Seit dem 7. Oktober ist die Welt unserer Partnerorganisationen vor Ort nicht mehr, wie sie war. In Israel betrauern viele Familienangehörige, Freund:innen oder Verwandte. Jede und jeder kennt Menschen, die vom Überfall auf die Gemeinden im Süden Israels und den Ermordungen oder Entführungen betroffen sind.
Auch viele Palästinenser:innen haben durch die Bombardierungen in Gaza Angehörige verloren. Mehr als eine Million Menschen sind zu Binnenvertriebenen geworden. Das Gebiet von Gaza ist so klein, dass Einschläge ständig für alle zu hören sind.
Als im Laufe jenes verhängnisvollen Tages und bis zum darauffolgenden Montag das ganze Ausmaß der Verbrechen nach und nach ans Licht kam, wuchs die Sorge unserer palästinensischen und israelischen Partner:innen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, dass Gazas Zivilbevölkerung für die Taten von Hamas und Islamischem Dschihad einen hohen Preis würde bezahlen müssen. Denn schon seit Jahrzehnten schrecken wesentliche Teile der politischen und militärischen Führung in Israel nicht davor zurück, das humanitäre Völkerrecht fortwährend zu brechen und die palästinensische Bevölkerung kollektiv zu bestrafen.
Gemeinsam mit unserer langjährigen israelischen Partnerorganisation Physicians for Human Rights und anderen internationalen Organisationen haben wir deshalb den folgenden Aufruf unterzeichnet, um daran zu erinnern, dass es sich hier auf beiden Seiten immer noch um Menschen handelt und dass diese von Krieg, Terror und Trauer betroffenen Menschen Rechte haben, die es in dieser Stunde zu verteidigen gilt.
[Die im Aufruf genannten Zahlen orientieren sich an denen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bekannten Daten und sind nicht mehr aktuell.]
Gesundheits- und humanitäre Organisationen melden sich zu Wort
Angesichts der sich zuspitzenden humanitären Krise und der beispiellosen Eskalation fordern die unterzeichnenden humanitären und Gesundheitsorganisationen einen sofortigen Waffenstillstand und den Zugang von Hilfsgütern in den Gazastreifen, sowie die sofortige Freilassung der zivilen Geiseln.
Israels derzeitiger Angriff auf den Gazastreifen hat bisher mehr als 4.600 tote Palästinenser:innen, darunter über 1.800 Kinder, und über 14.000 Verletzte gefordert. Der Hamas-Angriff auf den Süden Israels am 7. Oktober hatte über 1.300 tote Israelis, etwa 4.000 Verletzte und über 200 Geiseln zur Folge. Eine unbekannte Zahl von Frauen wurde vergewaltigt und sexuell missbraucht. Seitdem hat die Hamas wahllos Raketen auf zivile Ziele in ganz Israel abgefeuert.
In den vergangenen 11 Tagen seiner Luftangriffe auf den Gazastreifen hat Israel medizinisches Personal im Dienst getötet und verletzt, 29 Gesundheitseinrichtungen beschädigt und die Evakuierung von 17 Krankenhäusern mit ihrem Personal und ihren Patient:innen gefordert.
Zu den jüngsten Evakuierungsbefehlen, die mit der Androhung von Bombardierungen einhergingen, gehörte das Al-Quds-Krankenhaus, das über 5 Operationssäle sowie Stationen für die Neugeborenenversorgung verfügt und derzeit 400 Patient:innen betreut. Physicians for Human Rights – Israel hat eine juristische Petition eingereicht, um diese Verletzung des humanitären Völkerrechts zu verhindern, und die israelischen Behörden haben daraufhin geantwortet, dass vorerst keine Angriffe stattfinden werden.
Der Angriff hat zu einer beispiellosen Krise im Gesundheitssystem des Gazastreifens geführt, das quasi vor dem totalen Zusammenbruch steht. Das medizinische Personal arbeitet unter extremen Bedingungen und hat nur begrenzten Zugang zu lebenswichtigen Gütern und Wasser, wodurch das Leben von Tausenden von Patient:innen und Verletzten gefährdet ist. Das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) geht davon aus, dass den Krankenhäusern im Gazastreifen inzwischen der Treibstoff für den Betrieb der Notstromgeneratoren ausgegangen ist, wodurch das Leben Tausender Patient:innen unmittelbar gefährdet ist. Die menschliche Tragödie im Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza, die weiter untersucht werden muss, hat die schreckliche humanitäre Krise noch verschlimmert, da andere Krankenhäuser in Gaza nicht in der Lage sind, die vielen Verwundeten zu versorgen.
Die gewaltsame Vertreibung von mehr als 1,1 Millionen Palästinenser:innen aus dem nördlichen Gazastreifen durch Israel wird die humanitäre Krise weiter verschärfen. Darüber hinaus verstößt es gegen das humanitäre Völkerrecht, wenn die Zivilbevölkerung aufgefordert wird umzusiedeln, ohne jeglichen Schutz, ohne angemessene Versorgung und ohne die Garantie, in ihre Häuser zurückkehren zu können.
Wir weisen darauf hin, dass die derzeitige humanitäre Krise im Gazastreifen vor dem Hintergrund einer seit 16 Jahren andauernden Blockade mit anhaltenden negativen Folgen für die Gesundheitsinfrastruktur zu sehen ist, und dass die Öffnung des Grenzübergangs Rafah zwar notwendig ist, angesichts des Ernstes der humanitären Lage aber nur geringe Auswirkungen haben wird.
Aus unserer Sicht als humanitäre und Gesundheitsorganisationen, die die Auswirkungen der Verwüstung aus erster Hand kennen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass die internationale Gemeinschaft eingreift, um den vollständigen Schutz der Zivilbevölkerung in Israel und Gaza zu gewährleisten und auf einen sofortigen Waffenstillstand zu drängen. Wir bitten die internationale Gemeinschaft außerdem um Folgendes:
- Die Freilassung der von der Hamas festgehaltenen israelischen und ausländischen Geiseln sicherzustellen.
- Den sofortigen und raschen Zugang zu lebenswichtigen humanitären Gütern, einschließlich Strom, Wasser, Treibstoff und medizinischer Versorgung zu gewährleisten, auch durch die Einrichtung eines humanitären Korridors durch alle Beteiligten.
- Israel soll, solange Evakuierungsbefehle nicht sicher ausgeführt werden können, keine Evakuierungsbefehle für Krankenhäuser ausstellen.
- Gewährleistung des Schutzes für medizinische Teams und Gesundheitseinrichtungen.
- Sofortige Erleichterung medizinischer Evakuierungen von Verletzten und Patient:innen nach Ägypten, ins Westjordanland oder nach Israel.
- Aufforderung an alle Konfliktparteien, das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte zu achten.
Unterzeichner:
Harvard Humanitarian Initiative
Insecurity Insight
International Child Health Group
Maternal and Childhealth Advocacy International
Medical Human Rights Network IFHHRO
MEDACT
Medici per i Diritti Umani – MEDU (Physicians for Human Rights Italy)
Medglobal
medico international
Physicians for Human Rights Israel
The International Society of Social Pediatrics and Child Health