Westjordanland

Autoritär auch ohne Staatlichkeit

06.07.2020   Lesezeit: 7 min

Die Palästinensische Autonomiebehörde nutzt den Corona-Ausnahmezustand zum Ausbau ihrer Macht über die Bevölkerung. Vertrauen genießt sie längst nicht mehr.

Von Mariam Puvogel

Anwohner*innen aus Hebron haben während der Ausgangsbeschränkungen wegen Covid-19 verstörende Szenen in den sozialen Medien geteilt: Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) greifen Straßenhändler an, die auf der Straße buchstäblich um ihre ökonomische Existenz kämpfen. Händler werden mit Knüppeln geschlagen, Stände zerstört.

Das vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Verarmungsprozesses, bedingt durch die Schließungen des gesamten Gastronomie-, Tourismus- und Service-Sektors in der Westbank Mitte März, durch den eine nicht überschaubare Anzahl von Menschen in die Arbeitslosigkeit gestürzt wurde. Nach Schätzungen von UN OCHA sind seit Beginn des Ausnahmezustandes etwa 110.000 Familien zusätzlich unter die Armutsgrenze gerutscht.

Menschlicher Ballast

Die Gewalt gegen Straßenhändler fügt sich ein in den repressiven und unsolidarischen Umgang der PA mit den rund 70.000 palästinensischen Arbeitern, die durch Jobs in Israel auf Baustellen, in Schlachthäusern oder in Industriezonen ihre Familien ernähren und dafür prekärste Arbeitsbedingungen in Kauf nehmen müssen. Während der Schließung der Checkpoints von März bis Mai konnten diese nicht mehr pendeln und waren gezwungen, in Israel zu bleiben. Die medico-Partnerorganisation Adalah, die sich für gleiche Rechte von Palästinenser*innen vor und hinter der Grünen Linie einsetzt, stritt in den letzten Monaten für den gleichberechtigten Zugang zu Gesundheitsversorgung in Israel.

Doch trotz des Einsatzes von Menschenrechtsorganisationen wie Adalah blieb die Lage für die Arbeiter katastrophal. Entgegen der offiziellen Verlautbarungen des israelischen Gesundheitsministeriums blieben sie während der Zeit der Schließung der Checkpoints nicht nur ohne Zugang zu Gesundheitsversorgung, sie mussten meist auch statt der versprochenen Hostelzimmer auf den Baustellen und in den Lagerhallen der Industrieparks schlafen, in denen sie arbeiten. Arbeiter, die Symptome von Covid-19 zeigten, wurden mehrmals von israelischen Sicherheitskräften auf der palästinensischen Seite der Checkpoints wie menschlicher Ballast abgeworfen.

Keine Hilfe durch die PA

Und ab Anfang April, als die Covid-19-Fälle in Israel stark anstiegen, erklärte die PA die palästinensischen Arbeiter zur Bedrohung, weil sie den Virus in die Westbank einschleppen würden. In Statements brüsteten sich PA Politiker damit, wie Sicherheitskräfte Arbeiter aufspürten, die versuchten vorbei an den Checkpoints in die Westbank zu ihren Familien zurück zu kehren, um den unerträglichen Zuständen in den Quarantäne-Einrichtungen der PA zu entgehen. Auch als Premierminister Shtayyeh vollmundig erklärte, alle palästinensischen Arbeiter sollten aus den Siedlungen und Baustellen in Israel zurückkehren, man gebe ihnen hierfür ein extra Zeitfenster, war keine auch nur annähernd angemessene finanzielle Kompensation für den Lohnausfall vorgesehen, den sie hierdurch erleiden würden.

Dies kommt nicht sonderlich überraschend, denn der Haushalt der PA gibt bereits seit vielen Jahren einigen Aufschluss über ihre Prioritäten. Während der Landwirtschaftssektor 2018 – als der einzig produktive Sektor der palästinensischen Wirtschaft – nur rund 2 Prozent des Gesamthaushalts erhielt, schluckte der Sicherheitssektor mit rund 1 Milliarde US Dollar rund 26 Prozent des Gesamtbudgets.       

Zwar bekam die PA seit Ausbruch der globalen Pandemie durch internationale NGOs und Geberstaaten über 14 Millionen US-Dollar und zusätzlich noch rund 17 Millionen US-Dollar über den Waqfet Izz, einen Fonds der PA, in den vor allem private Spenden der Business-Eliten flossen. Wofür diese Gelder bisher ausgegeben wurden, ist selbst für Angestellte der PA nicht klar, wie eine Mitarbeiterin des Gesundheitsministerium im Gespräch Anfang Mai schulterzuckend auf einem online Koordinierungstreffen mit vor Ort tätigen Gesundheitsorganisationen zugab. Seit Mai dieses Jahres zahlte die PA zudem ihren etwa 140.000 Angestellten nur noch rund 50% ihrer Gehälter. Vor dem Hintergrund der durch Corona verschärften ökonomischen Krise stürzte dies eine nicht überschaubare Anzahl von Familien in die absolute Mittellosigkeit.

Während (nicht ausschließlich) autoritäre Staaten überall auf der Welt die Pandemie nutzen, um Kontrolle und Überwachung öffentlicher Räume weiter zu konsolidieren, schreitet in den besetzten palästinensischen Gebieten die Transformation zum autoritären Regime auch ohne echte Staatlichkeit weiter voran.

Ausgelaufenes Mandat

Das Straßenbild in den Städten der Westbank war während der Ausgangsperren von einem massiv erhöhten Aufgebot von Sicherheitskräften geprägt. Darunter auch die sogenannte „Preventive Security“, eine Geheimpolizei, die seit Beginn der 1990er Jahre für die „innere Sicherheit“ zuständig ist und deren rund 5.000 meist in Zivil agierende Mitarbeiter für Gewalt und Folterverhöre an Oppositionellen bekannt sind.

Die Sicherheitskräfte der Autonomiebehörde sind zentral für das politische Überleben von Präsident Abbas. Letzterer wurde 2004 auf Druck der USA, der israelischen Regierung und des ägyptischen Diktators Mubarak zum Nachfolger Arafats ernannt und regiert trotz des Ausbleibens von Wahlen nach der Niederlage der Fatah an den Urnen 2006 bis heute weiter. Sein Mandat als Präsident lief bereits 2009 aus. Derweil bleibt unklar, wie der Einsatz der „Preventive Security“ bei der Bekämpfung der Pandemie helfen soll.

Parallel zu den Übergriffen durch die Sicherheitskräfte der PA ging auch seitens der israelischen Armee die strukturelle Gewalt gegen die Bevölkerung in der seit 1967 besetzten Westbank weiter. Allein von März bis Ende April wurden 340 Palästinenser*innen festgenommen. Zudem begannen jordanische Banken im Mai auf Druck der israelischen Regierung Konten von palästinensischen Gefangenen zu schließen. Ihre Angehörige protestierten daraufhin gegen die weitere ökonomische Marginalisierung.

Abrisse, Landraub, Übergriffe

Während die palästinensische Bevölkerung der Repression durch die israelische Besatzungsmacht und die Autonomiebehörde ausgesetzt ist, lief die Zusammenarbeit zwischen PA und israelischem Staat trotz rhetorischer Feindseligkeiten zunächst weiter. Im Sicherheitsrat der UN wurde die Kooperation als Vorbild für zukünftige Friedensgespräche hervorgehoben.

Entgegen der Verlautbarung der Militärverwaltung, während der Pandemie keine Häuser abreißen zu wollen, wurden mit der Begründung fehlender Baugenehmigungen allein in den South Hebron Hills im Süden der Westbank von März bis Juni 2020 über 50 Menschen durch den Abriss ihrer Häuser oder Zelte obdachlos gemacht. Samira, eine junge Aktivistin aus der Region, beschreibt die Situation der letzten Monate: „Die Siedler hier in der Gegend nutzten die Pandemie, um ihren Landraub massiv fortzusetzen. Der mediale Fokus auf Corona und unsere eingeschränkte Fähigkeit, während der Ausgangsperre zu Protesten zu mobilisieren, kam ihnen dabei entgegen. Seit Ende März haben die Angriffe von bewaffneten Siedlern mit Hunden auf Schäfer in Tuwani, Susya und anderen Dörfern der South Hebron Hills, aber auch auf uns, die wir die Übergriffe filmen, zugenommen.“

Aufgrund der von Netanjahu angekündigten Annexion von Teilen der Westbank beendete die PA Ende Mai offiziell ihre Kooperation mit der israelischen Regierung. Während Israel sich unbeeindruckt zeigt, führte der Abbruch der Koordination insbesondere im Gesundheitsbereich schnell zu einer desaströsen Situation für Patient*innen aus Gaza und der Westbank, die für ihre Behandlung aus den besetzten Gebieten ausreisen müssen. Die zur Ausreise benötigten israelischen Genehmigungen wurden bisher über die PA beantragt. Die medico-Partnerorganisationen Al Mezan und Physicians for Human Rights Israel unterstützen seitdem vermehrt Patient*innen dabei, auf alternativen Wegen Genehmigungen zu erwirken.

Bezeichnend für das Verhältnis zwischen Palästinenser*innen in der Westbank und der PA ist jedoch, dass trotz des offiziellen Abbruchs aller Kooperation 57 Prozent der Bevölkerung in der Westbank glauben, dass es sich, wie öfter in der Vergangenheit, nur um einen Bluff handle und die Sicherheitskooperation informell weiter gehe. Yehya, ein Sportstudent aus Bethlehem, fasst die Haltung eines Großteils der Bevölkerung zusammen; „Wir leben seit Oslo Anfang der 1990er mit einem Regime, das sich zum Subunternehmer der Besatzung gemacht hat. Daran wird weder Corona noch die angekündigte Annexion etwas ändern. Das Ende der Sicherheitskooperation wäre das Ende der PA. Und die ist trotz der desaströsen Lage nicht bereit, ihre Macht abzugeben. Die PA und die Besatzung – das sind zwei Seiten derselben Medaille.“

Die „Physicians for Human Rights Israel“ tun alles, um ihre offene Klinik für Geflüchtete in Yaffa im Betrieb zu halten, Al Mezan unterstützt Patient*innen beim Beantragen der Ausreisegenehmigung und die in Haifa ansässige Menschenrechtsorganisation Adalah all jene rechtlich vertritt, denen der Zugang zur Gesundheitsversorgung in Israel verweigert wird.

Dies ist der zweite Text in einer kurzen Reihe über die Auswirkungen des Coronavirus in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Den ersten Text finden Sie hier. In einem folgenden Beitrag sprechen wir mit jungen Aktivist*innen von Youth of Sumud aus den South Hebron Hills über die Auswirkungen der Ausgangssperre, über Landraub, Siedlergewalt und die Möglichkeiten widerständiger Praxis.

Mariam Puvogel

Mariam Puvogel war bis Ende 2020 medico-Büroleiterin Israel und Palästina.


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