Maria Eugenia Barrera sucht ihre Tochter nun schon seit neun Jahren. Diese Suche ist der Mutter zur leidvollen Lebensaufgabe geworden, seit Clementina Barrera am frühen Nachmittag des 9. November 2003 einfach davon ging. Zuvor hatte sie diesen geheimnisvollen Anruf bekommen, sodann drei Kleider in eine Plastik-Tüte gepackt und war einfach verschwunden. Clementina war da gerade 17 Jahre alt und selbst schon Mutter von Zwillings-Mädchen.
Maria Eugenia Barrera (43) ist Nicaraguanerin, aus Chinandega stammt sie. Die Stadt und das gleichnamige Departement sind lange schon berüchtigt für Menschenhandel. Meist verschwinden junge hübsche Mädchen wie Clementina. Manche kommen wieder, andere findet man als Animiermädchen in Nachtclubs irgendwo in Zentralamerika oder als Prostituierte in Bordellen. Viel zu viele kommen nie wieder.
Der Armut entfliehen
„Clementina wollte besser leben als wir“, erzählt die Mutter. „Irgendwer muss ihr den Kopf verdreht haben. Sie träumte von mehr als der Armut, die wir ihr bieten konnten“. Maria Eugenia Barrera lebt vom Verkauf ihrer hausgemachten Kokosplätzchen und Donuts. Wenn sie alles verkauft, wird es ein guter Tag. Dann reicht es für ihre anderen vier Kinder und die Zwillinge von Clementina. Maria Eugenia hat die zehn Jahre alten Enkelinnen inzwischen als eigene Kinder angenommen.
Auf ihrer ständigen Suche trägt die Mutter ihre Tochter stets bei sich. Ein 40 mal 20 Zentimeter großes Foto von Clementina hängt vor der Brust von Maria Eugenia, damit es jeder sehe und sie vielleicht wiedererkenne. Darauf lacht die Tochter fröhlich und gewinnend. Die Mutter hat das Foto eingeschweißt, damit es so bleibt, wie es war. „Es ist dieses Lächeln, das mich am leben hält", sagt Maria Eugenia, streicht mit der flachen Hand über das Bild und lässt den Tränen freien Lauf.
Suche im Rotlicht-Viertel
Mit diesem Foto wagte die Mutter sich ins Rotlicht-Viertel von San Salvador, sie ging damit Hinweisen in Guatemala nach oder letztes Jahr einem Tipp im Süden von Mexiko. Doch alle Pisten sind bisher im Sand verlaufen.
Auch jetzt war Maria Eugenia wieder unterwegs. Gemeinsam mit 60 anderen Frauen und Männern aus Honduras, Guatemala, El Salvador und Nicaragua, die Angehörige vermissen, zog sie durch ganz Mexiko. In jedem Dorf, in jeder Stadt legten die Angehörigen Bilder ihrer vermissten Kinder, Männer, Brüder aus, die daheim in Zentralamerika auszogen, um ein besseres Leben in den USA zu finden, deren Spur sich dann aber irgendwo auf halber Strecke in Mexiko verlor. Vergilbte Bilder aus glücklicher Vergangenheit.
Die Karawane als letzte Hoffnung
Die Frauen sprachen auch mit Polizisten, Politikern und Bürgermeistern, klagten an und wollten Antworten auf die Frage, wie es sein kann, dass für ihre Familienmitglieder der Traum vom besseren Leben in den USA zu einem mexikanischen Alptraum wurde. 10.000 bis 20.000 Migranten werden jedes Jahr auf dem 3000 Kilometer langen Stück durch Mexiko erpresst und beraubt, entführt und massakriert. Manchmal machen die Behörden mit dem Organisierten Verbrechen gemeinsame Sache, viel zu oft jedenfalls gucken sie weg.
Zum zweiten Mal war Maria Eugenia dieses Jahr auf der Karawane und hoffte, dass ihr vielleicht wieder jemand einen Hinweis gibt auf den Verbleib von Clementina, so wie vor einem Jahr. Damals erhielt sie einen konkreten Anhaltspunkt auf ein Haus in der Grenzstadt Tapachula. Als sie dort hin ging, wollte man sie nicht anhören, schickte sie weg und drohte mit der Polizei. Dieses Mal kommt sie vorbereitet, trägt ein offizielles Dokument aus ihrer Heimat bei sich, das ihre Tochter als Vermisste ausweist. Damit hofft die Mutter, würde ihr die Polizei schon helfen, wenn sie zu dem Haus zurückkehrt, in dem man ihre Tochter gesehen haben will.
Tot oder lebendig?
Clementina wäre heute 26. Wie sie wohl aussieht, fragt sich die Mutter oft. Hat sie zugenommen, hat sie Kinder, ist das Lächeln noch so gewinnend? Inzwischen merkt Maria Eugenia, dass diese schmerzhafte Suche nach ihrer Tochter nach und nach ihr eigenes Leben zerstört. Sie habe ihre anderen Kinder vernachlässigt, sagt sie. Sogar ihr Haus musste sie verkaufen, um ihre langen und teuren Suchen zu finanzieren.
Seit einiger Zeit ist sie in psychologischer Behandlung. „Sie haben mir gesagt, ich müsse das Kapitel schließen und mit meinem Leben weitermachen.“ Wenn sie aber wenigstens Gewissheit hätte, man ihr „einen Knochen“ ihrer Tochter zeigen würde, dann könnte die Mutter sich abfinden und endlich trauern. Mittlerweile räumt sie dem Gedanken daran ab und an sogar ein bisschen Platz ein. Doch dann sagt sie wieder: „Clementinas Verlust werde ich nie überwinden."
Von Klaus Ehringfeld
Täglich machen sich Menschen aus El Salvador, Guatemala, Honduras oder Nicaragua auf, weil sie zu Hause keine Zukunftsperspektive sehen und auf ein besseres Leben in den USA hoffen. Viele von ihnen kommen jedoch nie an. medico unterstützt die von der Mittelamerikanischen Migrationsbewegung (M3) organisierte Karawane Angehöriger aus Zentralamerika, die in Mexiko ihre verschwundenen Kinder suchen. Sie ist zugleich ein Protestmarsch gegen die Gewalt, der die Migrantinnen und Migranten auf dem Weg durch Mexiko ausgeliefert sind. Klaus Ehringfeld begleitete die Karawane und berichtete von Begegnungen unterwegs.
Projektstichwort
medico international finanzierte im Oktober 2012 zum zweiten Mal die Karawane Angehöriger aus Zentralamerika, die in Mexiko nach ihren verschwundenen Angehörigen suchen.
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