Nur weg hier, hat sich Carlos irgendwann gesagt. Spätestens als der kleine Bruder eines Tages nicht wieder kam. Auch nicht am nächsten Tag, in der nächsten Woche, dem nächsten Monat. Der Bruder war 20 und schon lange Mitglied bei der Jugendbande „Mara Salvatrucha“. Bis heute gibt es keine Gewissheit, aber es gibt Erfahrungswerte. „Er ist tot“, sagt Carlos. Für ihn war das der Moment der Entscheidung. „Was Besseres als hier finde ich überall.“
Wenn ehrliche Arbeit nichts bringt
Carlos Velázquez ist 22 Jahre und stammt aus San Pedro Sula in Honduras. Die Stadt ist bekannt für ihre „Maquilas“, diese Fabriken, wo man Hungerlöhne verdient und für die USA billige Jeans näht und Fernseher lötet. Sie ist berüchtigt für ihre Gewalt. San Pedro Sula gehört zu den tödlichsten Städten der Welt. Zwischen der Versuchung der Jugendbanden und der Ausbeutung der „Maquilas“ bleibt nicht viel. Carlos hat es als Tischler versucht. Er hat so 120 Euro im Monat verdient.
Weiter kommst Du mit ehrlicher Arbeit nicht, sagt er. „Wie soll denn das gehen?" Wenn man noch zu Hause wohnt, geht das, aber eine eigene Familie gründen? „Was bleibt da noch?“ Bande bringt den Tod. Arbeit ist zum Sterben zu viel, aber reicht auch nicht wirklich zum Leben. Also bleibt nur noch der Norden. Nach Los Angeles will Carlos. „Als Tischler arbeiten, in Ruhe leben." Mehr erwartet er gar nicht. Mit Glück verdient er da in ein paar Tagen, was er daheim in einem Monat bekommt. „Das muss doch gehen. Das ist doch nicht zu viel verlangt.“
Zu Fuß und mit dem Überlandbus nach Mexiko
Also hat er sich mit Ramón, seinem Kumpel, hingesetzt und gesagt: Wir hauen ab. Ramón ist als Händler von Piraten-CD’s auch auf keinen grünen Zweig gekommen. So haben sie eines Tages Hose, Hemd und Jacke in den Rucksack gepackt, ein paar gesparte Groschen eingesteckt und sind los. Carlos Mutter war verzweifelt: „No te vayas“ – „Bitte geh’ nicht.“ Sie wollte nicht noch einen Jungen verlieren.
Fünf Tage haben Carlos und Ramón bis Mexiko gebraucht. Zu Fuß und mit dem Überlandbus. Unterwegs haben sie sich mit zwei anderen Jungs aus San Pedro Sula zusammengetan. Es gibt ein Gefühl der Sicherheit. Ausgenommen hat man sie trotzdem. In Guatemala haben sie ihnen das wenige Geld abgenommen. „Die mögen da keine Honduraner.“
Mit dem Güterzug weiter in die USA
Nun sitzen die vier in der „Casa del Migrante“ von Bruder Fray Tomás in Tenosique, ein paar Dutzend Kilometer hinter der Grenze zu Guatemala. Hier haben sie Wäsche gewaschen, sich ausgeruht, sich satt gegessen und vereinbart loszurennen, sobald „Die Bestie“ ruft. So nennen die Migranten den Güterzug, der Mexiko von Süden nach Norden durchquert und außer Waren auch Menschen transportiert. Überall im Land springen Honduraner, Nicaraguaner, Salvadorianer und auch Mexikaner auf den Zug, der sie ins Paradies bringen soll. Oft genug aber endet die Reise in der Hölle. Wenn sie müde vom Zug fallen und unter die Räder kommen oder wenn die „Migra“ - die Einwanderungsbehörde - sie abgreift und ausnimmt. Aber die größte Gefahr droht durch die „Zetas“, die den Menschenhandel, das Migranten-Monopoly, als eine lukrative Einnahmequelle entdeckt haben.
Gehört haben die vier Jungs aus San Pedro schon von den Grausamkeiten, von den Entführungen, den Erpressungen und der Folter. „Nee, vorbereiten kann man sich da nicht darauf“, sagt Carlos. „Wenn es uns erwischt, kannste nur noch hoffen und Gott um Hilfe bitten“.
Von Klaus Ehringfeld
Täglich machen sich Menschen aus El Salvador, Guatemala, Honduras oder Nicaragua auf, weil sie zu Hause keine Zukunftsperspektive sehen und auf ein besseres Leben in den USA hoffen. Viele von ihnen kommen jedoch nie an. medico unterstützt die von der Mittelamerikanischen Migrationsbewegung (M3) organisierte Karawane Angehöriger aus Zentralamerika, die in Mexiko ihre verschwundenen Kinder suchen. Sie ist zugleich ein Protestmarsch gegen die Gewalt, der die Migrantinnen und Migranten auf dem Weg durch Mexiko ausgeliefert sind. Klaus Ehringfeld begleitete die Karawane und berichtete von Begegnungen unterwegs.
Projektstichwort
medico international hat den Bau und die Ausstattung einer Gesundheitsstation in der Migrantenherberge „La 72“ in Tenosique mit 7.000,- Euro unterstützt und finanzierte im Oktober 2012 zum zweiten Mal die Karawane Angehöriger aus Zentralamerika.
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