Genozid-Verfahren

Südafrikanisches "Nie wieder"

14.02.2024   Lesezeit: 8 min

Die Klage beim Internationalen Gerichtshof gegen Israel ist Ausdruck der Lehren aus der Apartheid.

Von Usche Merk

Es ist nicht nur in Den Haag ein bewegender Moment, als die südafrikanische Delegation den Internationalen Gerichtshof betritt. Überall in Südafrika werden die Anhörungen live verfolgt und öffentlich Unterstützung demonstriert. „Ich bin stolz darauf, Südafrikanerin und Teil der rechtskundlichen Gemeinschaft zu sein, zu der die brillanten Köpfe gehören, die Südafrikas juristisches Team ausmachen“, sagt die jüdische Anwältin Caitlin Le Roith auf einer Solidaritätsversammlung. „Unsere Geschichte und Erfahrungen als Südafrikaner:innen ebenso wie die des jüdischen Volkes machen den südafrikanischen Antrag für jemanden wie mich besonders bedeutsam.“

50 Jahre Menschenrechtskämpfe

Ende 2023 hatte Südafrika beim Internationalen Gerichtshof (IGH) die Eröffnung eines Genozid-Verfahrens beantragt und einen Eilantrag gestellt, um die israelischen Angriffe auf Gaza zu stoppen sowie Hilfe für die Zivilbevölkerung zu erzwingen. Am 11. Januar fand in Den Haag die Anhörung statt, in der die neunköpfige südafrikanische Delegation ihre Antragsbegründung und Argumentation vorstellte. Deren Mitglieder sind ausgewiesene Menschenrechtler:innen, die in Südafrika höchsten Respekt genießen, weil sie sich nie politischem Druck gebeugt haben, sondern sich nur der demokratischen Verfassung verpflichtet sahen. Die Zusammensetzung der Delegation verkörperte 50 Jahre Menschenrechtskämpfe in Südafrika.

Da war beispielsweise John Dugard, der 87-jährige Leiter des südafrikanischen Anwaltsteams. Er ist UN-Völkerrechtler und war selbst Ad-hoc-Richter am IGH. 1978 gründete er in Johannesburg das Centre for Applied Legal Studies (CALS), eine der ersten Organisationen, die mit ihren Beratungen in den dunkelsten Zeiten der Apartheid das Recht Schwarzer Südafrikaner:innen verteidigte, Rechte zu haben. Bis heute gilt die Institution als unbestechliche Verteidigerin der Menschenrechte und ihrer Durchsetzung in Südafrika – im Zweifel auch gegen die ANC-Regierung. Da war die Anwältin Adila Hassim, die die südafrikanische Argumentation am IGH mit den Worten eröffnete: „Völkermorde werden nie im Voraus verkündet, aber dieses Gericht hat in den letzten 13 Wochen Beweise erhalten, die ein Muster erkennen lassen.“ Hassim kämpft seit langem für sozioökonomische Rechte in Südafrika und war auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise für den Zugang zu antiretroviralen Medikamenten stritt. Und da war Tembeka Ngcukaitoibi. Den Vorwurf einer mörderischen Vertreibungsabsicht in Gaza begründete er mit Aussagen von israelischen Militärs und Politikern. Er ist führender Verfassungsrechtler, Menschenrechtsanwalt im Legal Resources Centre und leitete zentrale Korruptionsprozesse gegen den ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma und die aktuelle ANC-Regierung.

Das Recht auf Rechte

Es ist kein Zufall, dass diese Anwält:innen Südafrika in Den Haag repräsentieren. Ebenso wenig Zufall ist es, dass Südafrika den Antrag gegen Israel vor den IGH brachte. Erste Anhaltspunkte, warum das Geschehen in Gaza in Südafrika besondere Aufmerksamkeit erfährt, mögen die Erinnerung an problematische militärische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen Israel und Apartheid-Südafrika bieten; oder das noch heute enge Verhältnis zwischen ANC und PLO; oder die Tatsache, dass Nelson Mandela Anwalt, Oliver Tambo und viele andere legendäre Kämpfer:innen gegen die Apartheid allesamt Jurist:innen waren. Weil der Apartheidstaat behauptete, ein Rechtsstaat zu sein, und weil das System der Apartheid in mehr als tausend Gesetzesvorschriften niedergelegt war, standen Anwält:innen oft an der Spitze des Widerstands. Dabei waren zwei Motive zentral: Alle Menschen haben das Recht, Rechte zu haben. Und dieses Recht gilt für alle gleich, selbst für die früheren Unterdrücker:innen. Diese Haltung prägte die demokratische Verfassung Südafrikas und den politischen Übergang, der keine Siegerjustiz oder Vertreibung der Weißen mit sich brachte.

Zur ganz eigenen Tradition Südafrikas gehört auch, dass eine große Zahl der weißen Unterstützer:innen des Anti-Apartheid-Kampfes jüdisch waren, obwohl Juden und Jüdinnen unter den Weißen Südafrikas eine kleine Minderheit waren und sind. Viele jüdische Aktivist:innen kamen aus Familien, die den Holocaust überlebt hatten, die meisten von ihnen waren nicht zionistisch eingestellt und offen für palästinensische Perspektiven. Damit waren sie aber auch häufig Angriffen vom anderen Teil der jüdischen Community ausgesetzt, der sich eng mit Israel verband.

Die politische und wirtschaftliche Realität ist trotz der Abschaffung der Apartheid 1994 weit hinter dem Ideal der demokratischen Verfassung zurückgeblieben. Deshalb standen und stehen juristische Kämpfe auch in den letzten 30 Jahren im Zentrum der Verteidigung sozialer und politischer Rechte in Südafrika. Gleichzeitig und zunehmend gerät diese Praxis der Verteidigung der Verfassung und internationaler Rechtsinstrumente im demokratischen Südafrika unter Druck: Immer wieder werden Vorwürfe laut, dass sie ein Produkt „westlicher“ und „weißer“ Rechtstraditionen seien. Hinzu kommt der Ruf nach „afrikanischen dekolonialen Rechtssystemen“ – auch wenn sich dahinter häufig Eigeninteressen bestimmter Kreise der neuen Elite verbergen und Strömungen eines ethnischen Nationalismus. Bisher gelang es, diese Forderungen als identitär und patriarchal zurückzuweisen. Statt des Aufweichens der Verfassung fordern Menschenrechtsanwält:innen deren Präzisierung und Ausweitung. Auch in Bezug auf universelle Normen und internationale Konventionen gab es in Südafrika Auseinandersetzungen, die diplomatisches Geschick erforderten: Als vor dem BRICS-Treffen im August 2023 in Südafrika die Forderung westlicher Länder laut wurde, Südafrika müsse Putin an den Internationalen Strafgerichtshof ausliefern, gab es auf der anderen Seite Druck auf das Land, aus dem Strafgerichtshof auszusteigen. Südafrikas Regierung verweigerte beides und setzte durch, dass Putin nicht persönlich an dem Treffen teilnahm.

Jenseits der Dichotomie

Mit dem Massaker der Hamas und dem darauffolgenden Krieg Israels gegen Gaza hat sich eine Spaltung der Welt vertieft, die vor allem diskursiv polarisiert: An der Seite Israels der „Westen“, allen voran die USA und Deutschland, der „Globale Süden“ auf der Seite der Palästinenser:innen. Südafrika durchbricht diese Dichotomie. Das Land hat sich nicht immer schon zwischen Westen und Globalem Süden verortet. Es ist auch von vielen Widersprüchen geprägt und durchzogen. Die Apartheid steht stellvertretend für die Doppelstandards, ethischen Ansprüche und Abgründe des Westens. Eingeführt wurde sie 1948, im selben Jahr, in dem die Vereinten Nationen die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ verabschiedeten. Die Verurteilung der Apartheid durch die Vereinten Nationen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ war dann auch ein zentrales Element des Kampfes gegen die Apartheid, der vor 50 Jahren zum Symbol der Kämpfe des Globalen Südens wurde.

An diesen „südafrikanischen Universalismus“ knüpft man heute wieder an. In Südafrika war der Stolz auf die Anwält:innen, die mit Hilfe des IGH einen Stopp der Militäraktionen in Gaza und den Zugang zu humanitärer Hilfe erwirken wollten, entsprechend groß. „Schwarze, die die Apartheid überlebt haben, wurden Richter und Anwälte und verteidigen jetzt die Palästinenser gegen das Land, das Südafrika während der Apartheid Waffen geliefert hat“, schrieb ein Kommentator in den sozialen Medien. Darin drückt sich auch die Bedeutung des „Nie wieder“ aus, das den Geist der südafrikanischen Verfassung, aber auch das gelebte Selbstverständnis prägt: Es meint alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit. „Als Kind der Apartheid habe ich immer versucht, mein ‚Nie wieder‘ zu leben“, schrieb Ferial Haffajee, eine wichtige öffentliche Stimme in Südafrika angesichts der Anhörung. „Einer der Wege ist, zu lernen, wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermorde beginnen. Dieses Wissen bedeutet, dass man etwas dagegen tun und Teil der ‚Nie wieder‘-Armee sein kann.“ Und sie ergänzt: „Warum hat die Menschheit 1948 eine Völkermordkonvention (als Reaktion auf den Holocaust) ins Leben gerufen, wenn nicht, um aus dessen Entstehung zu lernen?“

Einspruch aus Namibia

In Deutschland scheint man das anders zu sehen. Bereits wenige Stunden nach der südafrikanischen Präsentation behauptete die Bundesregierung, die Vorwürfe Südafrikas würden „jeder Grundlage entbehren“. Die Ankündigung, Deutschland würde sich als Drittpartei an die Seite Israels stellen, begründet sie damit, dass sich die Bundesregierung „angesichts der deutschen Geschichte und des Menschheitsverbrechens der Shoah der Konvention gegen Völkermord besonders verbunden sieht“.

Diese Haltung und der Verweis auf die deutsche Geschichte führte sodann auch im Nachbarland Südafrikas sofort zu Empörung. Der namibische Präsident verwies auf die Unfähigkeit Deutschlands, Lehren aus seiner grausamen Geschichte zu ziehen, wenn es um Namibia geht: „Auf namibischem Boden beging Deutschland in den Jahren 1904 bis 1908 den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Die deutsche Regierung hat diesen Völkermord [an den Ovaherero und Nama] noch immer nicht vollständig anerkannt und entschädigt.“ Sima Luipert von der Nama Traditional Leaders Association (NTLA) erinnerte daran, dass erst 2023 zehn UN-Sonderberichterstatter:innen Deutschland dazu aufgefordert hatten, auch den ersten der deutschen Genozide als solchen juristisch anzuerkennen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Deutschland verweigerte sich mit dem Argument, dass es nur aus heutiger Sicht ein Völkermord war, und bot lediglich Entwicklungshilfe an.

Das deutsche Selbstbild, ein Vorbild der Aufarbeitung seiner Gewaltgeschichte(n) zu sein, wird nicht nur durch die beängstigende Rechtsentwicklung im Inneren, mit steigendem Antisemitismus und Rassismus, dessen Wurzeln geleugnet und ignoriert werden, infrage gestellt, sondern auch von der Kritik aus Namibia und dem völkerrechtlichen Vorbild Südafrikas. Anstatt Südafrikas Schritt ernst zu nehmen und das Gerichtsverfahren zu respektieren, schwächt die deutsche Variante des Lernens aus der Geschichte das internationale Recht und seine Institutionen. Von Südafrikas Gang nach Den Haag lässt sich dagegen lernen, was ein universell gedachtes „Nie wieder“ bedeuten kann.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Usche Merk

Usche Merk ist in der Abteilung für transnationale Kooperation seit 1995 zuständig für das Thema Psychosoziale Arbeit, außerdem ist sie verantwortlich für Projekte in Südafrika und Sierra Leone. Die Pädagogin und systemische Beraterin hat drei Jahre lang beim medico-Partner Sinani in Südafrika in der Friedensarbeit mit gewaltgeprägten Gemeinden gearbeitet. Daneben unterstützt sie als Supervisorin und Trainerin Menschen, die in Krisenregionen oder mit Flüchtlingen arbeiten.


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