Eskalation in Israel und Palästina

medico-Partner aus Gaza und Tel Aviv berichten

10.07.2014   Lesezeit: 7 min

Die Geschichte wiederholt sich - nur noch als Tragödie. Die aktuellen Bilder der Gewalt und der Krieg der Bilder erinnern in trauriger Weise an den Gaza-Krieg um die Jahreswende 2008/09. Die Dynamik der Eskalation ist eingerechnet und es kommen Zweifel auf, ob nicht schon längst die Hoffnung auf eine bessere Zukunft im Nahen Osten gänzlich in Frage steht.

Riad Othman, Leiter des medico-Büros in Ramallah/Westjordanland, hat mit unseren palästinensischen und israelischen Partnern vor Ort gesprochen.

Arbeiten unter Bombenalarm

Ran Cohen vom medico-Partner Ärzte für Menschenrechte - Israel (PHR-IL) in Tel Aviv-Jaffa schildert, unter welchen Bedingungen seine Kollegen und Kolleginnen schon jetzt zum Teil im Süden Israels arbeiten: "Krankenhäuser dort haben bestimmte Abteilungen in Schutzräume verlegt, um essentielle medizinische Dienste auch unter Beschuss sicher zu stellen. In den letzten 15 Jahren wurden viele solcher Räume, z.T. unterirdisch, angelegt." Er selbst erlebte in den Tagen seit Anfang der Woche schon mehrere Male Bombenalarm in Tel Aviv. Drei Mal schaffte er es in den Bunker. Seine Sorge gilt aber nicht allein der Unversehrtheit seiner Mitbürger in Israel. Er weiß, dass die Geschosse aus Gaza in der Regel in ihrer Präzision nicht mit der Waffentechnologie der israelischen Armee zu vergleichen sind. Diese stellte zufrieden fest, dass 90% der Geschosse, die es aus dem Gazastreifen überhaupt über die Grüne Linie schaffen, vom Raketenabwehrsystem Iron Dome abgefangen werden. Das ändert nichts daran, dass jeder Alarm die Menschen in fürchterliche Angst versetzt. Die übrigen 10% der Raketen hatten in der Vergangenheit zum großen Glück der israelischen Zivilbevölkerung eine so geringe Treffsicherheit, dass hohe Opferzahlen ausblieben. In der jüngsten Eskalation kamen die meisten betroffenen Menschen in Israel bisher wörtlich mit dem Schrecken davon. 59 wurden wegen Schocks behandelt, und 9 Menschen wurden glücklicherweise nur leicht verletzt. Hoffentlich bleibt das so.

Luftangriffe auf den Gazastreifen

Im Gazastreifen sieht das anders aus. Wenn die israelische Armee Raketen abfeuert, treffen diese meistens auch ihr Ziel. "Hier gehen überall Raketen runter. Es ist jetzt keine Frage, ob man okay ist oder nicht, sondern ob man das überlebt. Wir haben hier keine Schutzräume oder Bunker, auch kein Raketenabwehrsystem. Wir können nichts tun im Moment. Die Straßen sind, im Vergleich zu sonst, wie leergefegt. Die Raketen schlagen mit einer unglaublichen Häufigkeit ein. Du weißt nicht, ob der nächste Einschlag in der Nähe sein wird oder weit weg, ob vielleicht irgendwann dein eigenes Haus getroffen wird", sagt Dr. Aed Yaghi, Leiter der Palestinian Medical Relief Society (PMRS) im Gazastreifen, deren medizinische Programme medico unterstützt. Bis Donnerstagmorgen kosteten die Luftschläge mehr als 70 Menschen im Gazastreifen das Leben, darunter viele Zivilisten und Kinder. Hunderte sind verletzt. Auch ein Gesundheitszentrum von PMRS in Ezbat Beit Hanoun, erst kürzlich mit Mitteln des deutschen Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) ausgebaut und renoviert, wurde bei einem heftigen Bombardement der Nachbarschaft beschädigt.

Majeda Al-Saqqa von der Culture & Free Thought Association (CFTA) berichtet aus Khan Younis, im Süden des Gazastreifens: "Ich weiß nicht, was die Leute hier denken. Ich denke, das ist Wahnsinn. Dieser Krieg sollte nicht stattfinden. Es wird vergessen, wie viel Leid das über die Menschen bringt, dass es sich auch hier um wirkliche Personen mit Namen, Familien und Freunden handelt. Das ist so traurig. Ein junger Mann, der ums Leben kam, wollte nächste Woche heiraten. Jemand anders hat seine Zwillinge verloren." Die meisten Menschen in Gaza gehen nicht mehr vor die Tür. Ganz untypisch für den Fastenmonat Ramadan hat momentan abends fast alles geschlossen. Die sonst üblichen Besuche bei Verwandten und Freunden lassen viele ausfallen. Majeda Al-Saqqa kann aber auch unter Beschuss nicht einfach zu Hause bleiben oder nur im Büro arbeiten. "Ich muss zu unseren Frauenzentren fahren, um mich um meine Kolleginnen zu kümmern, um zu sehen, wie es den Nachbarn dort geht." Das Zentrum, das medico unterstützt, liegt im Flüchtlingscamp Al-Burej, welches seit Beginn der Kämpfe auch Ziel israelischer Angriffe war.

Gegen den Rechtsruck in Israel

Die derzeitige Stimmung in Israel sei brandgefährlich, sagt Ran Cohen von PHR-IL: "Nach der Entführung und Ermordung der drei israelischen Jugendlichen auf der Westbank wollen viele Rache. Ich denke, Israel leidet an einer emotionalen Blockade. Wenn man sich ansieht, was Leute z.B. in den sozialen Medien posten, dann ist da kaum noch eine Spur von Mitgefühl. Es gibt so unglaublich viele hasserfüllte Kommentare. Leute verlangen danach, 'den Job dieses Mal endlich zu Ende zu machen'. Netanjahu steht unter Druck." Im derzeitigen politischen Zwist mit Außenminister Avigdor Lieberman, der seit Tagen nach einer Bodenoffensive verlangt, wolle der Premierminister beweisen, dass er politisch noch immer weit genug rechts stehe, um die Erwartungen radikaler Teile der Gesellschaft zu bedienen. Manche fühlen sich an das Gesellschaftsklima kurz vor der Ermordung Yitzhak Rabins erinnert, an die Wochen vor seinem Tod, in denen eine beispiellose Hetzkampagne gegen ihn veranstaltet worden war. PHR-IL versucht sich diesem gesellschaftlichen Rechtsruck entgegenzustemmen. Sie veröffentlichten deswegen nicht nur Zeugnisse von Menschen aus Gaza, sondern auch einen öffentlichen Aufruf gegen den drohenden Krieg und für einen gerechten Frieden auf der Titelseite der Zeitung Haaretz:

Statement der Ärzte für Menschenrechte – Israel (10. Juli 2014):

Als Frauen und Männer, die sich beruflich um die Gesundheit von Menschen kümmern, sind wir vor allem dafür verantwortlich Schaden zu verhindern. Wir glauben, dass die Verantwortung des Staats gegenüber seinen Bürgern nicht auf die gelegentliche Ausübung militärischer Macht reduziert werden kann.

Es obliegt dem Staat eine klare und reelle Vision für Gleichheit, Frieden und Freiheit zu präsentieren, denn nur diese können langfristige Sicherheit gewähren. Wir sehen gegenwärtig jedoch keine Vision, sondern erleben eine weitere Zurschaustellung militärischer Gewalt.

Als im Gesundheitsbereich tätige Menschen und als Menschenrechts- und Friedensaktivisten begegnen wir täglich Opfern und sind Zeugen von Leid, Not und Erniedrigungen. Wurzelnd in dieser Erfahrung ist unsere Überzeugung, unser Glaube, dass der Weg vorwärts hin zu einer gerechten Lösung und zur Vermeidung weiteren Leids in der Erkenntnis besteht, dass die Freiheit und Sicherheit der Bewohner und Bewohnerinnen Israels unmittelbar mit der Freiheit und der Sicherheit der Bewohnerinnen und Bewohner der besetzten Palästinensergebiete – des Gazastreifens, der Westbank und Ostjerusalems - verbunden ist.

Die zunehmende Kontrolle und Abriegelung des Gazastreifens einerseits sowie die fehlende Bereitschaft sich für eine gerechte Lösung für den Nahostkonflikt und ein Ende der Besatzung zu engagieren andrerseits führen uns in einen Abgrund und entfachen Hass und Rache, die eine gesunde Gesellschaft unmöglich machen.

Israelische und palästinensische medico-Partner bleiben solidarisch

Die Ärzte für Menschenrechte haben unterdessen auch Kontakt zu palästinensischen KollegInnen und PatientInnen im Gazastreifen aufgenommen und prüfen Möglichkeiten der gegenseitigen solidarischen Hilfe.

"Am meisten sorgt man sich um die Kinder. Das ist das Schwierigste, die Kinder. Man selbst kann wegen des Dauerbombardements kaum schlafen und ist völlig erschöpft, aber man muss für die Kinder da sein. Man will für sie da sein. Das Einzige, was man tun kann, ist Trost zu spenden. Du kannst ihnen nicht mehr die Angst nehmen, weil sie längst wissen, dass die Eltern sie nicht beschützen können. Sie brauchen extrem viel Nähe in dieser Zeit. Man kann nur versuchen, sie zu trösten, sie im Arm zu halten", erzählt Mahmoud Aburahma, der für das Al Mezan Menschenrechtszentrum in Gaza-Stadt arbeitet. Und Aed Yaghi erinnert daran, dass die Leute in Gaza schon vor der jüngsten Eskalation erschöpft waren. "Das Leben hier ist auch ohne Krieg schon schwer genug. Wenn man kein sauberes Wasser und nicht genügend Strom hat, wenn man gezwungen ist, der nächsten Gasflasche zum Kochen nachzujagen – all das verursacht so viel Stress, weil man eine unglaubliche Kraft aufwenden muss, um sein tägliches Leben zu organisieren. Die einfachsten Dinge geraten zu komplizierten Unternehmungen. Ständig sorgt man sich unbewusst über alltägliche Kleinigkeiten, weil es hier schon längst keine Normalität mehr gibt."

Dem will Mahmoud Aburahma trotzen, indem er sich ein Stück Normalität im Unnormalen erschafft: "Ich werde versuchen, die Kinder ausnahmsweise lange wach zu halten. Normalerweise dürften sie nie so lange auf bleiben, aber schlafen könnten sie sowieso nicht", sagte er am Abend des Halbfinalspiels Brasilien - Deutschland. "Falls wir Strom haben, werde ich sie einen Film sehen lassen, um sie abzulenken. Irgendetwas, in dem sie sich verlieren können und sich keine Gedanken machen. Bis 23 Uhr, dann würde ich mit ihnen Fußball gucken – falls es Strom gibt. Wir sind für Brasilien." In Gaza gewinnt man nicht oft. Wie bei seiner Unterstützung für die brasilianische Nationalmannschaft ist Mahmoud mit seiner Sehnsucht nach Normalität für die Menschen im Gazastreifen und in Israel sicher nicht allein.

Riad Othman


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