Ende Januar hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag im Rahmen seiner Ermittlungen in Afghanistan Haftbefehle gegen zwei Taliban-Führer wegen geschlechtsspezifischer Verfolgung beantragt. Es bestehe der begründete Verdacht, dass Taliban-Chef Hebatullah Akhundzada und der oberste Richter Abdul Hakim Haqqani strafrechtlich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich seien. Der Chefankläger wirft ihnen die Verfolgung von Frauen, Mädchen und Menschen der LGBTQI+-Gemeinschaft vor, denen grundlegende Rechte wie Bildung, Freizügigkeit, freie Meinungsäußerung und Privatleben vorenthalten werden. Er hat auch angekündigt, in Kürze weitere Haftbefehle gegen hochrangige Taliban-Führer zu beantragen. Wir fordern die Richter:innen am IStGH auf, die Anträge des Chefanklägers zu genehmigen, damit förmliche Haftbefehle ausgestellt und die beiden Beschuldigten vor Gericht gebracht werden können.
Wir begrüßen diese historische Entwicklung. Sie stellt einen entscheidenden Schritt zur Beendigung des Kreislaufs der Straflosigkeit dar, unter dem Afghanistan seit Jahrzehnten leidet. Die eingereichten Haftbefehle sind eine deutliche Botschaft an die afghanischen Opfer, dass ihre Rechte gelten und Gerechtigkeit möglich ist. Sie sind auch ein klares Zeichen an die Taliban, dass die Herrschaft durch Gewalt und Verfolgung nicht folgen- und straflos bleiben wird. Außerdem sind sie ein Signal vor allem an jene Teile der internationalen Gemeinschaft, die ihre Beziehungen zu Afghanistans De-facto-Behörden auf gefährliche Weise zu normalisieren begonnen haben. Wir fordern die Politiker:innen der Welt, insbesondere jene aus den Vertragsstaaten des Römischen Statuts, dringend auf, das zu ändern. Andernfalls machen sie sich mitschuldig an den Verbrechen der Taliban, untergraben die Menschenrechte und verstoßen gegen ihre Verpflichtungen, die sie mit Unterzeichnung des Römischen Statuts eingegangen sind. Die internationale Gemeinschaft muss sich an die Seite der afghanischen Opfer und Überlebenden stellen und wirksamen rechtlichen und politischen Druck auf die Taliban und andere fundamentalistische Gruppen in Afghanistan ausüben.
Wir setzen uns nachdrücklich dafür ein, dass die afghanischen Opfer und Überlebenden weiterhin im Mittelpunkt der Ermittlungen des IStGH stehen und dass ihre Rechte klar und öffentlich kommuniziert werden. Sie müssen auch über die rechtlichen Verfahren aufgeklärt und über die Entwicklungen informiert werden. Außerdem müssen sichere Möglichkeiten geschaffen werden, dass sie sich an der Suche nach Gerechtigkeit beteiligen können. Unser opferzentrierter Ansatz ist eine unmittelbare Reaktion auf das in Afghanistan vorherrschende System der Straflosigkeit. Durch die vorrangige Einbeziehung von Opfern und Überlebenden in politische, friedenspolitische und juristische Prozesse wollen wir sicherstellen, dass ihre Stimmen gehört werden und ihr Recht auf Gerechtigkeit verwirklicht wird. Im Dezember 2024, während der Versammlung der Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs, haben wir die erste internationale Tagung der afghanischen Kriegsopfer veranstaltet. Die Veranstaltung bot den Opfern und Überlebenden einen wichtigen Raum, um ihre Geschichten zu erzählen, ihre Forderungen nach Gerechtigkeit zu artikulieren und den anhaltenden Ausschluss von Kriegsopfern von politischen und rechtlichen Prozessen infrage zu stellen. In den Diskussionen wurde hervorgehoben, dass die überlebenden Opfer eine zentrale Rolle bei den Bemühungen um Gerechtigkeit und Ahnung von Menschenrechtsverletzungen spielen müssen. Die Haftbefehlsanträge des Chefanklägers sind zwar ein wichtiger Schritt. Doch der Weg zur Gerechtigkeit ist lang und erfordert schnelle und koordinierte Maßnahmen von allen. Die Anklagebehörde muss ihre Ermittlungen ausweiten und auch Verbrechen untersuchen, die vor 2021 und die von allen Täterseiten begangen wurden – also neben denen der Taliban auch die des Islamischen Staates in der Provinz Khorasa (ISKP) und der nationalen und internationalen Streitkräfte während des jahrzehntelangen bewaffneten Konflikts. Es geht um alle Opfer von Gewalt in Afghanistan, einschließlich ethnischer und religiöser Minderheiten.
Da es im Land keine Mechanismen zur Verfolgung der Verbrechen gibt, sind externe juristische Verfahren von entscheidender Bedeutung. Auf der Tagung im Dezember betonte der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechtslage in Afghanistan, dass zur Aufarbeitung der Verbrechen ein „All-Instrument“-Ansatz nötig sei. Dazu gehören die Bemühungen, Afghanistan wegen Verstößen gegen das „Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“ (CEDAW) beim Internationalen Gerichtshof (IGH) anzuklagen. Anders als der IStGH, der sich auf die individuelle strafrechtliche Verantwortung konzentriert, ist der IGH befugt, die afghanischen De-facto-Behörden als Ganzes zur Rechenschaft zu ziehen. Daneben gibt es weitere wichtige Instrumente, um die systematischen Menschenrechtverletzungen zu verfolgen und zu ahnden. Seit Jahrzehnten kämpfen die afghanischen Opfer und Überlebenden für Gerechtigkeit. Ihr Weg war lang und schwierig. Aber sie haben nicht aufgegeben, und das können sie auch nicht. Wir müssen den Kreislauf der Straflosigkeit endlich durchbrechen.
Doppelstandards?
Der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) 2002 wohnte das Versprechen inne, die Verantwortlichen von Völkermord und Kriegsverbrechen zu verfolgen. Perfekt war das nie, im Gegenteil: Lange galt das Hauptaugenmerk des Gerichts vorwiegend Tätern aus dem globalen Süden. Mit den Ende 2024 erlassenen Haftbefehlen gegen Netanjahu und Gallant deutete sich nun eine universalisierte Anwendung des Rechts an. Prompt aber rücken westliche Staaten, nicht zuletzt Deutschland, vom IStGH ab – und die USA unter Trump haben ihn erneut mit Sanktionen belegt. medicos afghanische Partnerorganisation Afghanistan Human Rights and Democracy Organization streitet derzeit aus dem kanadischen Exil dafür, dass das Völkerrecht für alle Machthaber gilt.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico rundschreiben 01/2025. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!