Liebe Leserinnen und Leser,
wir hatten es in der Redaktion anders geplant: Zum Jahresende wollten wir eine rundschreiben-Ausgabe mit dem Fokus auf Projektregionen erstellen, die nicht im Mittelpunkt des medialen Interesses stehen und die in den Krisendynamiken dieses Jahr bisher wenig sichtbar waren. Dann kam alles anders. Während ich täglich mit unseren Partner:innen in Rojava im Austausch stand, die vor den Luftangriffen des türkischen Militärs Schutz suchten und Hilfe organisierten, erreichten uns am 7. Oktober die grausamen Bilder des Hamas-Massakers aus Israel. Auch wir sind tief bestürzt über die jüngsten Ereignisse. Israel/Palästina ist eine der ältesten Projektregionen medicos, kaum eine ist uns so nahe. Unermüdlich setzen sich unsere Partnerorganisationen in Israel und Palästina seit vielen Jahren grenzüberschreitend für das Recht auf menschenwürdige Verhältnisse und für das Recht auf Rechte aller dort Lebenden ein. Nun steht die Region wieder am Abgrund. Der Krieg dort und das sich entwickelnde Kriegsregime bilden nun einen Schwerpunkt dieses Heftes.
Unser langjähriger israelischer Partner Yehuda Shaul, Gründer von „Breaking the Silence“, fordert eine Abkehr von der militärischen Logik, während eine medico-Partnerin in Gaza, mit der wir seit Jahren kooperieren, von ihrem erschütternden Alltag im Krieg und dem Versuch, Hilfe zu organisieren, berichtet. Als Hilfs- und Menschenrechtsorganisation bleibt uns die bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte für alle. Mario Neumann richtet im Leitartikel den Blick darauf, wie die politische Aushandlung der Nahost-Eskalation hierzulande autoritäre Dynamiken verstärkt.
Mitten in dieses Kriegsgeschehen, das auch hierzulande zu einer Polarisierung geführt hat, forcieren Deutschland und Europa ihre Abschottungspolitik. Die von medico mitgezeichnete Positionsbestimmung „Solidarität ist keine Sonntagsrede“ ist ein Aufschrei dagegen: „Wir stehen vor einem Scherbenhaufen, an einem autoritären Kipppunkt“, heißt es darin. Jetzt geht es um die Verteidigung der offenen Gesellschaft.
2023 markiert nicht nur den 75. Geburtstag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der wir einen Schwerpunkt im letzten rundschreiben widmeten. Vor 75 Jahren wurde in Südafrika auch das Apartheid-System eingeführt. Über die lange Geschichte des Widerstandes, des fortgesetzten Kampfes um Gerechtigkeit und die medico-Arbeit vor Ort schreibt unsere Kollegin Usche Merk, die Mitte der 1980er-Jahre über die Anti-Apartheid-Bewegung zu medico fand. Boniface Mabanza Bambu schließt an sie an und analysiert die verschärften globalen Auseinandersetzungen um Macht und Einfluss auf dem afrikanischen Kontinent und Zugriff auf dessen Rohstoffe. Der Bedeutungsverlust Europas, den er dabei konstatiert, steht auch im Mittelpunkt des Essays von Radwa Khaled-Ibrahim. Und Katja Maurer berichtet vom umkämpften Erinnern an 50 Jahre Putsch in Chile. Das Interview mit der äthiopisch-US-amerikanischen Professorin Adom Getachew wirft noch einmal einen Blick zurück auf den Beginn der Entkolonisierung: Sie kehrt das westliche Narrativ um, das alles vom Ende her erzählt.
Auch wenn das Jahresende unter dem Eindruck vielfacher Gewalt zu Ende gehen wird, hoffe ich, dass dieses Heft einen Beitrag dazu leistet, Gesprächsräume offen zu halten. Für den Zuspruch und manchen Widerspruch, den wir in den letzten Wochen erhalten haben, möchte ich mich an dieser Stelle ausdrücklich bedanken. So bleibt der Kompass richtig ausgerichtet. Sie können entmenschlichenden Diskursen hierzulande entgegentreten, Antisemitismus und Rassismus zurückweisen. Geben Sie das gelesene Heft gerne weiter oder empfehlen Sie Freund:innen die Lektüre. Bleiben wir im Austausch.
Ihre Anita Starosta