Vortrag von Thomas Seibert bei dem Menschenrechts-Seminar "Recht der Schwächeren"
Sri Lanka ist für seine Strände, seine Ayurveda-Kultur und seinen Tee bekannt – wobei letzterer noch immer unter dem Namen gehandelt wird, mit dem erst die portugiesische, später die britische Kolonialmacht die Insel benannt hatten: Ceylon. In den Jahren 2008/2009 war Sri Lanka Schauplatz eines der größten Kriegsverbrechen der letzten Jahre.
Nach UN-Schätzungen starben dort binnen weniger Monate mindestens 40.000 Menschen, eingekesselt auf einem Küstenstreifen von etwa 10 Quadratkilometern, beschossen von Land, von der See und aus der Luft. Die folgende Einführung in die Zeit vor und nach dem Massaker von Mullivaikkal erfolgt in drei Schritten. Im ersten wird erinnert, worum es im insgesamt 30 Jahre währenden Krieg überhaupt ging, wer dort die Schwächeren waren und sind und welche Rolle dabei der UN und mit ihr der sog. „internationalen Gemeinschaft“ zukam – und weiter zukommt. Im zweiten Schritt wird die Rolle untersucht, die Sri Lanka seit Mullivaikkal im UN-Menschenrechtsrat spielt. Im dritten wird die internationale Auseinandersetzung um den Krieg auf Sri Lanka mit den Forderungen derer abgeglichen, die seine Verlierer waren und seither um ihr „Recht der Schwächeren“ kämpfen.
Sri Lankas Killing Fields
Sri Lanka ist ein multiethnischer und multireligiöser Staat unter der Dominanz der stärksten ethnisch-religiösen Gruppe, der zumeist buddhistischen Singhales_innen. Die größte Minderheit sind die zumeist hinduistischen Tamil_innen im Norden und Osten der Insel, aus deren Reihen seit den 1980er Jahren, d.h. über 30 Jahre lang, ein bewaffneter Kampf um politische Unabhängigkeit geführt wurde. Man geht davon aus, dass dieser Krieg weit über 100.000 Menschenleben gekostet hat. Will man die Gewaltverhältnisse Sri Lankas verstehen, dürfen die zwei Aufstände nicht vergessen werden, die den singhalesischen Süden im Jahr 1971 und zwischen 1987-1989 heimsuchten; allein dem zweiten der beiden Aufstände sollen bis zu 60.000 Menschen zum Opfer gefallen sein.
Der tamilische Unabhängigkeitskampf begann im Grunde bereits kurz nach der Unabhängigkeit Sri Lankas und wurde seit den 1980er Jahren auch mit Waffengewalt geführt. Unter den verschiedenen, einander zum Teil bekämpfenden tamilischen Guerillaorganisationen fiel die führende Rolle bald den Liberation Tiger of Tamil Eelam (LTTE) zu – einer außerordentlich effizienten, darin aber außerordentlich grausamen Streitkraft, die sich zahlreicher Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen schuldig gemacht hat.
2002 kam es zu einem international überwachten und durch fortlaufende Friedensverhandlungen begleiteten Waffenstillstand, der der LTTE bzw. den Tamil_innen in den folgenden Jahren zu einem Quasi-Staat verhalf. Der Waffenstillstand wurde von Anfang an von beiden Seiten systematisch verletzt.
Im Dezember 2004 wurde auch Sri Lanka vom Tsunami verwüstet. Kurz darauf kam zu Verhandlungen über eine angemessene Verteilung der internationalen Hilfsmittel, in denen schließlich ein Abkommen zur Einrichtung einer sog. Post-Tsunami Operation Management Structure (P_TOMS) unterzeichnet wurde. Nach diesem Abkommen hätten sich die Regierung in Colombo und die LTTE wenigstens 3 Milliarden US-Dollar Hilfsgelder mehr oder minder gleich teilen sollen: eine Regierungskrise in Colombo und ein Urteil des höchsten Gerichts brachten das Abkommen zu Fall. Für die LTTE war dies kein beliebiges Vorkommnis: noch nicht einmal nach einem Tsunami, so erklärte ihre Führung, sei die singhalesische Dominanzgesellschaft zum Teilen bzw. überhaupt zur Anteilnahme bereit.
Wenn die seit 2002 fortlaufenden Friedensverhandlungen spätestens zu dieser Zeit zum Erliegen kamen, lag dies an dem Umstand, dass die Tamil Tiger in der Welt nach dem 11. September zum Objekt des „Global War on Terror“ geworden waren. Gefolgt von zuletzt 31 Staaten setzten zunächst die USA die LTTE auf ihre „Liste terroristischer Organisationen“. Als im Juni 2006 die EU den USA folgten, warnten Brot für die Welt und medico in einer gemeinsamen Erklärung, dass eine derart einseitige Parteinahme der srilankischen Regierung freie Hand gewähren würde: eine Einschätzung, die wenig später nicht bloß bestätigt, sondern drastisch übertroffen wurde. Auf Anti-Terror-Kurs gingen damals allerdings auch zivile Mitglieder der sog. „internationalen Gemeinschaft“: so unterstützte auch Human Rights Watch die Aufnahme der LTTE auf die Terrorlisten.
Mit der Wahl Mahinda Rajapaksas zum Präsidenten eskalierte die Situation, im Januar 2008 – die internationalen Verhandlungen waren abgebrochen – kündigte der Präsident den Waffenstillstand offiziell auf. Was jetzt folgte, war ein Vernichtungskrieg, der maßgeblich auf einer systematischen Nichtunterscheidung zwischen Kämpfer_innen und Zivilist_innen beruhte und in dem eingangs geschilderten Massaker von Mullivaikkal endete. Am 19. Mai 2009 erklärte Präsident Rajapaksa den Krieg für beendet, 300.000 Überlebende wurden aus dem Kessel in einen „Manik Farm“ benannten Komplex von Konzentrationslagern verschleppt, in dem sie 2 Jahre interniert wurden: schattenlos unter der Sonne in zerschlissenen Zelten, unausgesetzt der Gewalt ihrer singhalesischen Bewacher_innen ausgeliefert.
Die internationale Gemeinschaft und voran die UN sowohl vor Ort wie in ihrer Leitung waren jederzeit über das unterrichtet, was sich 2008/2009 auf Sri Lanka abgespielt hat – belegt ist das nicht zuletzt durch eine Serie von wikileaks, mit denen u.a. die Kommunikation seitens der US-Botschaft öffentlich wurde. Trotzdem hat die UN nicht einmal den Sicherheitsrat einberufen, trotzdem hat kein UN-Staat eine markante diplomatische Initiative ergriffen, im Gegenteil: obwohl bekannt war, was geschah, wurde geschwiegen – wurden die realistisch eingeschätzten Opferzahlen geheim gehalten. Der Kürze halber auf den Punkt gebracht: die internationale Gemeinschaft war ausschließlich an der Liquidation der Tamil Tiger und an einer strategisch möglicherweise epochemachenden Erfahrung im „Global War on Terror“ interessiert. Besonders einschneidend unmittelbar im Übergang zum systematischen Vernichtungskrieg war im September 2008 der Rückzug des UN-Personals aus dem Kriegsgebiet: danach gab es für das singhalesische Militär kein Halten mehr. Die UN hat diesen „Fehler“ in einer allerdings außerordentlich dürren Stellungnahme einbekannt – die ihr zugrunde liegende Untersuchung allerdings nie offen gelegt.
Die tamilisch besiedelten Gebiete Sri Lankas sind heute flächendeckend militärisch besetzt, auf je fünf Tamil_innen kommt ein bewaffneter singhalesischer Bewacher – es liegt auf der Hand, was dies alltäglich bedeutet. Verhandelt wurde und wird diese Situation und ihre Vorgeschichte primär unter dem Begriff „Sri Lanka Option“; zu den Ländern, die deren Adaption für eigene Probleme ernsthaft erwägen, gehören Kolumbien (Krieg gegen die FARC), Indien (Krieg gegen die Naxaliten) und die Türkei (Krieg gegen die PKK).
Das Recht der Schwächeren
Nachdem die srilankische Regierung den Sieg im Vernichtungskrieg zur flächendeckenden Unterwerfung und Kolonisierung der tamilisch besiedelten Gebiete nutzte – einschließlich systematischen Landraubs durch das Militär und der Ansiedlung von Singhales_innen in bevorzugten Regionen – , eskalierte die Menschenrechtssituation auch im singhalesischen Süden: Behinderung, zum Teil Ausschaltung der unabhängigen Justiz, systematische Angriffe auf Medienarbeiter_innen und Oppositionelle, vor allem im letzten Jahr zunehmend gewaltsame Überfälle buddhistischen Mobs auch auf die muslimische und die christliche Minderheit im Land. Damit änderte auch die internationale Gemeinschaft ihren Kurs – wiederum voran die USA und zivilgesellschaftlicherseits Human Rights Watch.
Lehnte der UN-Menschenrechtsrat 2009 einer Einlassung der srilankischen Regierung folgend die Beschäftigung mit dem Massaker von Mullivaikkal ab, kam es im März 2012 während der 19. Sitzungsperiode zur ersten, von den USA eingebrachten und mit knapper Mehrheit verabschiedeten Resolution des UN-Menschenrechtsrats. Die Regierung in Colombo wurde aufgefordert, ihre eigene Untersuchung mutmaßlicher Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen ernsthaft zu Ende zu bringen und aus ihr die gebotenen Konsequenzen zu ziehen. Wir – damit meine ich die im Netzwerk Sri Lanka Advocacy zusammengeschlossenen Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen, entsprechende Organisationen aus der ganzen Welt und nicht zuletzt Menschenrechtsaktivist_innen aus Sri Lanka – haben alle Register der uns möglichen Lobby- und Advocacytätigkeiten gezogen, um das Zustandekommen dieser und der beiden folgenden Resolutionen zu befördern.
Die zweite Entschließung wurde im März 2013 während der 22. Sitzungsperiode, die dritte Resolution im März 2014 verabschiedet. Der Druck auf Colombo wurde erhöht, die Durchführung zunächst einer eigenständigen Untersuchung durch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte beschlossen und die letztendliche Einsetzung einer unabhängigen internationalen Untersuchungskommission angedroht. Unter den Unterzeichner_innen neben der USA und Staaten der EU vor allem Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Osteuropas, die selbst reichhaltige Erfahrungen mit autoritären Regimen gemacht und deshalb nicht einfach „pro-westlich“ gestimmt haben. Die dritte Resolution ermächtigt die Hochkommissarin zur Entsendung einer eigenen Kommission – ihr wurde im August allerdings erwartungsgemäß die Einreise verweigert.
Colombo hat im Juli 2014 Jahres überraschend drei internationale Experten beauftragt, die eigenen Untersuchungen zu begleiten. Die drei Experten sind zwar erfahren – haben in ihrer früheren Arbeit allerdings – so heißt es jedenfalls – eher milde Urteile über Kriegsverbrechen und ihre Täter_:innen gefällt.
Geht es Colombo darum, dem UN-Menschenrechtsrat einen Ausweg zu eröffnen? Soll Genf eine Brücke gebaut werden, um zum business as usual zurückzukehren – ohne allzu offensichtlichen Gesichtsverlust? Wie dem auch sei: Wir machen weiter, setzen unsere Lobby- und Advocacyarbeit fort – und sei es nur deshalb, weil vorzeitige Resignation ein Versagen vor dem Recht der Schwächeren wäre, das der UN-Menschenrechtsrat treuhänderisch zu vertreten versucht. Wir machen das in einer Bezug auf die „internationale Gemeinschaft“ pragmatisch naheliegender Weise: Unterstützen die in Sache und Wortlaut viel zu zurückhaltenden Resolutionen, fordern unsererseits die Einsetzung und Durchführung einer unabhängigen internationalen Untersuchungskommission – und halten uns ansonsten im Diskurs von Frieden und Versöhnung.
Einlassung der Subjekte des Rechts der Schwächeren
Trotz der offenen Militärherrschaft im tamilischen Norden und Osten und trotz der systematischen Menschenrechtsverletzungen im singhalesischen Süden: formell ist Sri Lanka noch immer eine parlamentarische Demokratie. Zu ihr gehören Provinzwahlen auch in den tamilischen Gebieten. Die letzten dieser Wahlen im September 2013 wurden zu einer echten Überraschung. Denn nach dem Krieg waren auch tamilische Aktivist_innen fest davon überzeugt, dass es zur Neuformierung eines tamilischen politischen Projekts mindestens einer, wenn nicht zweier Generationen bedürfe. Der Tamil National Alliance (TNA), einer von der LTTE unabhängigen Parteien-Koalition, wurde kaum zugetraut, zu einem relevanten politischen Faktor zu werden. Genau das aber geschah im September 2013: Bei einer überraschend hohen Wahlbeteiligung von deutlich über 70% errang die TNA deutlich über 70% der Stimmen, stellt seither eine de facto einflusslose, doch immerhin formell existierende Provinzregierung und ist numerisch zur stärksten oppositionellen Kraft in ganz Sri Lanka avanciert. Im Rahmen der TNA und mehr noch außerhalb ihrer hat sich zugleich ein kontinuierlicher sozialer Aktivismus entwickelt: in starkem Maß von Kriegsopferhinterbliebenen getragen, ein Aktivismus aber auch um Landfragen, ein Aktivismus schließlich, der vor allem an Tagen virulent wird, die zur Zeit der LTTE Feier- und Gedenktage waren.
Das von der Mehrheit der Tamil_innen zumindest per Stimmabgabe, teilweise aber auch selbsttätig getragene politische Projekt ist mittlerweile nicht nur für die Militärherrschaft vor Ort und die Regierung in Colombo, sondern auch für die menschenrechtsbasierte Lobby- und Advocacypolitik im UN-Apparat zur Herausforderung geworden. Denn sowohl die TNA als auch der soziale Aktivismus gehen deutlich über das hinaus, was in Genf überhaupt verhandelbar ist. Beginnt das politisch das mit der Forderung nach dem Abzug der Armee und der Rücknahme der singhalesischen Kolonisation, wird auf der Ebene des Diskurses ein Dimensionswechsel vollzogen, der auch das hinter sich lässt, was die meisten Menschenrechtsaktivist_innen und Oppositionelle singhalesischen Hintergrunds mitzutragen bereit sind.
So hat sich Ananthi Sasitharan, Mitglied der TNA-Provinzregierung und Abgeordnete mit der zweithöchsten Stimmenzahl, im März 2014 in Genf vor dem UN-Menschenrechtsrat nicht mit der Forderung nach einer internationalen Untersuchung von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen zufrieden gegeben, sondern von einem Genozid gesprochen und die UN zum Eingreifen aufgefordert. Am 18. August hat sie dafür die Unterstützung der Mehrheit aller TNA-Abgeordneten gefunden, die von der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte in einer namentlich gezeichneten Erklärung die Aufnahme der Untersuchung eines Genozids und die Untersuchung auch aller früheren anti-tamilischen Gewaltaktionen fordern. Zugleich wird die Hochkommissarin aufgefordert, diese Untersuchung im Fall eines fortgesetzten Einreiseverbots vom indischen Bundesstaat Tamil Nadu aus zu betreiben.
Wachsende Aufmerksamkeit findet darüber hinaus eine Debatte, in der das an Südafrika orientierte Modell von „Transitional Justice“ offensiv verworfen und ein „Post-Transitional Justice“ genanntes Modell befürwortet wird, das sich mit einer formellen Demokratisierung nicht zufrieden gibt und statt dessen auf einen primär nicht-staatlichen Prozess orientiert, der als solcher zugleich national und international organisiert werden soll, von einer Vielzahl unterschiedlicher Akteur_innen getragen und ohne Vorab-Verpflichtung auf eine Einigung zwischen Täter_innen und Opfern. Gut möglich also, dass dem Diskurs rund um den UN-Menschenrechtsrat bald nicht nur seitens der singhalesischen Täter_innen, sondern auch seitens der tamilischen Opfer die Legitimität abgesprochen wird. Gut möglich folglich, dass der Begriff „Sri Lanka Option“ eine ganz andere Bedeutung gewinnt.