Von Katja Maurer
Zum letzten Mal war ich 2003 in Gaza. Der Übergang von Israel nach Gaza, Erez-Crossing, bestand aus einer schnell zusammen gezimmerten Wellblechbude, in der zwei junge israelische Soldatinnen saßen, die aussahen, als habe sie ein Pfadfinderausflug hierher verschlagen. Entsprechend locker waren sie drauf. Wir mussten auf einer schiefen Bank in brütender Hitze warten, bis wir dran kamen, und dann eineinhalb Kilometer durch Geröll, Sand, Staub und ein bisschen Grün laufen, bis wir zu einem Außenposten der palästinensischen Autoritäten gelangten. Die dortigen „Grenzschützer“ haben uns meiner Erinnerung nach nicht einmal kontrolliert.
Aus dem Provisorium ist eine professionelle Halle mit hohen Glaswänden, Sitzplätzen zum Warten und angenehmer Air Condition geworden. Eine Mischung aus Abflughalle und Tränenpalast. Letztere – die Grenzkontrolle der DDR an der Friedrichstraße – hatte auch ein hübsches Äußeres aus Glas. Wer wie wir eine Erlaubnis der israelischen Behörden besitzt, kommt durch und kann heute die anderthalb Kilometer auf gepflastertem und überdachtem Weg laufen oder auch gegen Bezahlung mit einem Fußgänger-Shuttle fahren wie am Flughafen. Nur ein gravierender Unterschied besteht: Man fliegt nicht in die schöne weite Welt, sondern begibt sich von der ersten in die allerletzte Klasse unserer Weltverhältnisse.
Auf palästinensischer Seite herrscht beim Außenposten der Autonomie-Behörden wie bei der Hamas-Kontrolle freundliche Stimmung inmitten von Staub, Armseligkeit und praller Sonne. Eine Kontrolleurin der Hamas untersucht meinen Rucksack. Wahrscheinlich auf Alkohol, der ist in Gaza offiziell verboten. Unser Kollege Mahmoud Abu Rahma vom Menschenrechtszentrum Al Mezan erwartet uns. Mahmoud, Mitte 40, Dreitagebart, mit einem Masterabschluss aus York in internationalen Menschenrechten, kommt uns mit offenen Armen entgegen. Der ruhige nachdenkliche Mann mit grünen Augen, die eine warme Freundlichkeit ausstrahlen, empfängt uns wie Freunde. Aufgewachsen ist er in einem Flüchtlingslager in Rafah, das so enge Gassen hat, dass man dem gegenüberliegenden Nachbarn durchs Fenster die Hand reichen kann.
Seine Eltern stammten aus Jaffa wie viele andere Bewohnerinnen und Bewohner Gazas. Der alte Hafen neben Tel Aviv ist heute eine der wichtigen Sehenswürdigkeiten für Touristen – historisch und historisiert. Die anderthalb Jahre Studium in York waren für ihn und seine vierköpfige Familie eine Auszeit von der Ohnmacht, wie sie im Gaza-Streifen herrscht. Die Rückkehr nach Gaza war aber offenbar keine Frage für ihn und seine Familie. Nun ist er wieder der Sprecher von Al Mezan und wir sind nicht die ersten, die er durch die im Sommer 2014 zerstörten Viertel führt.
Leben in Trümmern Schon bei der Einfahrt in die erste Ansiedlung erwarten uns Trümmerfelder. Der strategische Grund für die Zerstörung liegt auf der Hand: die Nähe zu Israel. Von Ferne sieht man auf israelischer Seite vier rauchende Schornsteine. Die ehemals fünfstöckigen Wohnblocks auf palästinensischer Seite sehen aus wie umgefallene Dominosteine. Das Szenario ist weniger gespenstisch als rätselhaft.
Zwischen dem weithin sichtbaren industrialisierten und grünen israelischen Territorium liegt eine Zone aus Wiese, Geröll und Feldern, in denen einige wenige Schafe grasen, dann beginnt gleich das dichtgedrängte, hochgeschossige Wohnen. Ein abrupter Übergang vom ländlichen Raum ins Städtische. Wer in dem Teil lebt, der zur Grenze schaut, hat Pech gehabt. Von hier aus fliegen die Raketen der Hamas und anderer palästinensischer Gruppierungen nach Israel und hier schlagen die High-Tech-Waffen der Israelis ein.
Auch Beit Hanoun grenzt direkt an Israel. Mahmoud stellt uns den 62-jährigen Bauern Abdullah Ouhdan vor. Mit seinem zerfurchten Gesicht sieht er wesentlich älter aus. Dieses Viertel oder das, was von ihm übrig ist, wirkt dörflich. Der Bauer lebte mit seiner großen Familie am Rand der Siedlung, seine Felder in Sichtweite. Aus den Häusern, in denen 58 Menschen lebten, sind Schuttberge geworden. Zwar waren die Bewohner vorgewarnt worden, trotzdem sind acht Familienmitglieder ums Leben gekommen. „Wir haben sie bislang nicht gefunden, nur ein paar Fleischstücke“, sagt Abdullah Ouhdan.
Inmitten der Verwüstung hat er mit der verbliebenen Familie einen Container als Unterkunft errichtet, um sie herum versuchen einige Bauarbeiter und ein Schaufelradbagger die Trümmer zu beseitigen. 200 Dollar erhält er für die Überreste. Ouhdan kennt die israelischen Soldaten. Seine Felder liegen unmittelbar vor einem der Kontrolltürme. Und man spricht, vielmehr ruft sich auch manchmal etwas zu. Gäbe es den Kontakt nicht, könnte er die Felder gar nicht mehr bearbeiten. Auch an die regelmäßigen Einsätze durch die israelische Armee hatte er sich gewöhnt. An der Grenze lebt man mit dem Konflikt. Dass die Bombardierungen beim letzten Mal aber über Stunden anhielten, damit hat er nicht gerechnet.
Während wir in den Trümmern stehen, bringt sein Enkel Kaffee für uns alle. Man raucht. Alle rauchen hier. Jugendliche mit leerem Blick kommen auf uns zu und verlangen unfreundlich nach Zigaretten. Zwischen dem Schutt spielen die Kinder, ihre Augen sind müde und alt. Viele haben merkwürdige Flecken im Gesicht, kein Schmutz, ein Ausschlag. Mahmoud meint, dass dieser vom Wasser kommt. Der Grundwasserspiegel im Gaza-Streifen sinkt seit Jahren kontinuierlich, weil zu viele Menschen in dieser am dichtesten besiedelten Region der Welt Wasser benötigen. Der Spiegel sinke aber auch, weil kein Frischwasser hinzukomme. Das würde von Hebron aus ins Grundwasserbecken fließen – würde es nicht von Israel abgefangen und in der großindustriell organisierten Landwirtschaft verbraucht, erklärt mir der Al-Mezan-Kollege. Stattdessen drücke ungeklärtes Abwasser mit Meerwasser vermischt in den Grundwasserspeicher an der Küste.
In einem Interview vom Sommer 2014 lese ich später eine Erklärung von Uta Filz vom UN-Hilfswerk für die palästinensischen Flüchtlinge: „Die gesamte Wasserinfrastruktur wurde im Krieg beschädigt, etwa 450.000 Menschen von der Gesamtbevölkerung von 1,8 Millionen haben keinen Zugang zum Wassernetzwerk, das ist ein Viertel der Bevölkerung. Wenn man Wasser hat, ist das Wasser nicht trinkbar. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass der Gazastreifen im Jahr 2020 nicht mehr bewohnbar sein wird, ganz einfach, weil es kein Wasser mehr gibt.“
Wir verabschieden uns von dem alten Herren in seiner Trümmerwüste und fahren zur Witwe unseres Kollegen Anwar Al Zaaneen. Er wurde am 10. August 2014 durch eine israelische Drohne getötet . Wir sind auf diese Begegnung nicht vorbereitet. Sein Tod hatte uns berührt. Er schien ein Zeichen dafür, dass längst nicht mehr nur Hamas-Mitglieder im Visier gezielter israelischer Angriffe stehen.
Am Haus hängt ein großes Bild von Anwar. Überall in Gaza sehen wir solche Bilder von toten Männern. Sie gelten als Märtyrer. Anwar sieht auf dem überlebensgroßen Plakat jung und gut aus. Trotz seiner 41 Jahre habe er sich seine Jugendlichkeit bewahrt, meint Mahmoud. Die Witwe, die ein Tuch eng um den Kopf geschnürt hat, und ihr ältester Sohn Amjad begrüßen uns. Mahmoud flüstert: „Solange Anwar noch lebte, war es hier so grün. Eine Oase. Im Herzen war er ein Bauer. Er hat sich und seine Familie selbst versorgt, sogar Tiere gab es hinter dem Haus.“ Jetzt ist alles ausgetrocknet. Mahmoud spricht mit einer warmen Zuneigung über seinen getöteten Kollegen und meist in Gegenwartsform. Wieder gibt es Kaffee. Anwars Frau sitzt würdevoll neben mir und zeigt nur zurückhaltend ihren Schmerz. Wir Frauen berühren uns im stillen Einverständnis. Dass wir da sind, ist ein Zeichen des Mitgefühls. Keine Situation für große Worte. Amjad sitzt still da und schweigt. Sein Blick ist unter sich gerichtet. Anwars Tod lastet schwer auf seinem Sohn. Nur bei der Frage, was er werden will, hebt er vorsichtig seinen Blick: Betriebswirtschaft und Englisch will er studieren.
Warum sein Vater zu Tode kam, diese Frage lässt sich nicht beantworten. So wenig wie die nach vielen anderen zivilen Opfern bei dem Militäreinsatz. Vielleicht, sagt Mahmoud, hätten die israelischen Schützen auf Nummer sicher gehen wollen. Ein Mann auf dem Motorrad könnte gefährlich sein. Dabei habe er nur mit den städtischen Angestellten gesprochen, die die Wasserleitung reparierten. Eine Leitung, die auch seine Pflanzen hätte versorgen sollen.
Zeichnungen des Horrors Majeda Al Saqqa, die Sprecherin unserer Partnerorganisation in Khan Younis, CFTA, der Assoziation für Kultur und freie Gedanken , beschreibt in ihrem Büro bei einer selbstgedrehten Zigarette und dem obligatorischen Kaffee, dass diese 50 Tage im Sommer 2014 von einer neuen schrecklichen Qualität gewesen seien. „Nach den beiden anderen Kriegen der letzten Jahre haben wir am nächsten Tag die Schäden repariert und weiter gearbeitet.“ Dieses Mal sei alles anders gewesen. Die kleine Frau mit grauer Kurzhaarfrisur und Kapuzenpullover macht eigentlich den Eindruck, als würde sie nichts einschüchtern können.
„Es war, als hätten sie unsere Körper geöffnet und uns einen großen schwarzen Klumpen eingepflanzt, den wir jetzt überall mit uns herumtragen.“ Das Zentrum ist ein besonderer Ort mit seiner geschwungenen Fassade und einer Architektur, die Licht und Freiheit verspricht. Kinder und Jugendliche kommen hierher und machen Kurse. Amal Khdeir, Mutter von fünf Kindern, leitet das Zentrum seit 23 Jahren. Unter ihrer schwungvollen Ägide haben Jugendliche sprechende Mülleimer entwickelt, die sich großer Beliebtheit erfreuen, weil die Schulen mit ihnen sauberer sind.
Aufgrund des Strommangels gab es viele Unfälle mit Kerzen, also entwickelte ein Kurs ein Solarlicht. Amal träumt davon, dass sich eines Tages das Zentrum komplett mit Solarstrom selbst versorgt. Eine Jugendgruppe arbeitet schon daran. Fraglich ist nur, ob die Einfuhr der benötigten Teile von Israel genehmigt wird. Das Gebäude wirkt wie eine Oase der Ideen, wie man sich nicht unterkriegen lässt.
In seinem Zentrum hängt eine Ausstellung über den letzten Gaza-Krieg. 14 Jugendliche, die hier einen Zeichenkurs besuchen, haben die Arbeiten angefertigt. Es sind drastische Portraits toter Kinder, leidender Eltern, zerfetzter Puppen in den Trümmern. Die Bilder tragen Titel, die eine einzige Anklage sind: „Eine Kindheit in einer ungerechten Blockade. Globales und arabisches tödliches Schweigen“ oder: „Meine Augen sprechen, auch wenn meine Tränen still sind“. Eines der Mädchen des Kurses, erzählt Majeda, sei nach dem Waffenstillstand gekommen und habe gesagt: „Ich war sicher, dass ihr auch zerstört worden seid.“ Bei diesem Krieg haben die Menschen gelernt, dass es keinen sicheren Ort für sie mehr gibt.
Politisch sei der Gaza-Streifen gespalten, erzählt Majeda. Aber auch die Hamas sei kein einheitlicher Block. Es gäbe kluge und gute Leute darin genauso wie schlechte und gefährliche. Majeda ist eine unabhängige Person. Ihr Appell, dass man mit Hamas reden müsse, ist kein Kniefall vor den diktatorisch agierenden Autoritäten. Politisch sei schwer über die Raketen zu sprechen, meint sie. Aus Sicht einer völlig ausgelaugten und verarmten Bevölkerung in Gaza sind sie ein Zeichen gegen die Ohnmacht nach sieben Jahren israelischer Blockade, die den Gaza-Streifen in ein riesiges hoffnungsloses Armenhaus verwandelt hat. Aber jetzt seien alle müde. Und wenn einzelne militärische Gruppen in der Nachbarschaft versuchten Raketen aufzustellen, würden Anwohner das verhindern.
Träume eines anderen Lebens Bei Mahmoud zu Hause in Gaza-Stadt. Wir sitzen mit seiner Familie am Tisch bei Fisch und Fleisch. Seine Frau Samaher lacht viel. Sie besucht gerade einen Englischkurs. Seine Kinder Sharaf, Haya und Rahaf haben schon Berufswünsche. Der älteste Sohn möchte Arzt werden und in England studieren. Mahmoud winkt ab. Dafür reiche das Geld niemals. Seine mittlere Tochter mit denselben runden Grübchen wie ihre Mutter, will Menschenrechtsanwältin werden. Während die Generatoren kontinuierlich surren, weil es erst ab sieben Uhr wieder Strom gibt, unterhalten wir uns über den Film Selma.
Mahmoud hat den Film über Martin Luther King kürzlich aus dem Internet heruntergeladen und mit seinen Kindern geschaut. Das wäre für Gaza eine politische Chance, wenn es wie in Selma Empörung und Solidarität einer liberalen Mittelschicht gäbe. Aber die Menschen in Gaza verschwinden unter dem Aufkleber Terrorismus. Mahmoud und seine Kollegen bei Al Mezan setzen große Hoffnung auf den Internationalen Strafgerichtshof. Sie dokumentieren und sammeln Beweise, Fakten, Namen, damit die Verantwortlichen für die Verletzung und Tötung von Zivilisten irgendwann zur Rechenschaft gezogen werden.
Eingeschlossen und ausgeliefert Mahmouds Kinder haben drei israelische Militärangriffe erlebt. Die Familie wohnt im fünften Stock in Gaza-Stadt. Den vierzehnstündigen Angriff auf Shuja‘iya am 21. Juli 2014 haben sie von hier gehört. Alle schliefen gemeinsam in der Nähe der Tür, für den Fall, dass man schnell fliehen muss. Mehr Schutz gibt es im Gaza-Streifen nicht. Dann schickte Mahmoud seine Familie nach Rafah. Kaum angekommen, gab es auch dort Angriffe. „Wir träumen nachts oft vom Krieg“, sagt seine mittlere Tochter. Zum Abschied verschenkt sie selbstgemachte Armreife in den palästinensischen Nationalfarben und zeigt ihre Grübchen.
Auf dem Rückweg zum Grenzübergang Erez, wieder vorbei an den Häusern, die wie Dominosteine eingestürzt sind. Es stellt sich kein Gefühl der Erleichterung ein. So unerträglich die Lebensbedingungen im Gaza-Streifen sind, noch unerträglicher erscheint der Gedanke, dass man einfach in sein altes Leben zurückkehren kann und die Erinnerungen an Gaza verblassen werden. In dem eingesperrten Raum zwischen dem elenden Gaza und dem grünen, entwickelten und hedonistischen Israel warten wir gemeinsam mit UN-Mitarbeitern und palästinensischen Familien mit Erlaubnis auszureisen.
Zwei palästinensische Angestellte des Checkpoints sind noch da. Nach einem Anruf, der scheppernd aus dem Walkie-Talkie dringt, sammeln sie unsere Pässe und die Handys ein, stecken sie in eine Plastiktüte und verschwinden. Ich erinnere mich an die Geschichte von Majeda, die in unterirdischen Räumen von Erez zwölf Stunden verbrachte, um eine Ausreiseerlaubnis für eine Konferenz in Paris zu erhalten. „Ich war völlig desorientiert“, erzählte sie. „Weil die Gänge rauf und runter führten. Dann brachten sie mich in einen Raum ohne Fenster mit einer Klimaanalage, die mal zu heiß und mal zu kalt war.“ Nach langem Warten habe man mit ihr gesprochen und ihr deutlich gemacht, dass man alles über sie wisse. Sie habe schon längst keine Ausreiseerlaubnis mehr haben wollen. „Hauptsache, ich komme hier wieder raus.“
Wir können den Gaza-Streifen verlassen. Entgegen meinen Erwartungen werde ich am Flughafen in Tel Aviv trotz meines Aufenthaltes in Gaza überhaupt nicht befragt. Israel fühlt sich so sicher wie schon lange nicht mehr.
Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 1/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt bestellen!