Von Christian Sälzer
„Willkommen im Herzen der zweitgrößten palästinensischen Stadt“, ruft Yehuda Shaul, während der Bus im Zentrum Hebrons einfährt. Er weiß um die Irritation, die sich aus dem Kontrast seiner Worte und der Wirklichkeit ergibt. Denn hier, inmitten einer 200.000-Einwohner-Stadt, nur wenige Schritte entfernt von dem für Juden wie Moslems gleichermaßen heiligen Grab des Stammvaters Abraham oder Ibrahim, herrscht eine gespenstische Stille. Der Platz ist menschenleer, lediglich an den Zugängen steht ein Dutzend schwer bewaffnete israelische Soldaten, junge Kerle und Frauen, breitbeinige Pose, wachsame Augen. Eine unwirkliche, düstere Atmosphäre in praller Mittagshitze. „Willkommen in der Geisterstadt von Hebron“, sagt Yehuda Shaul, während er aus dem Bus steigt.
Mindestens einmal pro Woche bringt der 33-Jährige Menschen von Jerusalem nach Hebron, um sie genau damit zu konfrontieren: eine palästinensischen Großstadt, in deren Zentrum man keinen Palästinenser antrifft. Jede Woche nehmen Dutzende an diesen von der Organisation Breaking the Silence organisierten Touren teil, Ausländer, vor allem aber junge Israelis. Um sie geht es den Initiatoren besonders: Menschen, die vor ihrer Einberufung zur IDF stehen, sollen sehen, was Besatzung bedeutet und wie sie vonstattengeht. Jede der Touren ist ein Kampf gegen das Schweigen und für die Sichtbarmachung eines Alltages, der in der israelischen Gesellschaft weitgehend ausgeblendet bleibt. Nicht immer verlaufen die Touren reibungslos, mitunter wird der Bus vom israelischen Militär aufgehalten oder werden die Teilnehmer von militanten Siedlern angegriffen.
Für Shaul ist jede dieser Touren auch eine Reise in die eigene Vergangenheit. Anfang des Jahrtausends hat er hier, gerade einmal Anfang 20, seinen Militärdienst absolviert. Ausgerechnet im Pulverfass Hebron, der für Juden so heiligen Stadt mitten im Westjordanland, ausgerechnet während der zweiten Intifada. Doch als Spross einer streng religiösen Familie sah er den Dienst als Pflicht an, nötig und legitim. Also hat er Befehle ausgeführt und erteilt. Tagsüber verfügte er Straßensperren, nachts durchsuchte er willkürlich ausgewählte Wohnungen palästinensischer Familien. Nach Lust und Laune ließ auch er Verhaftungen vornehmen und Geschäfte schließen. Wurden aus palästinensischen Wohnvierteln Schüsse abgefeuert, feuerte er zurück – mit Granaten in dicht besiedelte Wohngebiete. „Am ersten Tag betete ich noch, dass ich niemanden treffe. Am zweiten Tag hatte ich weniger Skrupel, am dritten war es Routine“, erzählt er rückblickend.
Doch nach seinem Dienst begann Shaul, vieles infrage zu stellen. Nicht das Sicherheitsbedürfnis Israels, sehr wohl aber die Besatzungspolitik . Die Erfahrungen in Hebron hatten sein Weltbild zerrüttet. Und er stellte fest, dass es ehemaligen Kameraden ähnlich erging. Sie schlossen sich zusammen und gründeten die Organisation Breaking the Silence. Seitdem führen die Aktivisten, allesamt ehemalige Soldaten, Interviews mit Angehörigen der israelischen Armee über deren Erfahrungen in den besetzten Gebieten und veröffentlichen diese. Zuletzt haben sie ein Buch mit Zeugnissen von der Militäroperation gegen den Gazastreifen im Sommer 2014 herausgegeben, die belegen, wie brutal der Einsatz geführt wurde. In Israel schlug die Veröffentlichung hohe Wellen, Shaul war Stammgast in Talkshows und Radiosendungen.
Ausgangspunkt der Siedlerbewegung
Heute nimmt er in einem Teehaus Platz und erzählt, wie Hebron zu dem wurde, was es ist: eine geteilte Stadt, die einzige palästinensische Stadt mit jüdischen Siedlungen in ihrem Zentrum, einer der Brennpunkte des Nahostkonflikts, voller Hass und Verzweiflung. Das sei nicht immer so gewesen, über Jahrhunderte hätten Juden und Moslems hier weitgehend friedlich zusammengelebt. Im 20. Jahrhundert aber eskalierte die Situation, es kam zu Übergriffen und 1929 zu einem Massaker seitens der arabischen Bevölkerung, schließlich zur Evakuierung der jüdischen Einwohner durch die Briten.
Doch mit der Besetzung des Westjordanlands im Sechstagekrieg 1967 durch die israelische Armee eröffnete sich den nationalreligiösen Eiferern die Gelegenheit, die Rückgewinnung der „heiligen Stadt Abrahams“ und ehemals jüdischen Besitzes in Angriff zu nehmen. So kam es, dass die Siedlerbewegung 1968 hier zunächst in Form von provisorischen Besetzungen ihren Anfang nahm. In den frühen 1980er Jahren kam es zur Gründung von vier jüdischen Siedlungen in der Altstadt – inmitten einer palästinensischen Großstadt. Eine einzigartige Konfliktkonstellation, aus palästinensischer Sicht eine ungeheuerliche Provokation. Doch statt die Siedlungen räumen zu lassen, ließ die israelische Regierung sie durch immer mehr Soldaten schützen und erkannte sie schließlich offiziell an.
Infrage gestellt wurden die israelischen Ansprüche an Hebron durch das Oslo-Abkommen, mit dem alle Städte in den besetzten Gebieten der palästinensischen Autonomiebehörde unterstellt wurden. Doch für Hebron, in dem die Lage nach dem Goldstein-Attentat, dem Dutzende von Moslems zum Opfer fielen, weiter eskalierte, wurde ein Sonderstatus beschlossen. Das Hebron-Protokoll von 1997 verfügte, dass die Stadt in zwei Zonen geteilt wird: 80 Prozent des Stadtgebietes – die H1-Zone – werden seitdem palästinensisch verwaltet, der Rest – H2 – untersteht israelischer Kontrolle.
H2 umfasst die gesamte Altstadt mitsamt dem Grab des Patriarchen und die jüdischen Siedlungen. Israel sicherte seine Präsenz und vergrößerte seine Kontrolle. Fortan lebten 500 Siedler unter israelischer Kontrolle auf engstem Raum mit 35.000 Palästinensern – umgeben von weiteren 160.000 Palästinensern. Wie das auf Dauer gut gehen sollte? „Das konnte nicht gut gehen“, sagt Shaul und nippt an seinem Tee. „Die Besatzungspolitik zielt darauf, die Machtverhältnisse in H2 umzukehren. Machen wir uns auf den Weg.“
Straße für Straße, Haus für Haus
Der Rundgang durch die Altstadt führt entlang der Al-Shuhada Straße, noch vor 16 Jahren eine belebte Einkaufsstraße, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum des arabischen Hebrons. Heute ist es eine tote Straße. Nahezu alle Häuser stehen leer, die Markthallen verrotten. „Israel konnte nicht die ganze Innenstadt räumen lassen“, sagt Shaul. „Aber man konnte das Leben der palästinensischen Bewohner in eine Hölle verwandeln, so dass sie von sich aus gehen.“ Shaul zeigt verschweißte Eingangstüren und mit Betonplatten versperrte Durchgänge.
Mit Ausbruch der zweiten Intifada wurde H2 mit einem dichten Netz aus Sperrgebieten und Verbotszonen durchzogen, das jedes geregelte Leben und Wirtschaften unterbindet: Auf manchen Straßen dürfen Palästinenser nicht Auto fahren, an anderen keine Geschäfte betreiben, die wichtigsten dürfen sie nicht einmal betreten. Doch das ist nur ein Teil der Strategie. Der andere: „Es ist Aufgabe der Soldaten, die Palästinenser die Besatzung spüren zu lassen, immer und überall“, so Shaul.
Monatelange Ausgangssperren, fortwährende Personenkontrollen, Razzien, Verhaftungen – Tag für Tag und Nacht für Nacht läuft ein Programm, das jegliches Gefühl von Sicherheit oder Berechenbarkeit zerstört. Die Folgen: Drei von vier arabischen Geschäften wurden aufgegeben, eine Familie nach der anderen verließ ihr Eigentum. Von den ehemals 35.000 Palästinensern in H2 sind nur noch wenige Tausend geblieben, im Zentrum fast niemand.
Wer es noch nicht geschafft hat, hier wegzukommen, lebt in einer Falle. Shaul zeigt auf eine Wohnung im ersten Stock, vor deren Fenstern Eisengitter angebracht sind. „Noch bewohnte Zimmer erkennt man daran, dass die Gitter in Schuss gehalten werden.“ Denn die eigentliche Drecksarbeit machen die militanten Siedler, die selbsternannte „Speerspitze der Nation“. Sie stellen den verbliebenen Palästinensern nach, attackieren sie und werfen die Fenster mit Steinen ein – all das unter den Augen der Soldaten. „Diese dürften nicht einmal eingreifen. Sie sind nicht die Polizei, sondern Teil der Streitkräfte, deren Auftrag es ist, die Siedler zu schützen.“
Auf arabischen Türen sind hebräische Graffitis zu lesen. „Rache.“ Und: „Tod allen Arabern.“ Straße um Straße und Haus um Haus ist so das arabische Leben aus H2 gewichen. Und Zentimeter für Zentimeter dehnen die Siedler ihr Territorium aus. In einer Seitengasse zeigt Shaul auf ein ehemaliges Geschäft, nicht größer als eine Garage. „Darin leben seit kurzem Siedler, noch tun sie es heimlich. Aber das wird sich ändern. Sie haben es nicht eilig.“ Kurz darauf kommt ein Siedler heraus. Er beschimpft Shaul, wünscht auch ihm den Tod, siegesgewiss und aufreizend.
Von dem eigentlichen Stadtzentrum aus führt die Al-Shuhada-Straße leicht ansteigend in Richtung H1. Rechterhand befinden sich drei der vier jüdischen Siedlungen. Alle sind an für Juden bedeutsamen Orten gegründet worden. Mit Millionenbeträgen, darunter staatliche Mittel, sind aus Provisorien im Lauf von drei Jahrzehnten festungsartige Anlagen geworden. Hinter Kontrolltürmen und Betonwänden erheben sich wuchtige Neubauten im typischen Jerusalemstein. Die Siedlung Beit Hadassah birgt auch ein Museum zur jüdischen Geschichte in Hebron, Beit Romano beherbergt neben einer Kaserne der IDF eine Jeschiwa mit 300 Thora-Studenten. Keimzellen auf dem Weg zu einem jüdischen Hebron.
Landnahme oder Unterwerfung
Aus einer Seitentür tritt ein jugendlicher Siedler, eine Maschinenpistole über die Schulter geschnallt. „Jeder geistig gesunde Siedler darf eine Waffe tragen und bekommt sie auf Wunsch vom Staat Israel gestellt“, erzählt Shaul. Ein Detail, eines von vielen. „Ohne die Unterstützung durch den Staat Israel gäbe es die Siedlungsbewegung nicht.“ Die große Mehrheit der Siedler Hebrons stünde auf den Gehaltszetteln Israels, sei es als „Siedlungsvorsteher“ oder „Sicherheitsbeauftragter“, sei es als Angestellter einer Behörde in Jerusalem. „Wollte man die Siedlungen stoppen, müsste man sie nicht einmal räumen. Man müsste nur ihre Alimentierung beenden. Doch das hat keine der israelischen Regierungen der letzten Jahrzehnte, gleich welcher Couleur, getan.“
Worum geht es bei all dem: Um Landgewinn? Shaul schüttelt den Kopf. Darum gehe es den Siedlern. „Das Ziel der Besatzung liegt vor allem darin, absolute Kontrolle auszuüben. Den Palästinensern soll das Gefühl totaler Ohnmacht eingebläut werden. Selbst wenn sie schon im Dreck liegen, sollen sie noch unseren Stiefel im Nacken spüren.“
Zurück am Erzvätergrab. Hier wurde am 12. Februar ein 17-jähriges Mädchen erschossen, nachdem sie einen Soldaten mit einem Messer angegriffen hatte. Während die Gewalt seit Som- mer 2015 überall im Land dramatisch zugenommen hat, ist sie in Hebron explodiert. Messerattacken auf der einen Seite, Schüsse auf der anderen. Rund 180 Palästinenser und 30 Israelis sollen binnen eines halben Jahres ums Leben gekommen sein. Einige Monate lang untersagte die IDF Breaking the Silence die Touren nach Hebron. Die offizielle Begründung: Die Armee sei nicht in der Lage, die Teilnehmer vor den Siedlern zu schützen.
„Hebron ist ein Augenöffner“, sagt Shaul. Die Situation hier sei zwar besonders verdichtet, doch sei Hebron keine Ausnahme. „Das System der Entrechtung und Diskriminierung, der Landnahme und Vertreibung, der Gewalt und der Unterwerfung – alles, was man hier sieht, wird überall in den besetzten Gebieten angewendet. Hebron ist das Labor der Besatzung.“
medico unterstützt Breaking the Silence dabei, die eigene Gesellschaft auf diese Verhältnisse aufmerksam zu machen – eine Vorbedingung für die Fähigkeit der Zivilgesellschaft, die bestehenden Ungerechtigkeiten zu überwinden.
Spendenstichwort: Israel/Palästina
Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2016. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen internal-link internal link in current>Jetzt abonnieren!
Fotostrecke
Siehe auch die komplette Fotostrecke unter www.medico.de/hebron. Hier findet sich auch die Audiodatei „Wie Hebron zur Geisterstadt wurde“, in der Yehuda Shaul die Entwicklung der Stadt nachzeichnet (auf Englisch, 32 Minuten).