Paradoxe Hoffnung im Flüchtlingslager Jenin

Auf einer Bühne im palästinensischen Flüchtlingslager Jenin nehmen Jugendliche eine Auszeit von ihrem tristen und gewalttätigen Alltag

01.08.2011   Lesezeit: 4 min

Medico unterstützt ein einzigartiges Kulturexperiment: Das Freedom Theater im Flüchtlingslager Jenin. Hier, im Norden der durch Israel besetzten Westbank ist der Lebensrhythmus der Menschen durch die langjährige gewalttätige Auseinandersetzung mit der Militärbesatzung gekennzeichnet. So entstand eine Kultur der Gewalt, die auch die Beziehungen der Palästinenser untereinander prägt. Eine Realität, die wiederum reaktionäres Denken, etwa in Bezug auf das Geschlechterverhältnis, und patriarchale Machtstrukturen reüssieren lässt.

Früher die "Gartenstadt Palästinas", umschließt Jenin heute eines der größten palästinensischen Flüchtlingslager mit mehr als 5.000 Kindern und Jugendlichen. Diese wachsen in einer scheinbar endlosen Schleife von Gewalt und Aggression auf. Sie kennen keine Kindheit, in der sie sorglos spielen, experimentieren, einen Sinn im eigenen Leben und in dem ihrer Umgebung entdecken können.

Lebenselixier gegen die Gewalt

Das Freiheitstheater will mit Mitteln der Kunst soziale und politische Veränderung erreichen. Den Bewohnern des Flüchtlingslagers werden unterschiedliche Möglichkeiten eröffnet, eigene Fähigkeiten zu entfalten und das Selbstvertrauen aufzubauen, das sie brauchen, um ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen wird ein geschützter Raum geschaffen, in dem sich Phantasien entwickeln und andere Realitäten vorgestellt werden können. Man will Bedingungen herstellen, in denen sich Jungen und Mädchen in gleicher Weise und ohne Scheu einbringen, ausprobieren und Fähigkeiten entwickeln können, den kulturell, sozial und politisch gegebenen Barrieren selbstbewusst zu begegnen, um sie zu verändern.

Das Freedom Theatre ist gleichzeitig ein Ort des Austausches mit der ganzen Gemeinde. Kinder und Jugendliche zeigen selbst produzierte Filme und Aufführungen. Das neuste Projekt ist das "Playback Theatre". Unter Leitung von besonders geförderten jungen Schauspielschülern – die Schauspielschule des Freedom Theatre, 2008 gegründet, ist die erste palästinensische Schauspielschule überhaupt - nimmt die ganze Gemeinde an einem interaktiven Theatererlebnis teil: Das Publikum erzählt eigene Geschichten, die dann von Schauspielern und Musikern improvisatorisch inszeniert werden. Eine kraftvolle Art, gemeinsamen Kampf und Widerstandskraft zur Sprache zu bringen. Neben dem Theater als Veranstaltungszentrum gibt es verschiedene Theater-, Zirkus-, Musik und Tanzgruppen.

Eine bewegte Geschichte

Begonnen hat alles 1988 mit zwei Kinderhäusern, die Arna Mer Khamis, die Mutter von Juliano Mer Khamis, aufgebaut hatte, um den Kindern von Jenin einen Zugang zu elementarer Bildung zu eröffnen. Es war nicht leicht für diese ungewöhnliche Frau, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, denn bis dahin hatten jüdische Israelis das Lager nur als Soldaten betreten. Der alternative Nobelpreis, den die überzeugte Kommunistin dafür 1993 in Stockholm erhielt, ermöglichte ihr, den Aufbau des ersten Freedom Theatre zu finanzieren. Arna starb 1994, und das Haus, in dem sich das Theater befand, wurde während der Zweiten Intifada 2002 von der israelischen Armee völlig zerstört.

In den Fußstapfen seiner Mutter kam Juliano Mer Khamis nach Jenin. Als Heranwachsender wollte er noch ein richtiger Israeli werden. Sprich: ein Jude. Beide Elternteile waren zwar israelische Staatsbürger, doch sein Vater war Angehöriger der palästinensischen Minderheit. Juliano wurde Elitesoldat, doch die Identität, die er sich konstruiert hatte, brach in sich zusammen, als er zusammen mit Kameraden einen alten Palästinenser zusammenschlagen sollte. Solche inneren Widersprüche waren es, die ihn zu einer kraftvollen und faszinierenden Figur des israelischen Theaters und Kinos machten. Juliano begleitete seine Mutter immer wieder mit der Kamera nach Jenin. Während der Zweiten Intifada erkannte er einige der Kinder von damals in den Nachrichten wieder. Er machte den Film "Arnas Kinder". Ein bewegendes Portrait seiner Mutter und ihres Lebenswerks. Zugleich dokumentiert er Leben und Tod einiger Jugendlicher, die in Arnas Theater mitgewirkt hatten. Aus den lachenden Heranwachsenden waren hartgesottene Kämpfer geworden, die auch vor Attentaten auf Zivilisten nicht zurückschreckten.

Im Jahre 2005 konnte Juliano Mer Khamis das Theater neu eröffnen. Im Licht der Theaterscheinwerfer wurde ein Zweifrontenkampf geführt: gegen die Besatzung, die Jenins Bewohner zu Gefangenen macht; und gegen die infolge von Isolation und Besatzung erstarkenden Denk- und Erklärungsmuster reaktionärer Provenienz. Diese doppelte Auseinandersetzung kulminierte in der skandalumwitterten Inszenierung von George Orwells Parabel "Farm der Tiere", in der junge Palästinenser durch Besatzung (die Menschen) und eigene Obrigkeit (die Schweine) um ihre Lebenschancen gebracht werden. Von Anfang an musste sich das Theater mit den üblichen Schikanen der israelischen Soldaten herumschlagen. Doch in den letzten Jahren ist es dazu ins Visier palästinensischer Gegner geraten. Nachdem mehrere Brandanschläge auf das Theater verübt wurden, wurde Juliano Mer Khamis am 4. April 2011 ermordet, mit mehreren Schüssen aus nächster Nähe regelrecht exekutiert.

Kann das Freiheitstheater diesen Mord überleben? Abgesehen von der Unmöglichkeit, den Mentor, das Gravitationszentrum dieser Institution zu ersetzen, hängt ein Damoklesschwert über Jenin: Der Mord offenbart, wie explosiv die Situation, wie selbstzerstörerisch der Strudel der Gewalt geworden ist. Es ist keine gute Zeit für Grenzgänger. Doch Julianos Weggefährten wollen das Wagnis weiter eingehen. Der Mord soll nicht der Schlussakt des Freiheitstheaters gewesen sein. Medico wird sie dabei begleiten.

Projektstichwort

Das Freiheitstheater steht für eine grenzüberschreitende Solidarität im Zeichen der Besatzung. Seine Macher hoffen auf die Ausstrahlungskraft des Theaters. Die Bühne am Rande der Welt ist ein kleines Wunder und ein therapeutisches Antidot für Mitmachende und Zuschauer zugleich.

Unterstützen Sie die Arbeit des Freiheitstheaters in Jenin. Das Stichwort lautet: "Israel/Palästina".


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