Debatte

Wohlfahrt neu erfinden

19.11.2020   Lesezeit: 9 min

Ein globaler Blick auf die Folgen der Pandemie und die Notwendigkeit sozialer Kämpfe.

Von Sandro Mezzadra

„I can’t breathe“: Die letzten Worte des ermordeten George Floyd stehen auch für die Erfahrungen von Millionen Menschen auf der ganzen Welt, die im Jahr 2020 an Covid-19 erkrankt sind. Es hatte in den vergangenen Jahren nicht an Warnungen vor einer solchen Pandemie gefehlt, insbesondere nicht von der Weltgesundheitsorganisation WHO. Berücksichtigt man zudem die radikalen ökologischen Ungleichgewichte, die das Übergreifen und die Ausbreitung des Virus erleichtert haben, könnten in nicht allzu ferner Zukunft weitere, ähnliche Viren und Pandemien auftreten. Es stimmt zwar, dass Menschen schon immer mit Viren gelebt haben, aber das Problem stellt sich heute in einem anderen Ausmaß. Dies zeigt sich insbesondere an der Geschwindigkeit, mit der sich das Coronavirus weltweit verbreitet hat - über genau jene Wege, über die in den vergangenen Jahren die Mobilität von Menschen und Gütern organisiert wurde.

Mobilität ist zwar – als Bewegungsfreiheit von Migrant*innen – eine von vielen Regierungen offensiv bekämpfte Praxis, gegen die Mauern gebaut und Grenzen militarisiert werden (ein Trend, der sich übrigens in den letzten Monaten aus hygienisch-sanitären Gründen weiter gefestigt hat). Mobilität ist aber auch eine grundlegende Bedingung für das Funktionieren des gegenwärtigen Kapitalismus. Sie kann gewaltsam und selektiv organisiert werden, sie kann aber nicht blockiert werden. Nachdem das Corona-Virus über die Wege der Mobilität global geworden ist, hat dies zunächst zu ihrer Blockade geführt – mit katastrophalen Auswirkungen auf Produktion, Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt. In einem zweiten Moment konzentrierte sich das Handeln der Regierungen auf selektive Eingriffe in die Mobilität, indem sie Unterschiede zwischen „wesentlichen“ und „nicht wesentlichen“ Produktionssektoren und Arbeitnehmer*innen herstellten, die Millionen von Menschen zu einer erzwungenen Immobilität und andere zu einer ebenso erzwungenen Mobilität verpflichteten. All das wird sicherlich langfristige Auswirkungen haben, weit über die Pandemie hinaus.

Gleichzeitig hat die Ausbreitung der Pandemie zu Reaktionen geführt, die sich als „neo-malthusianisch“ definieren lassen: In einigen Ländern wird kaum etwas unternommen, im vollem Bewusstsein und mit dem Ziel, dass der Preis von den Armen gezahlt werden muss, die oft rassistisch konnotiert und konstruiert sind. Die USA von Trump, Bolsonaros Brasilien und das Indien von Modi sind die drei offensichtlichsten Beispiele. Bemerkenswert ist jedoch, dass eine „neo-malthusianische“ Haltung weit über diese Länder hinaus verbreitet ist und sich z.B. in den „Anti-Masken“-Demonstrationen in den USA und Europa und in der Haltung vieler Wirtschaftsverbände manifestiert, die aus ökonomischen Gründen auf eine rücksichtslosere Corona-Politik drängen, die Gewinne über Gesundheit stellt. In anderen Ländern und Regionen herrscht eine andere Haltung, die man mit der Foucault‘schen Formel der „Verteidigung der Gesellschaft“ zusammenfassen könnte und deren Rezept aus einer jeweils variierten Kombination aus Autoritarismus, Paternalismus, Nutzung digitaler Technologien, aber auch der Idee eines universellen Rechts auf Gesundheit besteht. China und Südkorea, Argentinien und die wichtigsten westeuropäischen Länder bieten – offensichtlich sehr unterschiedliche – Beispiele für diese Haltung, die die Ambivalenz widerspiegelt, die öffentliche Interventionen zu Gesundheit und „Hygiene“ in Europa mindestens seit dem 19. Jahrhundert charakterisieren. Diese Haltung ist überall Teil des Versuchs einer kapitalistischen Krisenstabilisierung. Sie hat dennoch auch die Grundlage dafür gelegt, dass sich mitten in der Pandemie eine Debatte über die Bedeutung der „öffentlichen Gesundheit“ entwickelt hat, die vielfach durch soziale Bewegungen oder oppositionelle Kräfte angestoßen und gefördert wurde.

Aber zurück zu der tiefen Krise, die durch die Pandemie ausgelöst wurde und deren ganze Dimension sich erst noch offenbaren wird. Es handelt sich um eine Krise, die in erster Linie den Kapitalismus „von außen“ trifft, aber dennoch eine echte „Wahlverwandtschaft“ mit solchen Krisen hat, die ein regelmäßiges Moment der ständigen Neuordnung der kapitalistischen Produktionsweise sind. Natürlich ist die Krise der industriellen Produktion überall tief. Es droht eine lang anhaltende Rezession, Tausende von kleinen und mittleren Unternehmen stehen vor der Pleite - ganz zu schweigen von den katastrophalen Folgen für die Arbeiter*innen, ob in Form von Massenentlassungen und drastischer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Gleichzeitig wirkt die Pandemie auch als Verstärker einer Vielzahl von Entwicklungstendenzen des Kapitalismus, die sich in den letzten Jahren herauskristallisiert haben: Nehmen wir zum Beispiel die Logistik, die zu Beginn der Krise einen Moment echter Blockade durchmachte, dann aber von der weit verbreiteten Anerkennung ihrer „systemrelevanten“ Rolle ihre Operationen selektiv neu organisierte. Oder denken wir an die digitalen Plattformen, von denen einige sicherlich einen Rückgang ihrer Gewinne zu verzeichnen hatten (z.B. Airbnb und teilweise Uber), während andere (z.B. diejenigen, die im Bereich der „Nahrungsmittellieferung“ tätig sind) eine echte Explosion ihrer Gewinne erlebt haben. Zoom, eine Plattform, die vor einem Jahr nur einigen wenigen bekannt war, erhöhte ihr Aktienkapital während der Pandemie um 300% und ihr Eigentümer Eric Yuan stieg in die Rangliste der reichsten Männer der Welt von „Forbes“ auf. Noch wichtiger ist jedoch, dass sich das Geschäftsmodell der Plattformen weiter ausbreiten wird, mit all den bereits dokumentierten Folgen von Fragmentierung und Prekarisierung der Arbeit. die in der Pandemie für Millionen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zur täglichen Realität geworden ist.

Man kann daher davon ausgehen, dass auch der globale politische Rahmen, in dem die kapitalistische Produktionsweise operiert, aus derPandemie deutlich verändert hervorgehen wird. Ohne eine vollständige „geopolitische“ Analyse vorschlagen zu wollen, wird der Wettbewerb um den Impfstoff sicherlich ein fundamentales Gewicht in der Neugestaltung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Blöcken und den verschiedenen Mächten spielen. Die unzweifelhafte Wirksamkeit, die das chinesische Management der Pandemie charakterisiert hat, wirkt sich schon jetzt in den Zahlen über Wachstum und wirtschaftliche Erholung aus. Für eine stark von Interdependenz geprägte Wirtschaft wie die chinesische stellt die Verlangsamung und in vielen Fällen die Blockade der Handelspartner allerdings ein Problem ersten Ranges dar, auf das die Führung der Kommunistischen Partei mit der Doktrin der „doppelten Zirkulation“ zu reagieren versucht: d.h. mit dem endgültigen Ende der Epoche, in der China die „Fabrik der Welt“ war – und mit der Formulierung eines Entwicklungsmodells, in dessen Mittelpunkt der Binnenmarkt steht (und das von dort aus die Integration in den Weltmarkt steuern kann). China wird sicherlich nicht zu den „Verlierern“ der Krise gehören, sondern seine Position auch auf globaler Ebene festigen. Diese sich seit Jahren abzeichnende Weltordnung lässt sich als konfliktueller Multipolarismus definieren, in dem die großen Weltregionen eine immer wichtigere Rolle spielen werden.

Europas Abkehr vom Neoliberalismus?

Welche Rolle wird Europa in diesem Szenario spielen? Die Europäische Union hat unter der Gewalt der aktuellen Krise ganz andere Maßnahmen ergriffen als nach der Finanzkrise von 2007/2008. Während sie sich damals auf Sparprogramme konzentrierte, mit einer in der griechischen Krise besonders heftigen Form von disziplinierender und strafender Verdrehung des Ordoliberalismus, scheinen heute einige grundlegende Elemente des europäischen Neoliberalismus (zumindest vorübergehend) in Frage gestellt zu werden. Den Stabilitätspakt, der ausgeglichene Haushalte verlangt, und den Angriff auf die Sozialausgaben suspendiert die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und der im Programm „Next Generation EU“ vorgesehene Investitionsplan zwar, stellt aber nicht deren Prinzipien in Frage. Der Beginn der Vergemeinschaftung der Schulden lässt außerdem die Möglichkeit einer gemeinsamen Steuerpolitik und einer fortschreitenden Konvergenz der Sozialsysteme der verschiedenen Mitgliedsländer erahnen. Offenkundig ist das ein umstrittenes und umkehrbares Szenario, das auf eine Stabilisierung der Krise des Kapitalismus abzielt. Doch es gilt die doppelte Bedeutung ernst zu nehmen: Einmal wegen der Implikationen, die das auf die Position Europas innerhalb jenes konfliktuellen Multipolarismus hat; und zum anderen, weil sich darin die Möglichkeit einer substantiellen Veränderung der Grundlagen zeigt, auf der soziale Bewegungen und Kämpfe stattfinden.

Es eröffnen sich also neue Räume für eine Politik, die innovative Fragen von sozialen Rechten und Wohlfahrt aufgreift (angefangen bei Gesundheit und Bildung), die durch die neoliberale Politik so geschwächt und reorganisiert wurden, dass in vielen Fällen die Bewältigung der Pandemie erschwert wurde. Es geht dabei aber nicht darum, eine Rückkehr zum Wohlfahrtsstaat zu erkämpfen, der in der Zeit nach der Zweiten Weltkrieg auf materiellen Voraussetzungen beruhte, die heute völlig verschwunden sind. Zudem haben die Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre diesen Wohlfahrtsstaat einer radikalen Kritik unterzogen und darauf verwiesen, dass er auf der patriarchal organisierten Familie, auf der Ausgrenzung oder untergeordneten Einbeziehung von Migrant*innen und anderen Personen der Arbeit und Nicht-Arbeit basiere und Prozesse der weiteren Bürokratisierung vorantreibe. Wenn überhaupt, dann ist es diese Kritik, mit der wir heute neu beginnen müssen, um uns eine andere Politik der Wohlfahrt vorzustellen und auszuprobieren. Diese Kritik verweist strategisch auf die Relevanz des „Gemeinsamen“, also auf die Notwendigkeit von politischen Praktiken, die die Opposition zwischen dem „Öffentlichem“ und dem „Privatem“ übersteigt.

Neue Räume für Politik

Die zentrale Bedeutung von Wohlfahrt und sozialen Rechte inmitten der Gesundheits-, Wirtschafts- und Sozialkrise herauszustellen, ist daher auch ein Versuch, einen möglichen Bezugspunkt für die Zusammenkunft von verschiedenen sozialen Subjektivitäten der vom Kapital kontrollierten Arbeit und zwischen den wichtigsten Bewegungen unserer Zeit zu identifizieren. Insbesondere unter dem ersten Gesichtspunkt geht es darum, die Kämpfe um Einkommen (und damit auch um soziale Stoßdämpfer, die die von der Krise direkt betroffenen Sektoren schützen können) und die Kämpfe um Löhne (nicht nur derjenigen, die in ein traditionelles Arbeitsverhältnis eingebunden sind) zusammenzubringen. Dies sind die Kämpfe, die auch mit einer Eroberung von Macht und der Aneignung von sozialem Reichtum verbunden sind, im Gegensatz zu den disziplinären Tendenzen, die sozialstaatlichen Interventionen innewohnen. 

Vom zweiten Standpunkt aus, dem der Bewegungen, hat der Feminismus in den letzten Jahren eine Reihe von Reflexionen und Praktiken zu den Themen Fürsorge und soziale Reproduktion entwickelt, die einen wesentlichen Gesichtspunkt für ein Überdenken der Wohlfahrt als Ganzes bieten; Umweltbewegungen stellen die Frage nach der Qualität der Entwicklung, die direkt mit der eigentlichen Bedeutung des Begriffs Wohlfahrt und der Beziehung zwischen Gesundheit und Territorium verbunden ist; antirassistische und migrantische Bewegungen halten das Problem der Grenzen der Menschenrechte (wie auch Europas) offen und zeigen es als ein grundlegendes Kampffeld auf. Es scheint mir, dass in der Zusammenkunft dieser Momente heute in Europa eine vernünftige politische Perspektive entstehen kann. Es ist keine einfache Perspektive, sie kollidiert mit dem Fortbestehen des Neoliberalismus als einem wesentlichen Kriterium der „Governance“, einem Neoliberalismus, der mit einem starken Staat reibungslos koexistieren kann. Und sie kollidiert mit der Präsenz mächtiger kapitalistischer Akteure, für die Wohlfahrt nur eine Restbedeutung haben kann. Dass die Krise dazu führt, die Hierarchien innerhalb der Gesellschaften gewalttätiger zu machen, was sich in der Ausbreitung des aggressiven Individualismus und der Angst, die wir seit Beginn der Pandemie erlebt haben, zeigt, ist anzunehmen. – Und doch sind die dem entgegenstehenden Reaktionen nicht randständig. Es gilt Räume der Konvergenz von Bewegungen, sozialen Kämpfen und Arbeitskämpfen zu schaffen, an denen es während der Pandemie glücklicherweise nicht gefehlt hat - nicht nur in den Vereinigten Staaten, die von den Aufständen und Demonstrationen der Black Lives Matter erschüttert wurden und wo die Kontinuität und Metamorphosen dieser Bewegung ein entscheidender Faktor für die politische Dynamik nach der Niederlage von Trump sein werden.

Sandro Mezzadra lehrt Theorie der Politik an der Universität von Bologna und ist Adjunct Fellow am Institute for Culture and Society, University of Western Sydney. Er ist ein aktiver Teilnehmer an der ›post-operaistischen‹ Debatte und einer der Gründer des Projekts Euronomade (www.euronomade.info). Im letzten Jahrzehnt hat er sich intensiv mit Migration, postkolonialer Kritik und globalem Kapitalismus beschäftigt. 


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