Die kleine italienische Insel Lampedusa im September. Tausende Menschen, die sich angesichts der guten Wetterbedingungen der vergangenen Tage auf See auf den Weg gemacht hatten, bevölkern die Straßen des einzigen Ortes. Sie schlafen auf Plätzen unter freiem Himmel, auf dem Boden oder eilig herbeigeschafften Feldbetten. Eingesperrt werden, wie es das europäische Grenzregime eigentlich vorsieht, können sie nicht mehr.
Das als „Hotspot“ bezeichnete, von einem Zaun umgebene Lager für Geflüchtete auf Lampedusa hat offiziell Platz für 389 Menschen. Doch allein am 12. September haben 112 notdürftig zusammengeschweißte Boote aus Tunesien mit insgesamt mehr als 5000 Menschen die italienische Insel im Mittelmeer erreicht. An einem einzigen Tag hat sich die Bevölkerung der Insel verdoppelt, das Fassungsvermögen des ohnehin viel zu kleinen Lagers wurde gesprengt, die hohen Zäune überwunden. Jetzt stehen die zuvor unsichtbar gemachten Menschen mitten unter Bewohner:innen und Tourist:innen – und sie erfahren Solidarität. Aus der Unsichtbarkeit des Lagers geholt erwacht die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung auf Lampedusa mit den Menschen.
Unsere Partnerorganisation Maldusa, die die Ankommenden auf Lampedusa unterstützt, beschreibt, wie die Geflüchteten mit Decken versorgt, Wasser, Pizzen und Arancini gereicht werden, Freiwillige Helfer:innen Bedarfe und deren Befriedigung klären. Während auf den Plätzen des Ortes Gespräche und Austausch stattfinden und Italien sich von seiner schönsten Seite zeigt, zieht die Regierung die von ihr selbst durch Unterfinanzierung geschaffene Überforderung der staatlichen Behörden zur Begründung härterer Abschottung heran.
Am 1. Juni hatte Italiens Ministerpräsidentin, die Rechtsextreme Giorgia Meloni wegen der anhaltenden Migrationsbewegung den Notstand ausgerufen. Dennoch sind in den darauffolgenden vier Monaten allein auf Lampedusa über 62.000 Menschen angekommen. In Deutschland fragt der SPIEGEL „Schaffen wir das nochmal?“, Politiker:innen von AfD bis Grüne diskutieren über Obergrenzen für Asylsuchende, erschöpfte Aufnahmekapazitäten und die Notwendigkeit der Grenzsicherung. Dagegen halten wir fest: Die Menschen kommen nach Europa, weil sie in ihrer Heimat keine Perspektive mehr für ein gutes Leben, für ein Leben überhaupt sehen und sich von Europa die Realisierung ihrer Rechte erhoffen. Obwohl Europa oft genug mit den Regierungen verbündet ist, die ihnen ihre Rechte vorenthalten oder zum Beispiel durch als Handelspolitik getarnte Ausbeutung die Fluchtursachen selbst schafft.
Die EU-Kommission gibt Milliarden Euro für Grenzsicherung und dubiose Migrationsdeals mit autokratischen Regimen in Nord- und Westafrika aus, um Menschen von Europa fernzuhalten. Sie kommen trotzdem, denn die Aufrüstung an den Grenzen, „Entwicklungshilfe“ und andere Maßnahmen zur „Fluchtursachenbekämpfung“ ändern nichts an den Gründen, warum die Menschen sich gezwungen sehen, zu migrieren.
Während wir einmal mehr fassungslos vor einem eskalierenden Diskurs der Angst vor Migration stehen, zeigt Lampedusa – ebenso wie die Begrüßung der Syrer:innen 2015 oder die der Ukrainer:innen 2022 – wie freundlich und hilfsbereit der Umgang mit Menschen auf der Flucht sein kann. Ein Anlass zur Hoffnung auf ein Europa der Offenheit und Unterstützung, der Ankunft und der Ermöglichung des Zugangs zu Rechten, die einem jeden Menschen auf dieser Welt qua Geburt zustehen.
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