Sichtbare und unsichtbare Mauern einer Stadt

Die Frauen- und Schulgesundheitsprogramme der Medical Relief Society in Ostjerusalem

22.11.2010   Lesezeit: 5 min

Eine Spätfolge der israelischen Annexion von Ostjerusalem ist das Arbeitsverbot für palästinensische Organisationen. Dieser Bann traf auch die Palestinian Medical Relief Society (PMRS), die seitdem nicht mehr in Jerusalem tätig sein darf. Ironischerweise begründete der medico-Partner in den späten 1970er Jahren in Jerusalem sein Arbeit, entsprechend steht auch in Jerusalem die Zentrale der Gesundheitsorganisation. Um weiter arbeiten zu Gründen, musste die Organisation sich teilen. Während PMRS ihre Zentrale nach Ramallah verlegte, gründete sich mit der Medical Relief Society eine formell unabhängige Organisation, die somit weiterhin in Ostjerusalem arbeiten konnte.

Diskriminierung als Methode

Eine palästinensische Gesundheitsversorgung auch in Jerusalem ist bitter nötig. Denn die 250.000 in Jerusalem lebenden Palästinenser haben beträchtlich weniger Zugang zu (Gesundheits-)Diensten als die jüdischen Bewohner der Stadt. Obwohl sie städtische Steuern zahlen, sind Straßen in den palästinensischen Bezirken marode, Bürgersteige gibt es kaum. Der Müll türmt sich und wird immer wieder von ratlosen Anwohnern in Brand gesteckt. Kein einziger Postmann arbeitet in den palästinensischen Bezirken. Post erhält nur, wer ein Postfach sein eigen nennt. Die Postfächer in den arabischen Postämtern sind jedoch auf lange Sicht ausgebucht. So ist der zeitaufwendige Gang zu weit entfernten Postämter im (jüdischen) Westjerusalem für viele Menschen zu einem lästigen Alltagsritual geworden.

Ganz anders dagegen das Bild in den jüdischen Siedlungen Ostjerusalems, in denen mittlerweile mehr als 200.000 Menschen leben: Jede Siedlung hat gepflegte Straßen, Schulen, Sport- und Gesundheitszentren nach westlichem Standard. Der Müll wird regelmäßig entsorgt, und der Postmann klingelt täglich. Während ganze palästinensische Bezirke nicht einmal an das Abwassersystem angeschlossen sind, wurden in den jüdischen Bezirken Jerusalems 1.000 öffentliche Gärten und Kinderspielplätze angelegt. In den palästinensischen Bezirken sind es 45; viele von ihnen sind heruntergekommen oder schon von unter jordanischer oder britischer Herrschaft entstanden. Die Diskriminierung endet dort nicht. Um die jüdische Mehrheit in der heiligen Stadt zu sichern, verhindern die israelischen Behörden praktisch jede Entwicklung der palästinensischen Bezirke. Baugenehmigungen für Nichtjuden werden kaum erteilt. Folglich erhöht sich die Bevölkerungsdichte stetig, und die palästinensischen Bezirke drohen zu verslumen. Zehntausende Palästinenser zogen daraufhin in die Vororte Jerusalems. Zusammen mit der Stadt selbst bildeten sie eine durchweg bebaute urbane Einheit. Sie arbeiteten weiter in Jerusalem, unterhielten dort Geschäfte, kauften dort ein und besuchten die vielen Verwandten, die in Jerusalem blieben. Ihre Kinder gingen dort zur Schule, und bei Krankheit gingen sie in Jerusalemer Kliniken.

Der Bau der Mauer trennte diese Vororte von ihrer Metropole. Heute können deren Einwohner nur über wenige Checkpoints Jerusalem erreichen. Was früher auf der anderen Seite der Straße lag, kann heute eine 10 Kilometer weite Reise sein, mit unberechenbaren Wartezeiten und häufig erniedrigenden Prozeduren an den durch private Sicherheitsfirmen bemannten israelischen Checkpoints. Die Trennung von der Metropole machte aus den Vororten Enklaven, und deren Einwohner verarmten. Es entstand ein Strom von Zuzügen zurück nach Ostjerusalem. Doch, die israelischen Behörden reagierten prompt. Sie verfügten, dass palästinensische Jerusalemer, die einige Jahre außerhalb der Stadt lebten – etwa um in einem Vorort zu wohnen oder im Ausland zu studieren -, ihr Aufenthaltsrecht für Jerusalem verlieren. Damit dürfen sie ohne israelische Genehmigung ihre Heimatstadt nicht mehr betreten.

In Jerusalem lebende Palästinenser müssen bei jeder Beanspruchung einer städtischen oder sozialen Dienstleistung immer wieder nachweisen, dass der Mittelpunkt ihres Lebens tatsächlich Jerusalem ist. Etwa bei jedem Kind, das bei der staatlichen Krankenversicherung angemeldet wird. Dafür müssen sie eine Vielzahl von Dokumenten vorlegen. Die darauffolgenden Untersuchungen durch die israelischen Behörden verletzen die Privatsphäre der Betroffenen vehement, und die monatelangen Bearbeitungszeiten führen dazu, so der medico-Partner Ärzte für Menschenrechte – Israel, dass stets etwa 10.000 Ostjerusalemer Kinder ohne Krankenversicherung leben.

Gesundheitszentren und mobile Klinken

Die Medical Relief Society (MRS), eine im Vergleich zur Schwester PMRS recht kleine Organisation, setzt genau hier an. Sie bietet den palästinensischen Bewohnern Jerusalems Gesundheitsdienste, die ihnen die israelischen Behörden vorenthalten. Dabei konzentriert sich die MRS auf die schwächsten Glieder der Gesellschaft. Sie bietet Frauengesundheitsdienste an und betreibt Gesundheitsaufklärung speziell für Kinder und Jugendliche. Die Arbeit erfolgt durch ein Frauengesundheitszentrum samt Labordiensten sowie durch mobile kurative Dienste und durch präventive und mobilisierende Arbeit in Gemeindezentren und mit Frauengruppen in Ostjerusalem und deren Vororten. Die Frauengesundheitsdienste beinhalten prä- und postnatale Beratung und Behandlung, Geburtsunterricht, Familienplanung, Früherkennung von chronischen Krankheiten, familiäre Gewalt, frühe Heirat und gesunde Ernährung. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erfolgt in Schulen, Jugendzentren und Kindergärten. Über Rollenspiele, Geschichtenerzählen und Diskussionen werden Geschlechterrollen und -Gleichheit, innerschulische und familiäre Gewalt oder Fragen einer gesunden Ernährung behandelt.

Traumatische Folgen der Ausgrenzung

Gewaltprävention ist ein Schwerpunkt der Arbeit der MRS ist und sie ist eine der gesellschaftlichen Folgen der israelischen Jerusalem-Politik. Die palästinensischen Einwohner Jerusalems sind keine israelischen Staatsbürger. Sie können nicht am politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Prozess auf nationaler oder auch kommunaler Ebene partizipieren. Die Bildung einer eigenen politischen und gesellschaftlichen palästinensischen Eigenvertretung, geschweige denn von palästinensischen Institutionen, verhindern die israelischen Behörden mit administrativen und polizeilichen Mitteln. Grund ist die Angst vor der sezessionistischen Kraft einer vereinigten palästinensischen Gemeinde, die der postulierten Einheit Jerusalem infrage stellen könnte. Aus Mangel an politischer Repräsentanz hat sich die palästinensische Bevölkerung begonnen ins Private zurückzuziehen. Die gesellschaftliche Kohäsion zerfällt. Gepaart mit einer Tendenz zur Verarmung und Verslumung ist in Ostjerusalem ein Prekariat entstanden, dessen Frustration sich zunehmend in privater und familiärer Gewalt entlädt. Deren Opfer sind häufig die schwächsten Mitglieder der eigenen Gesellschaft: Frauen, Kinder. Die Arbeit der MRS in Ostjerusalem ist mehr als nur die Bereitstellung von gesundheitsrelevanten Dienstleistungen: Sie ist zugleich eine politische Demonstration der eigenen Existenz, die der israelischen Trennungspolitik widersteht und auf die Selbstorganisation der palästinensischen Bevölkerung setzt.

Projektstichwort:

Die Frauen- und Schulgesundheitsprogramme der Medical Relief Society in Ostjerusalem - und damit auch die gesellschaftliche Kohäsion von Palästinensern in Ostjerusalem und in der Westbank, die durch die Mauer voneinander getrennt sind – unterstützen wir mit Hilfe von medico international schweiz. medico fördert die Arbeit unserer Partner in Israel/Palästina mit jährlich ca. 100.000 Euro Spenden und mit zusätzlichen öffentlichen und anderen Mitteln. Dies wollen wir auch zukünftig fortsetzen. Spenden Sie unter dem Stichwort: Israel-Palästina


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