, nicht mehr nur mit adhoc geschaffenen Tribunalen. Und seit der Schaffung des IStGH hat Deutschland immer zu den größten finanziellen Förderern der Institution gehört.
Aber wie sieht die deutsche Reaktion bislang darauf aus, wenn der Chefankläger genau dieser Einrichtung im Fall Israels ebenso Rechenschaft einfordert wie im Fall der Hamas?
Sie stellt sich bestenfalls als die Fortsetzung der inkohärenten, bisweilen komplizenhaften Haltung dar, die den Kurs gegenüber der internationalen Gerichtsbarkeit auch in den letzten Jahren bestimmt hat: ein Bekenntnis zum Völkerrecht und den Menschenrechten auf der einen Seite, die öffentliche Infragestellung der Jurisdiktion des IStGH und das Vorgreifen gegenüber der richterlichen Bekanntgabe eines Verfahrens im Fall Südafrika vs. Israel auf der anderen. Einerseits mahnende Worte gegenüber der israelischen Regierung, sich beim militärischen Vorgehen in Gaza an geltendes Recht zu halten, andererseits Waffenlieferungen wider besseres Wissen. Warnungen vor den desaströsen Auswirkungen einer israelischen Invasion gegen Rafah auf die dort befindliche palästinensische Zivilbevölkerung und keinerlei negative Konsequenzen für die israelischen Verbündeten, wenn dann genau diese Offensive dennoch durchgeführt wird.
Und nun, angesichts der beantragten Haftbefehle gegen Benjamin Netanjahu und Yoav Gallant? Der gewohnte Eiertanz, den Berlin für die Augen der Welt zunehmend tollpatschig aufführt, geht weiter. In Berlin bekennt man sich zum IStGH als „Errungenschaft der Weltgemeinschaft“, zur Unabhängigkeit des Gerichts und zur deutschen Unterstützung desselben, um sodann wieder die Frage der Zuständigkeit ins Spiel zu bringen, wenn auch durch die Hintertür und mit verändertem Argument. Dabei wurde die Frage der Jurisdiktion verbindlich für alle Vertragsparteien – also auch die Bundesrepublik – bereits im Februar 2021 geklärt, als die Vorverfahrenskammer die Zuständigkeit des Gerichts offiziell erklärte und das Büro des Chefanklägers seine Ermittlungsarbeit aufnahm.
Anstatt um rhetorische Feinheiten oder die Tricks eines Winkeladvokaten geht es für die deutsche Politik um eine Grundsatzentscheidung. Will die politische Führung in Deutschland die „elementare Errungenschaft der Weltgemeinschaft“, als die sie den IStGH bezeichnet hat, der deutschen Staatsräson opfern oder will sie die Unabhängigkeit des Rechts und seine Gültigkeit für alle verteidigen und schützen? Die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant, sollten sie tatsächlich kommen, markieren in dieser Frage einen Scheideweg, an dem sich Deutschland für oder wider das Recht entscheiden muss. Biegt unsere politische Führung an dieser Gabelung falsch ab, wird dies katastrophale Folgen für den künftigen Schutz der Rechte Angegriffener und das internationale System haben, Folgen, die weit über Palästina und Israel und auch über das deutsch-israelische Verhältnis hinausgehen.