Gaza

Die Genozid-Frage

28.01.2025   Lesezeit: 3 min  
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Seit Anordnung der Maßnahmen des Internationalen Gerichtshofs zum Schutz der Palästinenser:innen vor Genozid hat Israel die bereits unerträgliche Situation weiter dramatisch verschlimmert.

Am 26. Januar 2025 war es ein Jahr her, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag auf Betreiben der Republik Südafrika seine Entscheidung bekannt gab, ein förmliches Verfahren gegen den Staat Israel zu eröffnen. Als Ergebnis der ersten Anhörungen ordnete der IGH vorläufige Maßnahmen an, da das Gericht feststellte, dass das Recht der Palästinenser:innen auf Schutz vor einem Genozid gemäß dem Übereinkommen zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes wahrscheinlich verletzt werde und dass der Staat Israel weiterhin Handlungen durchführe, die möglicherweise genozidal seien.

medico begrüßte die Entscheidung des Gerichts und die Anordnung von sechs verbindlichen einstweiligen Maßnahmen, um Israel an Handlungen zu hindern, die einen Völkermord darstellen könnten. Gleichzeitig kritisierten wir die Bundesregierung für ihre Parteinahme und ihre im Wesentlichen bedingungslose, auch militärische, Unterstützung der israelischen Regierung. Wir bemängelten auch ihre Ablehnung des schwerwiegenden und gut dokumentierten südafrikanischen Vorwurfs des Völkermords als „haltlos“, womit sie die Schwere des Falles verharmloste und die Autorität des Gerichtshofs offen untergrub, wenn nicht sogar in Frage stellte.

Wir selbst hielten damals an den Begriffen „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ fest, da wir davon überzeugt waren, dass diese nicht nur im Gazastreifen, sondern auch im Westjordanland an Palästinenser:innen begangen wurden.

Missachtung des IGH

Wie die Realität in Gaza zeigt, haben sich die israelische Regierung und ihre Streitkräfte nicht nur dafür entschieden, die vom IGH angeordneten vorläufigen Maßnahmen im Großen und Ganzen zu missachten, sondern im Gegenteil die bereits unerträgliche Situation noch zu verschlimmern und sie seitdem auf so vielen Ebenen aktiv zu verschlechtern. Die israelischen Streitkräfte haben im Auftrag ihrer Regierung den größten Teil des Gazastreifens systematisch zerstört; sie haben die Mehrheit der Bevölkerung mehrfach vertrieben und ihre materielle Lebensgrundlage zerstört, Zehntausende von Zivilpersonen getötet, auch durch den Einsatz von KI-gestützter „Zielidentifizierung“, weitere Zehntausende Menschen dauerhaft verstümmelt oder verletzt, geschützte Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen, Moscheen und Kirchen angegriffen und den nördlichen Gazastreifen ethnisch gesäubert.

Kurz gesagt, die israelische Regierung tat genau das, was der IGH ihr untersagt hatte, wenn sie nicht Gefahr laufen wollte, einen Genozid zu begehen, wie er in der entsprechenden Konvention unter anderem durch Handlungen wie die „Tötung“ oder die „Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe“ definiert ist, „in der Absicht […], eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.

In früheren Situationen, in denen Israel Krieg gegen den Gazastreifen geführt hat, hat medico mit palästinensischen und israelischen Partner:innen Erkundungsmissionen nach Gaza zu Dokumentationszwecken finanziert und initiiert. Diese wurden durchgeführt, um das Ausmaß der Tötungen, der Zerstörung und der Bedürfnisse im Gazastreifen zu ermitteln. Aufgrund der massiven Tötungen, Zerstörungen und der nahezu hermetischen Abriegelung der Enklave durch Israel seit Oktober 2023 war dies jedoch nicht möglich. Daher stützen wir uns auf unsere Partner:innen, juristische und akademische Expert:innen sowie erfahrene Verbündete in der ganzen Welt, die eine Fülle von Berichten, Dokumentationen und investigativen Arbeiten über die israelische Politik und Vernichtung in Gaza erstellt haben.

Die Schlussfolgerung ist eindeutig, und medico teilt die Analyse, dass die israelischen Aktionen einen Völkermord darstellen. Auch wenn das Verfahren vor dem IGH noch nicht abgeschlossen ist, sind die umfangreichen Untersuchungen internationaler Menschenrechtsorganisationen und die Dokumentationen lokaler Organisationen, darunter langjährige Partner von medico international, zu umfangreich, um sie zu ignorieren. Deshalb wird medico zur Beschreibung der Handlungen des israelischen Staates in Gaza ab Oktober 2023 den Begriff „Völkermord“/“Genozid“ verwenden.


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