Auf den Brettern des Freedom Theatre beharren sie mit ihrem Körpertheater auf einem selbstbestimmten und selbstgestalteten Dasein angesichts einer militärischen und administrativen Besatzung, deren sichtbare und unsichtbare Mauern, Zäune und Einhegungen aus den Bewohnern Jenins über Jahre hinweg Gefangene machten, die kaum Kontakt zur Aussenwelt hatten. Jetzt aber geraten die Mitarbeiter dieser einzigartigen Institution ganz real in die Fänge eines martialisch-kafkaesken Apparats.
In der Nacht auf den 6. Juni drangen ein halbes Dutzend israelische Soldaten, Gewehre im Anschlag, in das Haus von Nabil Al-Raee, dem künstlerischen Leiter des Theaters, und verschleppten ihn an einen unbekannten Ort. Zehn Tage vergingen ohne ein Lebenszeichen von ihm. Seine Anwältin, die bekannte israelische Menschenrechtsanwältin Smadar Ben-Natan, durfte ihn bis heute nicht besuchen, doch wurde ihr mitgeteilt, dass Al-Raee zwar nicht des Mordes verdächtigt, aber in Zusammenhang mit der Ermordung des Theatergründers Juliano Mer-Khamis festgehalten wird; dieser war im April 2011 aus nach wie vor ungeklärten Gründen in unmittelbarer Nähe des Theaters auf offener Strasse niedergeschossen worden.
Erfolglose Ermittlungen
Die Festsetzung Al-Raees ist nicht die erste. Etwa der Hälfte der Mitarbeiter des Theaters – Vorstandsmitgliedern, Schauspielschülern oder Technikern – ist in den letzten Monaten Ähnliches widerfahren. Das Theater begrüsst durchaus eine intensive Untersuchung des Verbrechens: Mer-Khamis war Mentor, künstlerisches Vorbild und Freund, und der ungelöste Mordfall stellt die Zukunft der Institution ständig infrage. Doch der Glaube an die Behörden ist mittlerweile weitgehend verloren gegangen. Seit 14 Monaten läuft die Untersuchung schon. Die palästinensische Autonomiebehörde, eigentlich für die Sicherheit in den Städten Cisjordaniens zuständig, gab kleinlaut zu, dass sie nicht einmal technisch in der Lage wäre, den Mord zu untersuchen. Sie übergab den Fall an die israelischen Behörden, die sich damit befassen, weil Mer-Khamis israelischer Staatsbürger war.
Dabei konzentrieren sie sich, so Ben-Natan, jedoch ausschliesslich auf die Mitarbeiter des Theaters. Festnahmen oder Vernehmungen von Personen, die nicht zum Theater gehören, gab es ihrem Wissensstand nach keine. Dabei gäbe es triftige Gründe, in andere Richtungen zu forschen. Das Theater kämpfte nicht nur gegen die Besatzung, sondern stellte sich auch immer wieder gegen diejenigen in der palästinensischen Gesellschaft, die ihr Heil in reaktionären, patriarchalen Denkmustern suchen. Das Theater wurde Opfer zweier Brandanschläge, und Mer-Khamis, Sohn eines Palästinensers und einer israelischen Jüdin, also qua Geburt und qua Berufung ein bei den reaktionären Kräften beider Nationen ungeliebter Grenzgänger, erhielt zahlreiche Morddrohungen von palästinensischen Gruppierungen, denen das bunte Treiben im Theater und vor allem dessen Kampf für innere Freiheit missfiel.
Da alle Mitarbeiter des Theaters wieder freigelassen wurden, kein konkreter Verdacht sich erhärtete, verstärkt sich der Eindruck, die Untersuchung diene vor allem der Einschüchterung der unbequemen Theaterleute.
Für die Schikanen gibt es einen weiteren, einfachen Grund. Die Behörden tun das, weil sie es dürfen. Wäre Mer-Khamis in seiner zweiten Heimatstadt, dem israelischen Haifa, ermordet worden, so müsste die Polizei die israelischen Gesetze beachten und die Zeugen und die vom Mordfall unmittelbar Betroffenen mit angemessenem Respekt behandeln. In Cisjordanien dagegen darf der Sicherheitsapparat Personen nächtens aus dem Bett verschleppen und sie auch ohne angemessenen Anfangsverdacht wochenlang isolieren und ohne Rechtsbeistand vernehmen. Eine zivile Kontrollinstanz ist nicht vorgesehen. Ben-Natan bleibt nur der Gang zum Obersten Gerichtshof Israels. Doch die oft als Garant der israelischen Demokratie gerühmte Institution bequemt sich kaum, sich für das Recht in den besetzten Gebieten einzusetzen. Kampf um eine Zukunft
Nach dem Mord an Juliano Mer-Khamis war es kaum sicher, ob das Freedom Theatre ein Jahr später noch existieren würde. Unter grossen Anstrengungen gelang es den Weggefährten Mer-Khamis', das Theater zu stabilisieren. Kinder und Jugendliche zeigen selbstproduzierte Filme und Aufführungen. Das neuste Projekt ist das «Playback Theatre». Unter der Leitung von besonders geförderten jungen Schauspielschülern – die Schauspielschule des Freedom Theatre, 2008 gegründet, ist die erste palästinensische Schauspielschule überhaupt – nimmt die ganze Gemeinde an einem interaktiven Theatererlebnis teil: Das Publikum erzählt eigene Geschichten, die dann von Schauspielern und Musikern improvisatorisch inszeniert werden.
Bei seinen Auftritten im Ausland, etwa an der Berliner Schaubühne, wurde das Ensemble gefeiert. Das Freedom Theatre ist aber vor allem ein geschützter Raum, in dem junge Menschen ihre im Alltag erlebten Erfahrungen von Gewalt und Ohnmacht aufarbeiten. Es bleibt nur zu hoffen, dass die israelischen Behörden diese einzigartige Institution nicht zu einer Zone der Unsicherheit machen.
Verfasst von Tsafrir Cohen, erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 22.06.2012
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