Jeder Tag in Sepur Zarco ist ein staubiger Tag. Doch heute wirbeln ihn nicht die Laster, Motorräder und Pick-Ups auf, die sonst über die Hauptstraße des Ortes an Holzhäusern mit Wellblechdächern vorbeibrausen. Heute ziehen Hunderte Menschen die Straße entlang, vorbei an dem Platz, wo zur Hochphase des Bürgerkriegs in den 1980er Jahren ein Militärlager stand und weiter zu einer Halle am Rand des Ortes. Mitten im Pulk laufen einige alte Frauen in der traditionellen Kleidung der Maya Q’eqchi‘. Eine von ihnen ist María Ba Caal, 83 Jahre alt. 1982 töteten Soldaten ihren Mann und ihre älteren Söhne. Bis heute weiß sie nicht, wo die Leichen verscharrt wurden. Ein Schicksal, das sie mit Tausenden indigenen Frauen teilt, deren Familien im Genozid zerstört wurden.
María selbst haben die Soldaten zusammen mit anderen Frauen in das Militärlager von Sepur Zarco verschleppt, wo sie über Jahre sexuell missbraucht und ausgebeutet wurde. Ein systematisches Vorgehen des Militär im Bürgerkrieg. Lange hat María nicht darüber gesprochen, sondern den Schmerz ebenso wie die Angst vor einer Wiederkehr der Militärs für sich behalten. Das lag auch an der Stigmatisierung, die viele Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt erfahren haben. Für viele galten sie als Prostituierte und wurden an den Rand gedrängt.
Erst viele Jahre später gewannen María und vierzehn andere Frauen die Sicherheit, über das Geschehene sprechen zu können. In vielen Gesprächen mit den Psychologinnen der medico-Partnerorganisation ECAP teilten María und die anderen Überlebenden ihre Erfahrungen und bereiteten sich darauf vor, vor Gericht gegen ihre Peiniger auszusagen. 2016 wurden zwei ehemalige Militärs zu hohen Haftstrafen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und sexuellen Missbrauchs der 15 klagenden Frauen, ihrer Versklavung und der Ermordung ihrer Männer verurteilt. Ein historisches Urteil, an das die Demonstration Ende Februar auf der staubigen Hauptstraße von Sepur Zarco erinnert.
Die jährliche Veranstaltung habe eine große Bedeutung für sie, sagt María: „Wir teilen unsere Erfahrung mit den jüngeren Generationen und wollen so dazu beitragen, dass sich niemals wiederholt, was wir erleiden mussten.“ Gleichzeitig demonstrieren die Menschen in Sepur Zarco für die vollständige Umsetzung des Urteils. Zwar haben die Frauen durch das Urteil inzwischen viel Anerkennung erfahren, doch bis heute hat der guatemaltekische Staat Bestandteile des Urteils zur Wiedergutmachung nicht umgesetzt. Eine mobile Klinik wurde zwar eröffnet, aber weder Personal noch Medikamente gestellt. Die Schaffung eines Gedenkortes an der Stelle des Militärlager lässt ebenso auf sich warten.
Kampf um Land und Rechte
Auch für Humberto Cuc, einen jungen Mann mit dünnem Schnauz- und Kinnbart, ist die Geschichte nicht vorbei. „Mit dem Genozid an der indigenen Bevölkerung sollte ihre Forderung nach Land zum Schweigen gebracht werden“, sagt er. „Doch für dieses Land kämpfen wir bis heute.“ Humberto ist gewählter Vertreter der indigenen Gemeinden aus dem nahegelegenen El Estor und berichtet, wie die Monokultur der Palmöl-Plantagen in der Region immer weiter um sich greift, dazu Tagebau und andere Großprojekte, die das Wasser der Flüsse verschmutzen und den fruchtbaren Boden in der Region auslaugen. Die wenigsten Menschen hier hätten einen Eigentumstitel für das Land, auf dem sie leben und das sie bearbeiten, erzählt Humberto. Immer wieder würden deshalb ganze Gemeinden in der Umgebung von Hundertschaften der Polizei geräumt, sogar Häuser niedergebrannt. Das aber widerspreche internationalem Recht, so Humberto. Auch ohne Urkunde müsse der Staat das Besitzrecht der indigenen Gemeinden anerkennen. Um Zwangsräumungen zu verhindern, greifen gerade die Jüngeren in den Gemeinden inzwischen oft zum Smartphone. Die Öffentlichkeit, die eine Live-Übertragung auf Facebook schaffe, habe die Polizei schon öfter zum Abzug bewogen, berichtet er stolz.
Widerstand gegen staatliche Gewalt, Aufrechterhalten der Erinnerung, Kampf um Territorium und Natur, darum geht es auch den Aktivist:innen der medico-Partnerorganisation Festivales Solidarios. Sie kommen seit Jahren nach Sepur Zarco und arbeiten hier und in anderen indigenen Gemeinden mit Kindern und Jugendlichen. In Workshops zur Herstellung einfacher Musikinstrumente, mit Musik, Bewegung und Akrobatik bauen sie eine Brücke in die Gemeinde. Das schafft nicht nur sozialen Zusammenhalt, sondern wird auch politisch wirksam, indem das Wissen um indigene Rechte und der Bezug zur Gemeinde vertieft und so ein kollektives politisches Bewusstsein gestärkt wird. Wo viele Menschen eher indigene Sprachen sprechen als Spanisch und weder lesen noch schreiben können, funktionieren die künstlerisch-kreativen Ansätze von Festivales Solidarios wie ein Türöffner, erklärt Alma Moltalván aus dem Kollektiv.
Gegründet wurde Festivales Solidarios Ende 2012. Damals hatten Gemeinden der Maya K'iche im westlichen Hochland von Guatemala gegen hohe Energiepreise protestiert. Bei einer Straßenblockade erschossen Soldaten sechs Demonstranten. Um die Geschehnisse zu dokumentieren taten sich die damals Anfang 20-Jährige Lucía Ixchiu, ihre Schwester Andrea und andere Aktivist:innen zusammen. Sie gründeten Festivales Solidarios als Plattform für Berichterstattung aus indigenen Gemeinden. Gleichzeitig nutzen sie künstlerische Ausdrucksformen, um die alten Muster des Protests aufzubrechen. Doch in den vergangenen Jahren überzogen Regierung und Generalstaatsanwaltschaft Protestbewegungen, missliebige Richter:innen und kritische Journalist:innen mit Repression. Viele verließen das Land, auch die Ixchiu-Schwestern und Lucías Lebensgefährte Carlos Cano gingen ins Exil.
Anerkennung der indigenen Mehrheit
Doch der Wind dreht sich. Nachdem der progressive Kandidat Bernardo Arévalo im Sommer überraschend die Präsidentschaftswahlen gewonnen hatte, tat die korrupte Elite des Landes zwar alles, um seinen Amtsantritt zu verhindern. Doch mit einer nie dagewesenen Machtdemonstration ermöglichten die indigenen Gemeinschaften die Amtsübernahme. Im ganzen Land hatten indigene Autoritäten zum Protest aufgerufen. Über drei Monate legten Straßenblockaden die Wirtschaft lahm, Hunderte Menschen aus indigenen Gemeinden besetzten Plätze in der Hauptstadt. Für ihre Verteidigung der Demokratie haben sie viel Anerkennung bekommen; man möchte sagen: Soviel Anerkennung hat das indigene Guatemala seit Beginn der Kolonisierung nicht erfahren. Die indigene Präsenz in Guatemala-Stadt hat deutlich gemacht, dass die Mehrheit des Landes auch eine politische Kraft ist, nicht nur arm und marginalisiert.
Die Erwartungen an Bernardo Arévalo sind groß, mindestens so groß wie die sozialen Probleme des Landes und die Macht der Korrupten in Parlament und Institutionen. Seit Arévalos Amtsantritt sind erst wenige Wochen vergangen, doch der Drang auf einen Wandel ist groß, viele Menschen sind ungeduldig. In Sepur Zarco klagt Humberto, dass in Arévalos Kabinett nur eine indigene Person vertreten ist. Diese Unterrepräsentation könnte sich mit der anstehenden Ernennung der Gouverneure der 22 departamentos von Guatemala ändern. In den vergangenen Legislaturperioden hat der jeweilige Präsident sie nach Gutdünken ernannt, die Posten waren ein Freifahrtschein für Korruption. Arévalo hat eine Demokratisierung des Auswahlprozesses angekündigt. Und tatsächlich stellen sich anerkannte indigene Autoritäten, Gesichter der vergangenen Proteste, zur Verfügung.
Zweischneidig findet diese Entwicklung Quimy de León vom unabhängigen Nachrichtenportal Prensa Comunitaria. Das von medico unterstützte Projekt hat sich mit seiner Berichterstattung aus dem indigenen Hinterland Guatemalas zum meistgeklickten Medium des Landes gemausert. Die lokale Verankerung gewährleisten Gemeinde-Journalist:innen, deren Arbeit von einem Redakteur:innen-Netzwerk begleitet wird. „Natürlich ist es besser, wenn Leute entscheiden, die sich auskennen“, sagt Quimy. Doch sie fürchtet, dass die Stärkung der indigenen Bewegungen im Zuge der Proteste langfristig in eine Schwächung umschlägt, wenn sie sich dem Staat annähern. Insbesondere in Guatemala, wo der Staat immer eine Institution der rassistischen Dominanz über die indigene Bevölkerung war, sei große Vorsicht angebracht. Dagegen setzt Quimy auf die Autonomie der indigenen Gemeinden und die Mobilisierung der kritischen Öffentlichkeit.
Dass in diesem Jahr erstmals eine Delegation der überlebenden Frauen von Sepur Zarco zum Jahrestag des Urteils von der Vize-Präsidentin Guatemalas empfangen wurde und die Regierung sich endlich zur Umsetzung des Urteils verpflichtet, ist ein enorm wichtiger Schritt. Mindestens ebenso wichtig ist, dass der Druck aus der Gemeinde auf die Regierung nicht nachlässt.
Seit Jahrzehnten stehen medico-Partnerorganisationen den Kämpfen um Land und Gerechtigkeit in Guatemala zur Seite. Mit psychosozialer Hilfe, juristischer Begleitung, politischer Aufbauarbeit und journalistischer Berichterstattung unterstützen sie die Demokratisierung des Landes und die Organisierung indigener Gemeinden.